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MKL1888:Pflanzenvariationen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Pflanzenvariationen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Pflanzenvariationen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 18 (Supplement, 1891), Seite 708709
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Pflanzenvariationen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 18, Seite 708–709. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Pflanzenvariationen (Version vom 08.04.2024)

[708] Pflanzenvariationen (Sippenbildung bei Erophila). Die Existenz zahlreicher, samenbeständiger P. innerhalb eines kleinern oder größern Kreises nahe verwandter Pflanzenindividuen, der je nach dem Standpunkt des die Formen beschreibenden Beobachters mit dem Namen Varietät, Rasse, Sippe oder Art bezeichnet zu werden pflegt, ist eine durch neuere, besonders auf Darwins klassischen Arbeiten fußende Untersuchungen vielgestaltiger Pflanzengattungen, wie Rosa, Hieracium, Rubus u. a., von Crépin, Christ, Nägeli, Peter, Focke, Kuntze u. a. sicher festgestellte Thatsache. Die Schwierigkeit, das Formengewirr dieser und ähnlicher Gattungen auf festbegründete Stammtypen oder ideale Arten zurückzuführen, durch deren allmähliche, bisweilen mehrere Erdepochen hindurch fortgesetzte Ausgliederung die gegenwärtig vorhandenen, oft ineinander fließenden Formengruppen sich gebildet haben, ist allerdings als noch nicht beseitigt zu betrachten, da die primären Ursachen, die zur Entstehung vererbungsfähiger, schließlich zu neuen Arten führender Variationen Veranlassung gaben, in Dunkel gehüllt sind. Meist kommen nur einzelne Begleitumstände der Artbildung, wie geographische Lage und geologische Bildung der Entstehungszentren, geselliges Durcheinanderwachsen naheverwandter, aber trotzdem sich unverändert erhaltender Formenreihen, Arealbegrenzungen der Arten, mehr oder weniger reichliche Erzeugung von Hybriden u. Zwischenarten, zur Beobachtung, woraus dann mehr oder weniger unsichere Schlüsse über die gegenseitige Abstammung und die Entstehungsursachen der Pflanzenspezies gezogen werden. Um so wichtiger erscheint der Nachweis samenbeständiger P. innerhalb wild wachsender Formenkreise, welche nach der gewöhnlichen Anschauung als unzweifelhaft gute Arten im Linné-Cuvierschen Sinne betrachtet werden. Derartige unter sich naheverwandte P. sind zuerst in größerm Umfang durch Jordan (seit 1852), z. B. für Aegilops ovata, Vincetoxicum officinale u. a., als die wirklichen natürlichen Arten beschrieben worden. Freilich stellte sich derselbe nach dem Erscheinen des Darwinschen Hauptwerkes über das Variieren von Tieren und Pflanzen auf die Seite der Gegner Darwins, und da außerdem durch die von Jordan eingeführte Methode der Artbegrenzung eine die Übersichtlichkeit vollkommen aufhebende Zersplitterung der Formen in die Wissenschaft eingeführt worden wäre, so fanden längere Zeit hindurch die von ihm in einem Zeitraum von etwa 30 Jahren gesammelten Beobachtungen nicht vollkommene Würdigung. Unter den Pflanzen, von denen Jordan außerordentliche Vielgestaltigkeit behauptet hatte, befand sich auch das bekannte Hungerblümchen (Erophila verna), bei dem er ca. 200 samenbeständige Variationen oder Arten nachwies.

Einer der vorurteilsfreiesten und hervorragendsten Botaniker, A. de Bary (gest. 1888), hatte in seinen letzten Lebensjahren eine Nachprüfung der Jordanschen Angaben unternommen und ebenfalls Kulturversuche mit der genannten Pflanze angestellt, die sich wegen ihrer Kurzlebigkeit besonders als Versuchsobjekt empfiehlt. Die in dem Nachlaß de Barys befindlichen Notizen sind von Rosen, einem Schüler des Verstorbenen, bearbeitet und durch weitere Beobachtungen ergänzt in einer neuerdings erschienenen Abhandlung veröffentlicht worden. Nach diesen Untersuchungen erweisen sich die Angaben Jordans in der That als richtig; es wurden z. B. in der Nähe von Straßburg, Frankfurt a. M., im Taunus und anderorts etwa 30 verschiedene Erophila-Formen aufgefunden, die sich in der Kultur als beständig herausstellten und sich teils mit den von Jordan beschriebenen Formen deckten, teils neue, noch unbeschriebene Varietäten darstellten. Die Unterschiede sind derart, wie sie auch sonst bei anerkannten Arten vorkommen, und bestehen vorzugsweise in der verschiedenen Ausbildung der grundständigen Rosettenblätter, in der Form der Haare, der Lappenbildung der an der Spitze eingeschnittenen Blumenblätter sowie der Gestalt der Schötchen. Nach ihrer Ähnlichkeit lassen sich die aufgefundenen Formen in Gruppen oder „Typen“ bringen, deren Merkmale vorzugsweise in der Form der jungen Rosettenblätter liegen, während die eigentlichen Artunterschiede erst in der Blüte-, resp. Fruchtperiode hervortreten; an der erwachsenen Pflanze sind übrigens die Anfangsblätter meist