Madonna di Campiglio
Madonna di Campiglio.
Wie in der longobardischeu Heldensage sich das Germanentum mit römischem Wesen vermengt, so webt um die Zinnen der Brenta-Alpen zwischen der Etsch und dem Gardasee die Erinnerung an gar viele deutsche Kaisergestalten, die von hier in die blauen Ebenen des Südens hinabschauten. Nach dem Wesen der Zeiten und der Dinge haben sich freilich die Beweggründe verändert, durch welche die Kaiser und Kaisersöhne nach diesen Bergen gezogen wurden. Weil der Himmel, der über diesem Lande liegt, ein milderer ist, darum kann der Mensch mit seinen Wohn- und Gaststätten höher in die lichte Bergwelt hinaufrücken. So liegen die herrlichen, jetzt so in Mode gekommenen Gastansiedelungen von Madonna di Campiglio und von San Martino di Castrozza beide höher als alle Sommerfrischen des deutschredenden Tiroler Landes. Beide waren einmal Klöster und haben jenen angedeuteten Wandel mitgemacht, der aus dem Wesen der Dinge hervorgeht, gleich wie die Fürsten und Gewaltigen Deutschlands jetzt nicht mehr kommen, um sich in den Schluchten herumzuschlagen oder um mit eiserner Gewalt nach der eisernen Krone der Longobarden zu trachten, sondern um in kühlen Lüften und im Harzhauch des Lärchwaldes Labsal und Erquickung zu suchen. Auf jenen Wandel weisen auch allerlei Plätze in Campiglio mit ihren Namen hin: von dem sogenannten Lager Karls des Großen an bis zum Kaiserin Friedrich-Platz, vom Barbarossa in der Etschklause bis zum Wiesenplan, auf welchem der Held von Wörth von den letzten goldenen Herbsttagen seines Daseins umglänzt wurde.
Hoch oben in Wälschtirol zwischen hohen Dolomitwänden liegt die so berühmt gewordene Sommerfrische von Madonna di Campiglio, eine Alpenidylle, auf welche es ringsum niederfunkelt von weit herab reichenden Schneefeldern. Eine Reihe von Wasserfällen stürzt aus den Gebieten unzerstörbaren Winters auf den grünen Plan von Hochthälern herab, welche sich von hier aus strahlenförmig und zum Teil in ebener Richtung in mehrere der mächtigsten Alpenmauern hineinziehen. In den Boden dieser Hochthäler sind, keiner tiefer als achtzehnhundert Meter über dem Meere, sechzehn jener unbeschreibbaren Seen eingebettet, in welchen sich der lichte Schimmer des Firns, das zackige Profil der Hochgipfel und der Wandel der Wolken wunderklar spiegelt. Und dieses herrliche Hochthal prangt noch mit jungfräulichen Reizen, ist von der Kultur unberührt geblieben. Keine Stadt erfüllt es mit ihrem Qualm und Rauch und geschäftigem Lärm, nicht einmal ein schlichtes Dorf ist in ihm zu finden – um ein Kirchlein aus alter Zeit schart sich nur eine Gruppe von Häusern, die bestimmt sind, Gäste aufzunehmen. Dieses am Rand des Thales erbaute Anwesen (vergl. die Abbildung S. 655), zu dem der duftige Hochwald hinabsteigt und vor dem krystallhelle Wasser rauschen, ist eine herrliche Herberge für die Erholungsbedürftigen, die fern vom Lärm der Städte Ruhe und Gesundung am Jungbrunnen des Hochgebirgs suchen.
