MKL1888:Seelenwanderung

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Seelenwanderung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 809
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Seelenwanderung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 809. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Seelenwanderung (Version vom 13.11.2022)

[809] Seelenwanderung, die in den alten Religionslehren und Philosophemen vorkommende Ansicht, daß die Seele, bevor sie den menschlichen Körper belebe, schon in andern Körpern gewohnt habe (Präexistenz der Seele) und nach dem Tode des Menschen wiederum in einen neuen Organismus eingehe, um sich zu läutern und endlich zum Ziel der Vollkommenheit zu gelangen. Die Brahmanenlehre der alten Inder stellt die Wanderungen der Seele nach dem Tode durch böse und gutartige Tiere als Büßungen und Mittel der Läuterung dar. Die ägyptischen Priester nahmen an, daß die Seele nach dem Tode des Leibes durch alle Tiergattungen wandere, nach 3000 Jahren aber wieder in einen Menschenleib komme. Wahrscheinlich von den Ägyptern empfingen dann die Griechen den Glauben an die S., und zuerst sollen Pherekydes und sein Schüler Pythagoras dieselbe gelehrt haben; dieser dachte sich dieselbe als einen Läuterungsprozeß. Metempsychosis, Seelenwechsel, und Metensomatosis, Körperwechsel, sind die griechischen Bezeichnungen für S. Die spätern Pythagoreer lehrten, daß der Geist, von den Fesseln des Körpers befreit, in das Reich der Verstorbenen eingehe und nach längerm oder kürzerm Verweilen daselbst wieder andre menschliche oder tierische Körper belebe, bis er geläutert und würdig sei, zum Urquell des Lebens wieder zurückzukehren. Empedokles behauptete eine Wanderung der Seele selbst durch Pflanzenkörper. In den griechischen Mysterien lehrte man, daß die Seele bei ihrer Ankunft auf der Erde in eine Menge Gewänder (Leidenschaften und sinnliche Begierden) eingekleidet werde, die sie eins nach dem andern wieder abwerfen müsse, ehe sie zurückkehren könne. Als Führer der Seelen (Psychopompos) zu ihrer ursprünglichen Heimat erscheint Dionysos oder Bakchos, der sie von der Persephone aus dem Schattenreich, wo sie einer Läuterung unterworfen worden waren, wieder auf der Erde empfing, wo sie nun durch Erkenntnis und That die Heroenwürde erstrebten. Gelegenheit zur Reinigung boten die Mysterien. Platon spricht geradezu aus, daß die Seelen vor ihrem Erscheinen im Menschen schon einmal dagewesen seien und bei ihrem zweiten Kommen sich Körper aussuchten, die ihrer Beschaffenheit am angemessensten wären; so gehen Tyrannen in Wölfe oder Geier, Arbeitsame in Bienen oder Ameisen über. Bis zur völligen Rückkehr in den Schoß der Gottheit verfließt nach ihm ein Zeitraum von 10,000 Jahren. Die Neuplatoniker erweiterten diese mystischen Ansichten noch mehr; Plotin unterscheidet eine Wanderung der Seelen aus unsichtbaren ätherischen Körpern in irdische und eine Wanderung aus irdischen wieder in irdische. Aristoteles verwarf die S., weil sie voraussetze, daß die Seele sich zu bestimmten Körpern gleichgültig verhalte. Die Juden zur Zeit Christi glaubten ziemlich allgemein an die S. Die Talmudisten nahmen an, Gott habe nur eine bestimmte Anzahl von Judenseelen geschaffen, die daher immer wieder kämen, solange es Juden gebe, bisweilen auch zur Strafe in Tierkörper versetzt, am Tag der Auferstehung aber alle gereinigt seien und in den Leibern der Gerechten im Gelobten Land aufleben würden. In der christlichen Kirche lehrten nur die Gnostiker und Manichäer eine S. Vgl. J. G. Schlosser, Über die S. (Leipz. 1781); Conz, Schicksale der Seelenwanderungshypothese (Königsb. 1791).