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MKL1888:Zweites Gesicht

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Zweites Gesicht“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Zweites Gesicht“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 16 (1890), Seite 1013
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Zweites Gesicht. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 1013. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Zweites_Gesicht (Version vom 24.10.2021)

[1013] Zweites Gesicht (engl. Second sight), ein besonders in Schottland und Nordengland herrschender Glaube, daß gewisse Personen die Gabe besitzen, Zukünftiges vorauszusehen und namentlich alle demnächst dem Tod anheimfallenden Bekannten zuvor mit geistigem Auge zu erkennen, indem sie entweder nächtlich ihren Leichenzug sehen oder sie allein in der Kirche erblicken etc. Sieht der Seher sich selbst mit verkehrtem Plaid, so weiß er, daß er sich zum Tod vorbereiten muß. Oft beschränkt sich jedoch die Seherkraft darauf, daß kommender Besuch vorausgesehen oder die Rückkehr eines Abwesenden vorher verkündet wird. Auch in Deutschland erzählt man sich viel Wunderbares von dem zweiten Gesicht, welches man im Plattdeutschen die Gabe, „Schicht to kiken“, nennt. Es gibt verschiedene Mittel, um diese Gabe zu erlangen oder „schichtig“ zu werden; wer sie aber besitzt, gilt für unglücklich, weil er den Spuk sehen muß, so oft er kommt, und die Fähigkeit nur los wird, wenn er sie auf einen andern überträgt. In der Vendée glaubt man, daß jeder, der bald stirbt, entweder einen Leichenzug mit einer Leiche, in der er sich erkennt, erblickt, oder einen mit einem Leichentuch bedeckten Nachen, der vorübergleitet, und dessen Führer den Namen des Toten ruft. Im übrigen Frankreich sieht man den „Totenwagen“ vor dem Haus vorüberfahren, in welchem jemand sterben soll. Jedenfalls hängt der Glaube an das zweite Gesicht mit dem an ein Vermögen der Ahnung (s. d.) zusammen, obschon es sich mit dem Vorgefühl des eignen Todes ganz anders verhält als dem fremder Personen. Z. G. nennt man auch das Doppeltsehen (Deuteroskopie) oder die nach dem Volkswahn gewissen Menschen verliehene Fähigkeit, zu gleicher Zeit an zwei Orten gesehen zu werden, wo dann das eine Gesicht der wirkliche Mensch, das zweite bloß dessen gespenstisches Schattenbild ist. Solche Doppelgänger sollen meist besondern Unglücksfällen ausgesetzt sein und sterben, sobald sie sich selbst erblicken. Vgl. Horst, Deuteroskopie (Frankf. a. M. 1830, 2 Bde.); du Prel, Das Zweite Gesicht (Bresl. 1882).