1553 m über dem Meeresspiegel, also nur ein wenig niedriger als der Gipfel des Herzogenstands in Bayern liegen diese großen Gaststätten von Campiglio und noch immer ist der Zugang zu ihnen für den verwöhnten Reisenden unserer Tage kein leichter zu nennen. Das Dampfroß erklimmt nicht diese Höhen, und wenn einer in einem „Landauer“ oder sonst einem bequemen Reisewagen heute in Campiglio ankommen will, so muß er zuvor in demselben eine achtzig Kilometer lange Straßenstrecke von Trient ab – über Le Sarche und Pinzolo, das Rendena- und das Nambinothal hinauf – zurücklegen. Wird aber einmal die Straße, die schon [655] heute von Bozen ab über den herrlichen Mendel-Paß in den „Sulzberg“ (Val di Sole) zum Dorf Dimaro führt, von diesem Orte aus nach Campiglio vervollständigt sein, so werden nicht wenige Besucher dieser Hochalpen sich entweder auf dem Hin- oder Rückwege dieser letzteren Strecke bedienen. Sie stellt zugleich die kürzeste Verbindung zwischen Bozen und dem Gardasee dar. Schon heute kann man bis Dimaro fahren und dann den Saumweg über den Paß Campo Carlo Magno benutzen. Verweilen wir bei ihm einen Augenblick; denn sein Name weckt geschichtliche Erinnerungen. Die alten Ureinwohner der Thäler Südtirols, die Etrusko-Rhäter, wurden durch die Flut der Völkerwanderung aus ihrer Ruhe aufgerüttelt; germanische Scharen kamen über die Berge und germanisches Blut mischte sich mit dem romanischen. Heidnisch blieb aber das Land, und als später christliche Bekehrer in das Rendenathal kamen, erlitten sie hier den Märthrertod; denn zäh und hartnäckig hielt das Volk an seinen alten Göttern und ihrem düstern Dienst. Da zog, wie die Sage berichtet, König Karl mit 4000 Lanzen durch die Val camonica über Campiglio in das Rendenathal. Er bezwang die Hochburgen der heidnischen Herzöge und Herren, taufte die Besiegten und gründete Gotteshäuser … Doch wer vermag die Wahrheit der Sagen noch zu verbürgen? Aus einer viel späteren Zeit, aus dem 12. Jahrhundert fließen die ersten geschichtlich verbürgten Nachrichten über Campiglio. Danach war der Ort ehemals ein Hospiz, das im Zeitalter der Kreuzzüge von einem gewissen Raimund zur Pflege der Kranken und zum Schutze der Reisenden „in dieser einsamen und unwirtlichen Gegend“ gestiftet wurde, „woselbst man die Fremden oftmals ausgeraubt und erschlagen hatte“. In jenen Tagen des Mittelalters schlugen die Jtalienfahrer ganz andere Wege ein als jetzt. Weil es dort, wo wir heute eine Eisenbahn oder wenigstens eine Poststraße sehen, nur Wegverbindungen gab, die nicht viel besser waren als die Saumpfade über die Hochgebirge, so fanden sich die Leute nicht veranlaßt, diesen letzteren auszuweichen. Sie pilgerten sozusagen in der Luftlinie, denn die Schwierigkeiten oben und unten waren dem Grade nach nicht sonderlich voneinander unterschieden. Heutzutage machen wir der Bequemlichkeit wegen gern die großen Umwege mit, welche unsere Straßen um die breit ausgelagerten Gebirgsmassive herum einschlagen. So pilgerten damals die Wallfahrer, welche nach Welschland trachteten, vom Fuße des Brenners aus zumeist über das Jaufengebirge, und sodann Dimaro zu, von wo sie durch das „Waldthal“ (Val Selva), welches der Bach Meledrio durchrauscht, zum Hospiz gelangten.
Dabei überschritten sie in geringer Entfernung die etwas über dasselbe erhabene Hochfläche, über die einst Karl der Große in das Rendenathal gezogen war. – Das sind die Anfänge von Campiglio.
Die Jahrhunderte folgen einander, aber sie gleichen sich nicht. Mit der Verbesserung der Wege in den bequemeren Thalsohlen fiel für manchen die Veranlassung weg, einen siebzehnhundert Meter hohen Paß zu überschreiten. Außerdem aber änderten sich auch die Sitten und Meinungen der Menschen in anderer Weise. Die Wallfahrten in dem Umfange, wie sie früher gebräuchlich waren, verringerten sich. Die Brüder und Schwestern des Hospizes mögen sich nicht gut aufgeführt haben und das Kloster wurde zu Anfang des 16. Jahrhunderts aus verschiedenen Erwägungen aufgehoben; Madonna di Campiglio wurde ein einfaches Stift, welches der Bischof von Trient nach Gutdünken verleihen konnte. Aus jenen Tagen der Romantik sind heute nur noch die Kirche und ein Turm übrig.
