MKL1888:Wettrennen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Wettrennen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 575576
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Wettrennen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 575–576. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Wettrennen (Version vom 22.03.2023)

[575] Wettrennen. Die ersten W., deren die Geschichte erwähnt, fanden bei den Festen des persischen Sonnengottes, des Mithra, statt. Der Sage nach führte Herakles sie bei den Griechen ein, welche in ihren Olympischen Spielen W. in dreierlei Weise abhielten, indem sie entweder reitend oder im Wagen fahrend nach dem Ziel jagten, oder, bei dem letzten Umlauf abspringend, mit dem Pferd am Zügel dem Ziel zueilten. Diese letztere Methode wurde mit der 84. Olympiade wieder aufgegeben. Am gewöhnlichsten waren die W. zu Wagen (Wettfahren), wozu man entweder zwei Pferde an den Wagen schirrte (Zeugos), oder ein Viergespann (Tethrippon) nahm. Selbst W. mit Maultiergespannen wurden angestellt. Bei den Römern waren die W. (cursus equorum), wie alle gymnastischen Spiele, mehr zur Befriedigung der Schaulust bestimmt. Die Reiter ritten entweder auf einem Pferd (singulatores), oder hatten deren zwei, so daß sie im Reiten von dem einen auf das andre sprangen (desultores). Die Wagenkämpfer (aurigae, agitatores) stellten sich in einer Reihe an die durch das Los bestimmten Plätze, und der die Spiele Leitende gab mit einem Tuch das Zeichen zum Abfahren, worauf die Schranken (carceres) fielen. In jedem Rennen (missus) mußten sieben Umläufe (spatia) gemacht werden. Gewöhnlich fuhren vier Gespanne auf einmal ab, deren Lenker jeder mit einer andersfarbigen Tunika bekleidet war, da bei den römischen W. vier Parteien bestanden, die sich durch weiße, grüne, rote und blaue Kleidung voneinander unterschieden. In Konstantinopel erhielten diese Parteien politische Bedeutung, was so weit ging, daß unter Justinianus (532) die Grünen, welche von dem Kaiser gehaßt wurden, einen Aufstand erregten, wobei 30,000 Menschen um das Leben gekommen sein sollen.

Bei den germanischen Völkern waren die W. seit uralter Zeit eng mit dem heidnischen Kultus verbunden, und Spuren solcher ritualen W. haben sich in Deutschland und Belgien bis zum heutigen Tag erhalten. Namentlich bei dem bayrisch-österreichischen Stamm fanden daher die W. von Italien aus rasch Eingang und, von den heimischen Reminiszenzen unterstützt, sehr bald Aufnahme unter den Zeremonien einzelner Kirchenfeste, obwohl die Kirche sie früher als heidnische Sitte zu beseitigen gesucht hatte. Von Österreich aus verbreiteten sie sich nach Ungarn, wo sie schon in sehr früher Zeit vorkommen. In England wurden die W. schon von den Römern eingeführt, aber erst unter Heinrich II. um 1160 wesentliche Teile öffentlicher Volksbelustigung, und vier Jahrhunderte später, als man anfing, Wetten damit zu verbinden, wurden sie zwar schon regelmäßig angestellt, waren aber noch immer nur Privatrennen. Erst 1610, wo William Lester, ein Krämer und damals Mayor, und Robert Amboyn, ein Eisenhändler und damals Sheriff der Stadt Leicester, auf ihre Kosten drei Silberglocken als Preise für ein W. am Georgstag (23. April) aussetzten, begann die ununterbrochene Folge der öffentlichen Chesterrennen (Chester races), die anfangs nach den Preisen Glockenrennen hießen, bis Karl II. statt der Glocken die sogen. Kingsplate, eine Silberschale, als Preis aussetzte. Seine Nachfolger unterstützten das Rennwesen eifrig, und jetzt hat fast jede englische Grafschaft ihr jährliches Herbst- oder Frühlingsrennen, und die Rennklubs müssen eigne Kalender herausgeben, um die Tage der verschiedenen W. nicht verwechseln zu lassen. Die berühmtesten Rennplätze sind: Ascott, Doncaster, Epsom, Derby, Melton-Mowbray und Newmarket. Das Rennpferd (racer) bedarf einer langen Vorübung, ehe es auf die Rennbahn gebracht werden kann (s. Trainieren). Die vor den öffentlichen Rennen angestellten Proberennen (trials), in denen ein älteres Pferd mit bekannter Leistungsfähigkeit konkurriert, dienen als Maßstab zur Orientierung für das beteiligte Personal und Publikum. Die Reiter (Jockeys) müssen ebenfalls eigens herangezogen und für die Rennbahn vorbereitet werden. Sie dürfen die von ihnen gerittenen Pferde nicht mit überflüssigem Gewicht belasten und müssen deshalb, wenn sie zu schwer geworden sind, sich einer harten Entziehungskur unterwerfen (sich trainieren). Nach dem Kontinent fanden die Rennen im englischen Stil erst in diesem Jahrhundert ihren Weg. Frankreich, das 1806 schon ein Rennen hatte, wurde erst durch die Bemühungen Napoleons III. in die Reihe der eigentlichen Rennsport treibenden Nationen erhoben; es hat aber in kurzer Zeit auf diesem Gebiet so große Erfolge errungen, besonders auch in der Zucht der Vollblutpferde, daß andre Länder es bereits als Quelle guten Materials aufsuchen. Österreich-Ungarn kultiviert gleichfalls mit Glück das Rennwesen, und es ist dort neuester Zeit ein geradezu phänomenales Rennpferd aufgetaucht, Kinchem, das seinen Siegeslauf über die Grenzen des Vaterlandes hinaus durch Deutschland, England und Frankreich genommen hat. In Preußen konstituierte sich 1828 der erste Rennverein, und die Rennen haben seit dieser Zeit zwar erheblich an Ausdehnung gewonnen, ohne indessen zu einem durchschlagenden Erfolg in der Sache selbst noch indirekt für die Landespferdezucht zu gelangen. Rußland hat Anfänge für den englischen Rennbetrieb aufzuweisen, hat aber größere Neigung für den Trabersport, der auch in Frankreich ein günstiges Terrain gefunden hat, besonders aber in Amerika zu einer Spezialität ausgebildet worden ist (s. Trabrennen). Die bekanntesten Rennplätze in Frankreich sind: Longchamps, Chantilly, Fontainebleau, Auteuil, La Marche und im Vésinet; in Deutschland: Berlin, Baden-Baden, Hamburg, Leipzig; in Österreich: Wien, Budapest etc. Die Rennen in Italien, die beispielsweise während des Karnevals in Rom abgehalten wurden, in denen die Pferde ohne Reiter liefen, sind in neuester Zeit abgeschafft worden. Bei den englischen W. unterscheidet man zunächst: Flachrennen (flat races), auf ebener Bahn, Hürdenrennen (hurdle races), Rennen mit leichten Hindernissen von Flechtwerk, Kirchturmrennen (steeple-chases, s. d.), Rennen mit natürlichen oder künstlich angelegten festen Hindernissen, wie Gräben, Hecken, Dämme, Mauern etc., und Trabrennen (trotting races), im Sattel oder im Geschirr. Nach den Distanzen gibt es kurze, mittlere und lange Rennen, je nachdem die Bahn von 1/81/6, von 1/41/2 oder von 1/2–1 deutsche Meile lang ist. Eine besondere Art des Wettrennens, besonders in Deutschland u. Österreich, ist das Distanzrennen, oft nur von zwei Herren, meist Offizieren, unternommen, welche Entfernungen von 6, 10 deutschen Meilen und viel größere Entfernungen zurücklegen und in vollkommen kriegsbrauchbarer [576] Verfassung am Ziel ankommen müssen. Nach den Reitern: Herrenreiten, Offiziersreiten, besonders in Deutschland üblich, Jockeyreiten, die gewöhnlichsten von allen, und Bauernreiten; nach den Preisen: W. um den Staatspreis, Vereinspreis, Jockeyklubpreis etc., und nach den Bedingungen der Konkurrenzen: Rennen für Pferde gleichen Alters mit gleichem Gewicht, Rennen für Pferde jeden Alters mit verschiedenem Gewicht, Handicap (s. d.) und Verkaufsrennen, bei welchem jedes ablaufende Pferd für einen angesetzten Preis käuflich ist. W. zwischen Pferden, die noch nicht gesiegt haben, nennt man Maidenstakes, Jungfernwetten, W. zwischen zwei Pferden allein Match, Wette, und das W., welches