MKL1888:Religion

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Religion“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 715717
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Religion. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 715–717. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Religion (Version vom 21.01.2022)

[715] Religion (lat.), ein im Gesamtleben der Menschheit ebenso bedeutsames wie in seiner begrifflichen, ja selbst rein etymologischen Bedeutung noch keineswegs zu übereinstimmender Geltung gebrachtes Element. In letzterer Richtung dachten schon im Altertum die einen mit Cicero an relegĕre (diligenter retractare), d. h. an Gewissenhaftigkeit und Skrupulosität, die andern mit Lactantius an religāre, d. h. an den Bund mit Gott. Noch Augustinus klagt, die lateinische Sprache besitze kein Wort für das allgemeine Verhältnis des Menschen zu Gott. Seither aber hat eben das Wort R. diese Lücke ausgefüllt, und es war ein übel angebrachter Purismus, wenn Schleiermacher dafür das Wort „Frömmigkeit“ einführen wollte, während doch mit der Zeit fast alle Sprachen der gebildeten Welt sich für einen Begriff von so durchgreifender Wichtigkeit auf einen und denselben Ausdruck vereinigt hatten. Daß man in Holland noch godsdienst sagt, wird eben dort als eine Quelle vieler Mißverständnisse beklagt, da die Etymologie des Wortes auf etwas ganz andres weist und es keineswegs zur Klarstellung der Sache führt, wenn die Frage nach der R., welche zunächst der Anthropologie, Psychologie, Ethnologie angehört, vorschnell vereinerleit wird mit der Frage nach Gott (s. d.). Zunächst kann ein abschließendes Wort über Begriff und Wesen der R. erst gesprochen werden als Ergebnis vergleichender Untersuchungen, wie die allgemeine Religionsgeschichte sie anstellt. Übersichtliches, klares Wissen um den Entwickelungsgang der R. in der Menschheit ist die erste Vorbedingung zur Lösung der Aufgabe. Unsre Zeit strebt nach Erfassung des Weltzusammenhanges auf Grund der Erfahrungswissenschaften, nach spekulativen Resultaten auf der Unterlage empirisch gesicherter Prämissen, nach deduktiver Zusammenfassung von auf induktivem Wege gefundenen Erkenntnissen. Es wird somit auch alle ernsthafte Religionswissenschaft auszugehen haben von dem Nachweis des erfahrungsmäßigen Vorkommens der R. in den tausenderlei Gestaltungen und Übergangsformen der menschlichen Kulturgeschichte, von Untersuchung der gemeinsamen und der differierenden Momente und von psychologischer und ethnologischer Erforschung derselben, mit Einem Wort von der vergleichenden Religionsgeschichte (s. d.). Aber das ungeheure Gebiet, welches sich hier eröffnet, [716] ist noch keineswegs so allseitig bebaut und durchgearbeitet, daß es heutzutage möglich wäre, über Fragen wie: welches die primitive Gestalt der R., ob Fetischismus, ob Ahnenkultus, ob Himmelsanbetung, welches der Ursprung des Heidentums hier, des Monotheismus dort etc., einen auch nur einigermaßen gesicherten und allgemein anerkannten Bescheid zu erteilen. Gerade der Verlauf dieser geschichtlichen Forschungen ließ daher, indem er neben dem objektiven Unterschied des geistigen Gehalts der Religionen die Selbigkeit und Einheit der subjektiven Funktionen des religiösen Geistes zum Bewußtsein brachte, das Bedürfnis nach einer Ergänzung erwachen, welche von der Philosophie herkommen und darauf gerichtet sein mußte, die R. vor allem als eine psychologische Thatsache, als eine konstante, der Erklärung bedürftige und fähige Erscheinung des menschlichen Seelenlebens zu begreifen. Daher die angestrengten Bemühungen um die Entwickelung des Begriffs der R. in unsrer modernen Philosophie und in der Theologie, soweit diese noch bei der gemeinsamen Geistesarbeit der Zeit aufrichtig beteiligt ist. Es wären also zweitens die maßgebenden Konzeptionen unsrer bedeutenden Denker auf diesem Gebiet zu prüfen, und erst auf Grund eines solchergestalt doppelt gerichteten Studiums wird sich mit der Zeit eine zusammenhängende und positive Darlegung vom Wesen und Verlauf des religiösen Prozesses im menschlichen Geistesleben herstellen und die Frage zu beantwortet sein: was ist R.?