Mit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts kaufte ein italienischer Holzhändler Namens Righi aus Pinzolo einen Teil der Hochwälder, mit welchen damals die Gegend von Campiglio noch allenthalben dicht bedeckt War. Es waren die Liegenschaften des ehemaligen Hospizes, die er erstand. Um die Wälder entsprechend ausbeuten zu können, legte er auf seine eigenen Kosten von Süden her eine Fahrstraße nach der einsamen Siedelstätte, die nur noch einen Zufluchtsort für arme Hirten, Köhler und Holzschläger der Umgebung bildete. 1872 benutzte dieser unternehmende Holzhändler die Baureste des alten Hospizes, um unter der Aegide der damaligen „Società alpina del Trentino“ ein Gasthaus für Touristen und Sommerfrischler zu bauen. Dasselbe fand auch, namentlich aus den Kreisen des genannten südtiroler Alpenvereins, Zuspruch, brannte aber schon im Jahre 1877 ab, und kaum, als das Gebäude aus den Trümmern neuerstanden war, starb sein Erbauer.
Inzwischen war für jene Gegend eine neue Zeit angebrochen. Bis dahin hatten sich nur wenige Touristen in die herrlichen Einöden gewagt. Nun nahm die Sektion Leipzig des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins an der Erschließung dieses wunderbaren Hochgebirgs den regsten Anteil; sie legte am Mandrongletscher eine Schutzhütte an, sie lockte Touristen und Sommerfrischler in diese so erhabenen, fast neuentdeckten Berge und Thäler.
Da hatte auch ein Deutscher, Herr Franz Oesterreicher, welcher damals das „Hotel Trento“ zu Trient besaß, die Vorzüge dieser waldigen Berggegend erkannt. Er kaufte, was von der Ansiedlung noch übrig geblieben war, und legte so den Grund zum Entstehen eines Kurorts, der zwar auch heute noch im wesentlichen nur aus Hotelgebäuden besteht, aber bereits seit einigen Jahren an Ruf mit den berühmten Ortschaften des Engadin wetteifert.
[656]Vor wenig Wochen war in den Zeitungen zu lesen, daß Herr Oesterreicher neben einem seiner Gebäude einen neuen Speisesaal herstellen lassen will, der Raum für nahezu zweihundert Personen bieten soll. Diesen Raum zu gewinnen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die alte Kirche des ehemaligen Hospizes abreißen zu lassen, für welche er, selbstverständlich auf seine Kosten an anderer Stelle eine neue und schönere herstellt. Wo früher fromme Ordensbrüder still ihre Andacht hielten, werden jetzt befrackte Saisonkellner und elegante Kellnerinnen ihr Wesen treiben.
Nicht minder verschieden, im Vergleich zu jenen längst vergangenen Tagen, sind die Gäste, die damals hier ein Obdach suchten, und die heutige Sommerkundschaft des Hauses. Damals waren es mühselige Menschen mit Pilgerstab und Pilgermuschel am rauhen Gewande, heute Besitzer großer eiserner Kassen, Gelehrte und Würdenträger, von denen mancher ein Ordensband sich an seinem eleganten Gehrock anheften könnte. Bei allem dem herrscht ein freundlicher, geselliger Ton im Hause und auch um diesen macht sich der Wirt desselben verdient. Als einer der genauesten Kenner der Gegend und hervorragender Bergsteiger, stellt er sich gern selbst an die Spitze gemeinschaftlicher Ausflüge seiner Gäste und begleitet dieselben auf die umliegenden Höhen, auf welchen sich die Einblicke in die Eiswelt der tridentinischen und lombardischen Alpen aufthun.
