MKL1888:Radikalismus
[541] Radikalismus (neulat.), im allgemeinen Bezeichnung derjenigen Weise des Denkens und Handelns, welche einen Grundsatz bis zu seinen äußersten Folgerungen, gleichsam bis zur Wurzel (radix), verfolgt, wird im besondern für solche Richtungen in der Wissenschaft wie im Leben gebraucht, welche einem für richtig erkannten Grundsatz zu Gefallen alles damit nicht Vereinbare rücksichtslos verwerfen und selbst keine Anknüpfung an das Bestehende behufs allmählicher Entwickelung des für richtig Erkannten aus dem Wirklichen zulassen. In diesem Sinn sucht sich der R. besonders auf dem kirchlich-religiösen und auf dem politischen Gebiet geltend zu machen, auf jenem als die bis zur Ableugnung und Aufhebung alles positiv Gegebenen getriebene Kritik oder Skeptik, auf diesem als äußerste Richtung der Demokratie, welche die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit in unbedingtester Weise und bis zu ihren letzten Konsequenzen sofort zu verwirklichen strebt. Neuerlich bezeichnete man, namentlich in Deutschland, von dieser extremen Konsequenzmacherei absehend, auch alle diejenigen Liberalen als Radikale, welche sich nicht mit den im Augenblick durchführbaren Reformen begnügten, sondern eine vollständigere Umgestaltung der Dinge und zwar auf mehr oder weniger ungestüme und hinsichtlich der Mittel wenig wählerische Weise anstrebten. Die radikale Partei ging von den Ergebnissen philosophischer Spekulation aus und erstrebte, nachdem sie die Unabhängigkeit und Autonomie des Individuums erst auf dem Gebiet der Religion zu erreichen gesucht hatte, auch die Selbstregierung im politischen Sinn, wodurch sie dem alten Liberalismus, welcher mit dem Absolutismus nicht brechen, sondern nur ein vermittelndes Abkommen treffen wollte, entschieden feindselig gegenübertrat.