MKL1888:Verstand

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Verstand“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 161
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Verstand. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 161. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Verstand (Version vom 17.10.2021)

[161] Verstand (Intellectus) wird sowohl zur Bezeichnung eines gewissen Grades von Einsicht als einer gewissen technischen Fähigkeit gebraucht. In ersterer Hinsicht wird demjenigen V. beigelegt, welcher fähig ist, den Inhalt eines ihm Vorgestellten zu verstehen, d. h. denselben richtig, ohne Entstellung und (subjektive) Färbung, so wie er wirklich ist, aufzufassen (Verständnis); in letzterer Hinsicht heißt derjenige verständig, dessen Verhalten (im Denken und Handeln) durch dessen V., dessen Denken (Begriffebilden, Urteilen und Schließen) insbesondere durch sein Verständnis des Inhalts des Gedachten (logisches Denken, s. Logik), dessen Handeln (Behandeln, Bearbeiten) insbesondere durch seine richtige Auffassung (des Wesens und Zwecks; zweckmäßiges Handeln, s. Technik) des Gegenstandes bestimmt wird. V. in ersterer Bedeutung ist einer achromatischen Lupe zu vergleichen, die den beobachteten Gegenstand dem Auge näher und schärfer und zugleich ohne störende Farbenbrechung zeigt, daher der V., da er den Inhalt der sinnlichen Vorstellungen (Sensationen), wie jene den Inhalt der vorgestellten (äußern) Objekte, zum Gegenstand hat, auch wohl (im Gegensatz zum äußern) als inneres Wahrnehmungsvermögen (innerer Sinn, Reflexion) bezeichnet wird. Derselbe setzt, da er Verständnis eines Vorstellungsinhalts sein soll, einen vorhandenen Vorrat, sei es ursprünglich (durch die Sinne) gegebener Anschauungen (empirischer V.), sei es aus solchen (durch Verknüpfung oder Aussonderung) gewonnener (Abstraktionen, abstrakter V.), Vorstellungen, voraus, wie er seinerseits von der Vernunft (s. d.) vorausgesetzt wird. Wer (wie der Schwachsinnige und Ungebildete) nur einen engen Vorstellungskreis besitzt, ist auch nur eines mäßigen, wer (wie der von Leidenschaft Unterjochte) der sittlichen Freiheit und Selbstbestimmung beraubt ist, dessenungeachtet noch des Verstandesgebrauchs (kühl berechnenden Handelns) fähig. Wie die das Gesicht schärfende Lupe als Seh-, so hat der V. als Erkenntnisinstrument lediglich formalen Charakter; er verdeutlicht den Inhalt des Gedachten und zieht die notwendigen Folgerungen daraus, ohne (wie die Vernunft) über Wahrheit oder Falschheit, Löblichkeit oder Verwerflichkeit, Schönheit oder Häßlichkeit desselben zu entscheiden. Wird bei der Verdeutlichung des Inhalts des Gedachten nur eine (mehr oder weniger hinreichende) Verständigung (durch Veranschaulichung, Beschreibung, Erläuterung etc.) angestrebt, und werden nur (mehr oder weniger) in die Augen springende Folgerungen daraus gezogen, so heißt er populärer (sogen. gesunder Menschen-) V. und sein Verfahren (verständige) Auseinandersetzung (Diskurs); wird dagegen eine (logisch genaue) Erklärung (Definition, s. d.; durch Zerlegung des Inhalts in seine elementaren Bestandteile) angestrebt, und werden die (logisch) notwendigen Folgerungen daraus gezogen, so heißt er wissenschaftlicher (logischer) V. und sein Verfahren (logische) Denkkunst (Diskussion). Letztere als vollkommenste Form des Verstandes wird wohl auch vorzugsweise V. und die Logik (s. d.) als Wissenschaft von den Normen des (richtigen) Denkens vorzugsweise Verstandeswissenschaft genannt. Gegensatz des Verstandes ist der Unverstand, wenn (der Inhalt des Gedachten) nicht, der Mißverstand, wenn (er mit oder ohne Absicht) falsch verstanden wird. Gegensatz des Verständigen ist der Thörichte, dessen Denken und Handeln nicht durch den V., sondern durch Laune und Zufall (Willkür im Denken, Einfalt im Handeln) gelenkt wird. Da sich gewissen Tieren weder Verständnis noch anpassende Bewegung für ihre Zwecke (Kunsttrieb) absprechen läßt, so kann denselben der V. auch nicht streitig gemacht werden.