MKL1888:Schwanzmenschen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schwanzmenschen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 687
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Schwanzmenschen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 687. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schwanzmenschen (Version vom 15.09.2022)

[687] Schwanzmenschen, Menschen, deren hinteres Körperende sich über die normale Grenze hinaus verlängert hat und nach Art eines Tierschwanzes die Hinterbacken überragt. Im Altertum glaubte man allgemein, daß es geschwänzte Menschen gebe, und nicht etwa vereinzelten Individuen, sondern ganzen Völkerschaften wurde der Schwanz vindiziert. Als geschwänzt galten die Kalystrier in Indien, Völker im Innern von Afrika, auf drei hinterindischen Inseln und auf einer Insel westlich von Sizilien. Im Mittelalter wurden diese Wundergeschichten gern geglaubt, sie gingen in die naturwissenschaftliche Litteratur über, und auch die neuern Reisenden erzählten von geschwänzten Menschen. Sie hatten die Schwänze gesehen, aber niemals in der Nähe, und sie hatten dieselben daher nicht als Teile des Kostüms erkannt. Die Niam-Niamkrieger schmücken sich mit Tierschwänzen, die fetten Bongoweiber mit Quasten aus Bastfasern, und in ähnlicher Weise erklären sich alle diese Beobachtungen. Das Vorkommen großer geschwänzter Völkerschaften ist in das Reich der Fabel zu verweisen. Dagegen hat man auf Java, Borneo, Ceram, Timor einzelne in Wirklichkeit geschwänzte Menschen aufgefunden und zwar am häufigsten bei solchen Stämmen, die von andern in das Innere der Inseln zurückgedrängt und zu dauernden Heiraten innerhalb des Stammes gezwungen sind, so daß sich die Mißbildung durch Inzucht erklärt. Derartige Fälle kommen aber bei allen Rassen vor und zeigen in der äußern Erscheinung wie in der anatomischen Zusammensetzung des Schwanzes große Differenzen. Zur Erklärung der Schwanzbildung könnte man zunächst an Atavismus denken, dann aber müßten die Schwänze deutlich erkennbare überzählige Wirbel enthalten, und solche Fälle sind bisher nicht sicher konstatiert. Alle gut beschriebenen Fälle repräsentieren Mißbildungen. Der menschliche Embryo ist in einer frühen Zeit seiner Entwickelung ebenso wie die übrigen Säugetiere mit einem deutlichen, aber wirbellosen Schwanz versehen, der anfangs eine relativ recht erhebliche Länge besitzt, dann aber sich zurückbildet und schon in der siebenten Woche nur noch eine Hervorragung, den Steißhöcker, bildet, der den Hinterbacken dicht aufliegt und mit der Körperoberfläche fest verwachsen ist. Diesen Zuständen entsprechen nun mehrere bekannte Fälle von freien Schwänzen oder angewachsenen Steißhöckern, die also als Hemmungsbildungen aufzufassen sind. Zwei andre Formen von Menschenschwänzen beruhen auf exzessivem Wachstum in der embryonalen Periode. Trat dasselbe nach Rückbildung des embryonalen Schwanzes ein, so enthält der abnorme Schwanz Wirbel, aber nicht überzählige wie der atavistische, vielmehr sind die Steißbeinwirbel, deren Zahl sogar vermindert sein kann, nur vergrößert und treten deshalb über die Körperoberfläche hervor. Diese Schwänze bilden kurze Stummel, während die aus früherer Zeit stammenden langgestreckt, dünn, an der Spitze mehr oder weniger eingerollt sind und keine Wirbel enthalten.