nach einem unentschiedenen oder toten Rennen den Ausschlag geben soll, Entscheidungslauf. Die Rennen selbst werden von dem veranstaltenden Verein bestimmt, der zugleich die Renntage (meetings) festsetzt und ein Programm mit den Rennpropositionen ausgibt, welche alle Details über Preise, Einsätze, Reugelder und Distanzen enthalten und daher später mit den allgemeinen Renngesetzen (rules of racing) die Grundlage aller Entscheidungen bilden. Diejenigen Pferdebesitzer, welche sich beteiligen wollen, „nennen“ nun ihre Pferde und können diese nur gegen das festgesetzte Reugeld (forfeit), das zuweilen den ganzen, meist aber bloß den halben Einsatz beträgt, zurückziehen. Auf dem Rennplatz überwacht das Komitee des Meetings die Beobachtung der Renngesetze und teilt deshalb an seine Mitglieder verschiedene Ämter aus. Zu diesen gehören der Wieger, der die Reiter samt ihren Sätteln abwiegt, der Starter, welcher durch Senken seiner Flagge das Zeichen zum Ablauf (start) gibt, und am Gewinnpfosten der Richter, welcher den Sieger bestimmt. In streitigen Fällen tritt ihm ein Schiedsgericht zur Seite, welches etwanige „Proteste“ zu prüfen hat u. meist als höchste Instanz entscheidet. Das Rennen leitet sich ein, indem „aufgekantert“, d. h. zum Platz des Ablaufs galoppiert, wird. Sind alle Renner zur Stelle, so läßt der Starter die Flagge sinken, und der Lauf beginnt. Geht aber ein Pferd nicht ab, so müssen auch die andern wieder umkehren, bis alle „starten“, d. h. in rascher Gangart (pace) ablaufen. Am Ziel angelangt, nennt der Richter den Sieger und, in Nasen-, Hals- und Pferdelängen ausgedrückt, die Entfernungen, um welche das zweite, dritte und die folgenden Pferde zurückgeblieben sind. Pferde, welche im Augenblick des Siegs den Distanzpfahl nicht erreicht haben, der 30–50 Ruten von dem Ziel steht, werden gewöhnlich als „distanziert“ bezeichnet und verlieren dadurch das Recht, während des Meetings noch einmal mitzulaufen. Die Reiter aber müssen sich nach dem Rennen noch einmal wiegen lassen, um zu beweisen, daß sie den Lauf mit vollem Gewicht zurückgelegt haben. Schon der Verlust von einem halben Kilogramm Gewicht macht unfähig zum Sieg. Über den Nutzen der W. für die Pferdezucht gehen die Meinungen sehr auseinander. Jedenfalls heben sie die Vollblutzucht, und diese wieder ist ein unentbehrliches Mittel zur Erzielung von Pferdeschlägen kräftiger und ausdauernder Art, wie sie den einzelnen praktischen Bedürfnissen, besonders aber dem Kriegsdienst, entsprechen. Wenn aber auch nicht geleugnet werden kann, daß die W. die Züchtung und Haltung der Pferde günstig beeinflußt haben und die Lust zum Reiten fördern und beleben, so ist doch auch nicht zu verkennen, daß die jetzigen Rennen, besonders in England, viel zu sehr Spielmittel geworden sind, um noch eine reelle Prüfung der Leistungsfähigkeit der Pferde zu bleiben. Das Pferd ist jetzt nicht mehr Zweck der Rennzucht, sondern Mittel für die Spielsucht (s. Wette). Vgl. Hazzi, Über die Pferderennen als wesentliches Beförderungsmittel der bessern Pferdezucht (Münch. 1826); Kloch, Über Wettrenner und W. (Bresl. 1835); „Abhandlungen über Tierzucht und Pferderennen“ (Berl. 1861–63); v. Lehndorff-Graditz, Hippodromos. Einiges über Pferde u. Rennen im Altertum (das. 1876); v. Heydebrand und der Lasa, Handbuch des Reitsports (Wien 1882); Silberer, Handbuch des Rennsports (das. 1881); Derselbe, Turf-Lexikon (das. 1884); v. Bonin und Hartmann, Handbuch für Rennbesucher (Leipz. 1886); „Der Turf“ (mit Wörterbuch, 3. Aufl., Wien 1880); Rice, History of the British turf (Lond. 1879); „Reglement für das Flachrennen und Rennen mit Hindernissen im preußischen Staat von 1881“; „Rennkalender für Deutschland“ (Berl., seit 1866); „Österreichisch-ungarischer Rennkalender“ (Wien, seit 1878).