Diese Frage nach dem Wesen der R. als einer eigentümlichen Erscheinung im menschlichen Geistesleben ist eine durchaus moderne. Im kirchlichen Altertum taucht sie, obwohl die apologetische Aufgabe darauf hätte führen müssen, höchstens bei einzelnen, wie bei Augustinus, auf. Das Denken war noch zu überwiegend von unmittelbar praktischen Interessen beherrscht, als daß es vermocht hätte, den christlichen Glauben auf sein allgemeines Prinzip zurückzuführen. Auf die Frage, was R. sei, antwortete der Scholastiker: das Christentum; auf die Frage, was Christentum: die Kirche. Als Quelle der theologischen Erkenntnis galt der Scholastik statt der religiösen Vorgänge im menschlichen Bewußtsein vielmehr die reine Vernunft auf der einen, die äußerliche, als unmittelbare Mitteilung einer übernatürlichen Wahrheit verstandene Offenbarung auf der andern Seite. So gewann man den übrigens je länger, desto problematischer erscheinenden, von den letzten Scholastikern geradezu geleugneten Unterschied einer natürlichen, dem geistigen und sittlichen Wesen des Menschen von Haus aus zukommenden und einer übernatürlichen, geoffenbarten R. und verteilte die Artikel des christlichen Glaubens auf beide Gebiete. Sowohl mit dem einen als mit dem andern meinte man dabei nur das, was die Neuern die objektive R., wie sie in Lehren und Gebräuchen geschichtlich geworden und als sogen. positive R. innerhalb einer Gemeinschaft überliefert ist, im Unterschied zur subjektiven nennen. Mit der letztern, dem fast durchweg vernachlässigten innern Erlebnis, beschäftigte sich nur die Mystik. Aber gerade die wenigen Errungenschaften derselben gingen dem Protestantismus zunächst wieder verloren. Soweit es hier überhaupt zu einem faßbaren Religionsbegriff kommt, schwankt er haltlos zwischen der doktrinären und der praktischen Einseitigkeit; die R. ist „die Weise, Gott zu erkennen und zu verehren“, ohne daß die volle Mitte, der Kern der Sache, erfaßt wäre. Auf Aneignung und persönliche Erfahrung drang zwar der Pietismus, aber ohne das rein subjektive Wesen der R. theoretisch erfassen und begründen zu können. Denselben Weg betraten die Arminianer und Socinianer, endlich auch, mit immer ausgesprochenerer Abneigung gegen alle objektive, geschichtliche, positive, geoffenbarte oder gestiftete R., die Deisten und Aufklärer. Zugleich betonten sie mit wachsender Ausschließlichkeit das praktische Moment, und für Lessing ging die R. schon fast ganz in Sittlichkeit auf. Der ganz in diese Bahnen einlenkende Rationalismus (s. d.) hat wenigstens das Verdienst, den Unterschied von R. und Theologie wieder begreiflich gemacht zu haben. Am konsequentesten aber hat Kant den moralischen Standpunkt für die Beurteilung der R. behauptet, indem er diese als „die Anerkennung unsrer Pflichten als göttlicher Gebote“ definierte. Vielfach schien daher damals die R. zur Hilfskonstruktion für die Moral, zur Lückenbüßerin in der populären Sittenlehre herabgesunken. Anderseits schloß sich an Kant eine Auffassung an, wonach die R. als die auf dem Gebiet der Vorstellung liegende Deutung und theoretische Motivierung der dem Willen ihre Aufträge