Ja, empfehlenswert ist ohne Zweifel Madonna di Campiglio. Wer in behaglichster Weise in Lüften, wie sie hier wehen, einen Sommer verträumen will, der gehe in dieses von den Eisfeldern der Brenta-Alpen umstarrte deutsche Haus. Hier sind alle Register des Hochgebirges aufgezogen! Wasserfälle, wie die von Valasinella, Dolomittürme, die zu den höchsten von Tirol gehören, weite Gletscher, von welchen die Granitwälle des Adamello und der Presanella überlagert sind, und nicht weniger als sechzehn Hochseen, von deren Umrahmung der hier abgebildete Nambino-See eine zutreffende Vorstellung giebt, können nach kurzem Gange erreicht werden. Lohnend ist namentlich ein Abendausflug zu dem letzteren See. Man gelangt zunächst zu seinem östlichen Teil, [658] aus dem die schäumende nach ihm benannte Sarca sich zu Thal ergießt. Wir können den Bach auf einer einfachen Brücke überschreiten und auf einem neu angelegten Weg einen Rundgang um den See machen. Doch bleiben wir am Westende stehen und warten hier den Sonnenuntergang ab. Wundervoll ist dann der Anblick. Tiefe Schatten haben sich bereits über dem Thalkessel mit dem See gesenkt, aber droben glüht in goldenem Scheine der Abendsonne das rote firnübergossene Dolomitgestein der Brentakette und klar spiegelt sich das feurige Bild in der dunklen Flut des Lago Nambino.
In Anbetracht einer solchen landschaftlichen und wirtlichen Ausstattung dieser Sommerfrische, deren „Saison“ von Anfang Juni bis Anfang Oktober reicht, erscheint es begreiflich, daß dieselbe trotz ihres kurzen Bestehens bereits von Kaisern und Königen wiederholt besucht worden ist. Von diesen Persönlichkeiten haben sich selbstverständlich allerlei Erinnerungszeichen erhalten. Zum Andenken an den Besuch des Kaisers Franz Josef erhielt die höchste Spitze der Brenta-Gruppe ihren Namen. Die Umtaufe wurde erst vor wenigen Wochen vollzogen. Auf dem Weg zur Hochfläche des Spinale gemahnt der „Kaiserin Elisabeth-Platz“ an den Besuch der Landesherrin. Tafeln erzählen von der Anwesenheit des Kaisers und der Kaiserin Friedrich. Die letztere hat auch die früher Cima Groste genannte Marie Valerie-Spitze bestiegen, auf die man schön hinschaut, wenn man vom Lager Karls des Großen gegen Osten blickt. Kaiserin Friedrich hat die Kinder des Herrn Oesterreicher gemalt und ihm die Bildnisse als Andenken geschenkt.
Die eigentliche Hochtouristik hatte merkwürdig lange diese herrliche Gegend gemieden. Zutreffend bemerkt hierüber das Specialwerk über Madonna di Campiglio von M. Kuntze und E.-Pfeiffer, daß, bevor Jul. Payer in den sechziger Jahren das Gebiet des Adamello-Presanella-Stockes durch seine kartographische Anfnahme erschlossen, dieser prächtige Teil Südtirols der Touristik fast so unbekannt war wie das Gebiet des Elborus im Kaukasus. Aber erst seit der Eröffnung der 1879 am Madrongletscher von der Sektion Leipzig des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins errichteten Schutzhütte hat sich der Zuzug der deutschen Alpenwanderer stärker geltend gemacht, von Jahr zu Jahr wachsend, und mit Freuden begrüßen auch sie das Vorhandensein eines so behaglichen Stützpunkts für ihre Alpenfahrten, wie ihn Campiglio bietet. Uebrigens besteht etwas entfernt vom „Grand Hotel des Alpes“ noch ein einfaches Wirtshaus, das Albergo alpino, früher Osteria Palu genannt, und in ersterem genießen die Mitglieder alpiner Vereine Vorzugspreise.
