MKL1888:Romanze
[921] Romanze, diejenige epische Dichtgattung, welche der lyrischen, wie die mit ihr gewöhnlich zusammen genannte, gleichfalls epische Gattung, die Ballade (s. d.), der dramatischen Form am nächsten steht. Dieselbe eignet sich demzufolge vorzugsweise dazu, gesungen (Volkslied), diese dagegen dazu, zugleich durch mimischen und pantomimischen Ausdruck sichtbar dargestellt zu werden (Ballett, Tanzlied). Der Name hat seinen Ursprung von der romanischen Sprache, indem Volkslieder und volksmäßige Gesänge zur Unterscheidung von den lateinischen Gedichten vorzugsweise Romances genannt wurden. Die spanische R. ist ein episches Volkslied mit nationaler Färbung, welches seinen Gegenstand möglichst objektiv, mit naiver Einfachheit behandelt. Die ältesten spanischen Romanzen besangen Begebenheiten aus dem wirklichen nationalen Leben und werden daher historische Romanzen genannt. Als später die Heldensagen der Nachbarvölker jenseit der Pyrenäen zu den Spaniern drangen, entstanden die sogen. Ritterromanzen, denen die maurischen oder moresken Romanzen, die verliebte Abenteuer und galante Feste im maurischen Kostüm schilderten, folgten. Waren schon diese letztern mehr Produkte der Kunstdichtung als solche der Volkspoesie, so gehörten die Schäferromanzen der erstern ausschließlich an. Die Deutschen haben nicht nur viele spanische Romanzen übersetzt, wie Herder, Diez, Regis, Geibel u. a., sondern auch diese Dichtgattung in ihre Poesie eingebürgert. Die berühmtesten deutschen Romanzendichter sind: Goethe, Tieck, die beiden Schlegel, Schwab, Uhland, Rückert, Chamisso, Zedlitz, Lenau, Grün, Ebert, Heine u. a. Die Franzosen gebrauchen das Wort Romance für eine rein lyrische Gattung von Liebesliedern, während die volksmäßig-epischen Lieder der altfranzösischen Litteratur Lais (s. d.) heißen. Die Engländer nennen Romances größere Rittergedichte und Romane, während sie ihre epischen Volkslieder als Balladen (ballads) zu bezeichnen pflegen. Seit der Mitte des 16. Jahrh. begann man in Spanien eigne Sammlungen für die Romanzen anzulegen, die man Romanceros nannte. Von diesen Sammlungen enthalten der „Cancionero de romances“ (Antwerp. 1550 u. öfter), die „Silva de romances“ (Saragossa 1550 u. öfter) und die „Rosa de romances“ des Juan de Timoneda (Valencia 1572) die ältesten und volksmäßigsten, wogegen der „Romancero general“ (Medina del Campo 1602, Madr. 1604–14) und die „Segunda parte del Romancero general“ von Miguel de Madrigal (Valladolid 1605) Romanzen aller Gattungen und meist schon von Kunstdichtern herrührende bieten. Unter den neuern Romanceros nennen wir als die vorzüglichsten die „Silva de romances viejos“ von Jak. Grimm (Wien 1815), den „Romancero castellano“ von Depping (2. Aufl., Leipz. 1844, 2 Bde.; mit einem 3. Teil: „Rosa de romances“, von F. J. Wolf, das. 1846) und die treffliche, „Romancero general“ betitelte Sammlung von Duran (Madr. 1828–32, 5 Bde.), dessen zweite Ausgabe (das. 1849–51, 2 Bde.) den 10. und 16. Band der „Biblioteca de autores españoles“ bildet und für ein ganz neues Werk gelten darf. Eine kritische Ausgabe der ältesten Romanzen lieferten Wolf und Hofmann in „Primavera y flor di romances“ (Berl. 1856, 2 Bde.). Einen „Romanceiro portuguez“, geschmackvolle Auswahl alter Romanzen, veröffentlichte Hardung (Lpz. 1877, 2 Bde.).
In der Musik bezeichnet R. nicht nur die Komposition eines der Gattung der R. angehörigen Gedichts für eine Stimme mit Begleitung, auch wohl für Chor, sondern ist, wie die Bezeichnung Ballade, auch für Instrumentalstücke übertragen worden, ohne genauere Bestimmungen der Formen. Will man einen Unterschied [922] machen, so kann es allenfalls der sein, daß die R. mehr rein lyrisch, eine lang ausgesponnene, mit Figurenwerk verbrämte Melodie ist, während die Ballade sich mehr episch-dramatisch darstellt.