erteilenden Gewissensstimme erscheint. Unter allen Umständen datiert von Kant jedwede tiefere Erfassung des Problems, sofern er, indem er den Primat der praktischen Vernunft über die theoretische begründete, zugleich ein vollkommen deutliches Licht auf jene unausgefüllte und vielleicht theoretisch unausfüllbare Kluft fallen ließ, welche den Menschen als sinnliches Wesen vom Menschen als sittlicher Persönlichkeit trennt; an der praktischen Ausgleichung derselben besitzt aber die R. ihre immer sich gleichbleibende Aufgabe, wie denn auch die neuere protestantische Theologie die Leistungsfähigkeit der R. vielfach nach dem Grad bemißt, in welchem sie den Menschen innerlich über den Naturmechanismus zu erheben, zur Selbständigkeit gegenüber der Welt heranzubilden und des übergreifenden Wertes alles persönlichen Lebens bewußt und froh werden zu lassen vermag. An den Thatsachen des sittlichen Bewußtseins pflegt daher der religiöse Glaube der Modernen am leichtesten zu erwachen; aus ihnen ernährt er sich vorzugsweise; sie bilden heutzutage den „natürlichen Weg des Menschen zu Gott“. An Kant schlossen sich, übrigens in sehr verschiedenartiger Weise, Jacobi und Fries an; der erste zugleich in der Nachfolge jener Richtung auf Ungebundenheit und Genialität, welche in Männern wie Hamann, Lavater, Herder schon der einseitigen Verstandesherrschaft des Rationalismus sich entzogen hatte. Nicht auf dem von Kant gewiesenen Umweg über die Moral, sondern ganz direkt sollte die Vernunft, im Gegensatz zu dem notwendig ungläubigen Verstand, auf die Welt des Glaubens, auf das Gebiet der R. bezogen sein. So hatte man dem Wissen den Glauben entgegengestellt und in der gläubigen Vernunft ein besonderes „Organ“ für die R. gewonnen, welches dann Schleiermacher, indem er die Erträgnisse, die innerhalb der Genialitätsepoche für die Erkenntnis des Wesens der Religiosität gezeitigt waren, als reife Früchte einheimste und allgemein genießbar machte, in das Gefühl verlegte. Während er aus diesem noch ganz romantisch blühenden Gefühl späterhin das scholastisch verkümmerte „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ machte, war übrigens in der ersten Form der „Reden über die R.“ anstatt des in der Folge als eine zuständliche Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins beschriebenen Gefühls vielmehr die „Anschauung“ in den Mittelpunkt der Betrachtung getreten und dadurch die R. auf eine Thätigkeit der produzierenden Bildkraft oder Phantasie zurückgeführt [717] worden. Dieser späterhin von Schleiermacher zurückgestellte ästhetische Faktor fand einstweilen besondere Ausbildung und Pflege bei Fries, welcher, ähnlich wie Jacobi, in den Ahnungen und Gefühlen der R. eine übersinnliche Welt sich ankündigen sieht und die Berechtigung einer dermaßen gefühlsmäßig wirkenden Urteilskraft, die uns den ewigen Wert der Dinge und die letzten Zwecke des Daseins ahnen lehrt, aus der ästhetischen Weltanschauung erklärt. Diesen ästhetischen Maßstab für die Beurteilung der R. haben dann teils De Wette, teils Apelt weiter verfolgt, wie ihn auch noch in der Gegenwart nicht wenige Theologen praktisch handhaben.