nicht mehr vorhanden, so daß man ältere, im Freien gefundene Erophila-Exemplare nicht sicher zu bestimmen vermag. Den erwähnten Gruppen legt Rosen deshalb reale Bedeutung bei, weil die einander ähnlichsten Formen auch in der Regel auf gleichem Standort vorkommen, so z. B. E. leptophylla, graminea und sparsipila vom Typus der E. leptophylla Jord. mit schmalen, linealen oder lineal-lanzettlichen Blättern, kleinen, kreuzförmigen Blüten, elliptischen Früchten und schwach entwickelten Gabelhaaren auf den Hausbergen bei Straßburg, wo sie alle drei auf einem wenige Quadratmeter großen Fleck zusammen wachsen. Da ein solches gesellschaftliches Vorkommen nächstverwandter Spezies auch in vielen andern Fällen durch Jordan, Nägeli, Focke, Christ u. a. beobachtet worden ist, so läßt sich schließen, daß derartige Formen ursprünglich auch an gleichem Orte und aus einer gemeinsamen Stammart entstanden sind, da sonst das Auftreten ungleichartiger Pflanzen an demselben, die Exemplare in gleicher Weise beeinflussenden Standort unerklärbar sein würde. Die Erophila-Arten haben ferner, wie aus der Identität zwischen vielen, von Jordan und Rosen beobachteten Formen hervorgeht, ein ziemlich weites Wohngebiet, auf welchem die Standortsbedingungen in jeder Hinsicht wechseln, ohne daß irgend welcher Einfluß derselben auf die Gestaltung der Arten zur Erscheinung kommt. Die artbildenden Merkmale stehen also, wie auch sonst in vielgestaltigen Gattungen, in gar keinem Abhängigkeitsverhältnis zu der äußern Umgebung und sind nicht durch Anpassung an dieselbe entstanden zu denken. Auch den Einfluß verschiedenartiger Bestäubung, die Züchtung durch blumenbesuchende Insekten, leugnet Rosen, da Erophila sich fast ausschließlich durch Selbstbefruchtung vermehrt; allerdings läßt der Bau der mit Nektarien versehenen Blüten, wie schon H. Müller hervorhob, auch Fremdbestäubung zu, und Rosen selbst fand Exemplare, an deren noch nicht völlig geöffneten Blüten der Pollen nicht auf die höherstehende Narbe zu gelangen vermochte, so daß dieselben auch keine Frucht ansetzten. Außer Bestäubung mit eignen Pollen kann bei durcheinander wachsenden, nahe verwandten Arten auch illegitime Kreuzung zwischen [709] denselben stattfinden. Die Möglichkeit, daß einzelne Erophila-Formen Bastarde mit vollkommener Fruchtbarkeit darstellen, ist somit nicht ausgeschlossen, und Rosen behält sich deshalb weitere Versuche in dieser Richtung vor. Im ganzen neigt er jedoch zu der Ansicht, daß bei Erophila die Vielgestaltigkeit trotz vorwiegender Inzucht und ohne wesentliche Beteiligung von Bastardbildung zu stande gekommen sei. Hinsichtlich der Entstehung der verschiedenen Sippen und Formen nimmt er an, daß dieselbe durch freie, d. h. von der Umgebung unabhängige Variation hervorgerufen sei. Dieselbe besteht nicht in einer bloßen Steigerung und Weiterbildung einzelner Merkmale, sondern sie schafft neue und kombiniert die alten in neuer Weise, so daß die aus einer Art entstandenen Formen nicht graduell verschieden sind, wie es der Fall sein müßte, wenn ihre Entstehung unter dem Einfluß der natürlichen Zuchtwahl vor sich ginge. Die Variation bewirkt auch keine Vervollkommnung, sondern nur eine Vermehrung der Formen, von denen einige schlechter oder ebenso gut oder besser konstruiert sein können als ihre Eltern; nur der Rückschritt wird durch die Auslese im Kampf um das Dasein unmöglich gemacht. Sie erscheint demnach nicht als blind und vom Zufall abhängig, sondern wird durch noch unbekannte Gesetze geregelt, da man annehmen muß, daß gleiche oder ähnliche Kombinationen nächstverwandter Formen an verschiedenen Orten entstanden sind. In diesen Sätzen liegt eine Weiterbildung der Darwinschen Theorie in ähnlichem Sinne, wie sie Nägeli mit seinen Ideen über sprungweise Variation bereits angedeutet hat. Vgl. Jordan, Pugillus plantarum novarum (Par. 1852); Derselbe, Diagnoses d’espèces nouvelles ou méconnues (das. 1864); Derselbe, Remarques sur le fait de l’existence en société à l’état sauvage des espèces végétales affines et sur d’autres faits relatifs à la question de l’espèce (Lyon 1874); Darwin, Das Variieren der Pflanzen und Tiere im Zustand der Domestikation (deutsch von Carus, Stuttg. 1868); folgende Schriften von Nägeli: „Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art“ (Münch. 1865); „Über den Einfluß der äußern Verhältnisse auf die Varietätenbildung“ (das. 1865); „Über die Zwischenformen zwischen den Pflanzenarten“ (das. 1866); „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre“ (das. 1883); Christ, Die Rosen der Schweiz (Bas. 1873); Focke, Synopsis Ruborum Germaniae (Bremen 1877); Kuntze, Methodik der Speziesbeschreibung und Rubus (Leipz. 1879); Nägeli und Peter, Die Hieracien Mitteleuropas (Münch. 1885); Rosen, Systematische und biologische Beobachtungen über Erophila verna („Botan. Zeitung“, 1889).