Aber schon als Schleiermacher auf der Höhe seines Wirkens stand, haben nicht bloß Fichte und Schelling, jeder in seiner Weise, der R. vom Standpunkt einer mystischen Spekulation wieder Geschmack abzugewinnen vermocht, sondern es bereitete auch die Schule Hegels derjenigen Schleiermachers eine immer erfolgreichere Konkurrenz auf dem Gebiet der Religionsphilosophie. Zunächst identifizierte man hier die R. mit der religiösen Vorstellung. Sie selbst zwar sei denkende Erhebung des endlichen Geistes zum Absoluten; aber als bloße Vorstellung vertrete sie nur die niedere, sinnliche Weise des Denkens, und ihre Bestimmung sei, in dem philosophischen Begriff aufgehoben zu werden. Daraus konnte nun freilich, sofern mit der unzureichenden Form auch der Inhalt in Frage gestellt wird, gefolgert werden, daß die R. vom Standpunkt der Philosophie aus als ein aufgehobenes Moment, als ein überwundener Standpunkt erscheine, und so schloß sich an Hegel außer einer orthodoxen Rechten auch eine radikale Linke an, als deren Vertreter Ludwig Feuerbach den Satz von der in der R. zu Tage tretenden weltgeschichtlichen Selbsttäuschung des sein eignes Wesen in vorgestellten Gottheiten objektivierenden Menschen ausführte. Noch immer ist dies die Hauptfrage, welche die Sphinx allen Vorübergehenden auf der Heerstraße des religiösen Verkehrs zu lösen aufgibt: die Frage nach der objektiven Wirklichkeit des religiösen Verhältnisses selbst. Während die französischen Positivisten, die deutschen Materialisten, überhaupt aber auch der ganze Radikalismus den Illusionscharakter der R. bekennt, hat die theistische Schule der Philosophie die R. in einer bald mehr an Schleiermacher, bald mehr an Hegel erinnernden Weise zu stützen und zu begründen gesucht. Nachdem die Gefühlslehre des erstern kaum aufgetaucht war, wurde dieses Gefühl bald mit der erkennenden, bald mit der wollenden Funktion in Beziehung gesetzt, bald endlich auch, sofern ein lediglich Abhängigkeit aussagendes Gefühl schwerlich zu konstatieren sein dürfte, durch einen entsprechenden Freiheitstrieb korrigiert und ergänzt. Gleichzeitig brach sich angesichts einer geradezu unübersehbar gewordenen Menge von Versuchen, das Geheimnis der R. zu erschließen, das Bewußtsein Bahn, daß die Lösung des Rätsels auf dem Boden allgemeiner psychologischer Voraussetzungen überhaupt nicht gefunden werden könne, daß die R. auf keiner einzelnen Seite des menschlichen Bewußtseins ihren „Sitz“ haben könne, daß ihr kein eigentümliches „Organ“ zu Gebote stehe. Man fing an, den religiösen Vorgang aus des Menschen Situation in der Welt entweder als einen allenthalben, wo persönliches Bewußtsein herrscht, empfundenen „Druck des Unendlichen“ (Max Müller) oder umgekehrt als eine von innen erfolgende Reaktion gegen die Beschränkung seines äußern, in den Naturmechanismus vermochtenen Daseins zu erklären. In letzterer Richtung haben namentlich Ritschl und Herrmann die R. ganz auf die unmittelbare Evidenz der ethischen, den Menschen an Wert der ganzen Welt überlegen erklärenden Urteile zu gründen, von aller Metaphysik dagegen abzusehen unternommen. Aber auch die direkter an Schleiermacher anknüpfende Richtung von Alexander Schweizer und A. Baur einerseits, Lipsius und Graue anderseits sucht dem Religionsbegriff durch teleologische Beziehung auf den höchsten ethischen Zweck der Gemeinschaft eine feste, über die wechselnden Stimmungen und Empfindungen hinausführende Grundlage zu geben, während Biedermann und O. Pfleiderer damit noch ein aus der Hegelschen Schule stammendes Interesse an spekulativer Weltanschauung verbinden. Vgl. Kant, R. innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Königsb. 1793); Schelling, Philosophie und R. (Tübing. 1804); Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (Leipz. 1811); Drobisch, Grundlehren der Religionsphilosophie (das. 1840); Hegel, Vorlesungen über Philosophie der R. (2. Aufl., Berl. 1840, 2 Bde.); Pünjer, Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation (Braunschw. 1880–83, 2 Bde.); W. Herrmann, Die R. im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit (Halle 1879); O. Pfleiderer, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage (2. Aufl., Berl. 1883–84, 2 Bde.); R. A. Lipsius, Philosophie und R. (Leipz. 1885); W. Bender, Das Wesen der R. und die Grundgesetze der Kirchenbildung (Bonn 1886); Teichmüller, Religionsphilosophie (Bresl. 1886); W. Vatke, Religionsgeschichte (Bonn 1888); weiteres s. Religionsgeschichte.