Die gewaltigste Bergansicht, die sich in der Nähe von Campiglio darbietet, ist die von der Fahrstraße im Nambinothal, welche sich etwas oberhalb des Dorfes Sant’ Antonio di Mavignola den erstaunten Blicken auf die firngekrönte Königin der Brentagruppe, die Cima Tosa, öffnet. Diesem höchsten Berg der gewaltigen Dolomitenkette dicht vorgelagert und ihm zugehörig, wie ein Turm zum Dom gehört, ragt die Felsenzinne des Crozzon di Brenta empor, der mit furchtbarer Steilheit in firnbedeckten Felsabsprüngen zur Tiefe fällt. Unser Bild auf S. 656 hält diesen Eindruck fest. Unterhalb der Straße braust und schäumt es empor: die Abflüsse der gewaltigen Gletscher suchen sich hier ihr Bett. Auf dem Monte Spinale, dessen aussichtsreiches Plateau von Campiglio aus in einer guten Stunde erreicht wird, läßt sich die Brentagruppe in . ihrem Aufbau prächtig übersehen. Da zeigt sich dem Auge, daß die Cima Tosa den roten Felsturm des Crozzon di Brenta wirklich überragt. Unser Bild von dieser Ansicht (S. 652 und 653) läßt auch deutlich den Zusammenhang der Cima Tosa mit der ihr zur Linken vorgelagerten Cima di Brenta erkennen. Zwischen ihnen klafft ein tiefer Spalt, die Bocca di Brenta, der als Uebergang zum Molvenosee hinüber von rüstigen Bergsteigern benutzt wird. Mut bedarf es hierzu nicht, aber fester Sohlen und ausdauernder Beine. Gewaltig und rauh ist ihm zu Seiten die Landschaft, in wilder Zerklüftung ragt das Kalkgestein, Schotterhaufen setzen sich bis in den Schnee hinein fort, Eiswülste ragen in die Wolken oder sperren hier und dort Wannenthäler ab.
Drüben erscheint in unbeschreiblicher Farbe der See von Nembia. Da einst Scheffel als einer der ersten deutschen Neuentdecker in diese Gegend kam, löste sich der Eindruck seiner düsteren Einsamkeit in einem humoristischen Lied auf, das sich in seinen Reisebildern aus den Tridentinischen Alpen findet:
„O, zürne nicht, See von Nembia,
Im felsstarr schweigenden Thale,
Daß ein Mensch dich zu besuchen kam
Auf rotgrauem Animale.
Ich kenne dich, See von Nembia,
Ich lese aus deinen Zügen;
In ungekannter Schöne willst
Du nur dir selber genügen!
Fahr’ wohl denn, See von Nembia,
Und mög’ dich der Himmel bewahren
Vor allen Töchtern Albions
Und nordischen Referendaren!“
Versetzen wir uns nun wieder nach Campiglio, so haben wir die erwähnte Hochfläche des Spinale als nächsten Spaziergang. Schön blickt man von dort gegen Nordwesten in das Thal der Seen, von welchen der Nambino- und der um fünfhundert Meter höher gelegene Serodolisee die schönsten sind. Die großartige Bergaussicht zu beschreiben wäre ein vergebliches Unterfangen. Behagliche Schlenderer werden von Rastbänken, deren nächste Umgebung die Namen hervorragender Persönlichkeiten führt, eingeladen. Große Blumenpracht entfaltet sich hier und rings umher blinken durch die Fichtenwipfel blauschimmernde Eishänge. Harzduft und Quellenhauch erzeugen in diesem Alpengarten eine Luft, die belebend wirkt wie keine Arznei. Es begreift sich demnach, wie in der Gegend sowohl als unter Fremden die Ueberlieferung sich festgesetzt hat, daß ein Aufenthalt auf diesen Höhen die Frauen verjünge.
Nadelwald umgiebt allenthalben die Fläche des Spinale. Als vor einigen Jahren eine Gesellschaft von Herren und Damen sich auf ihr erging, nahm ein Amateurphotograph die wanderfrohe Gruppe auf. Am nächsten Tage wurden die Abdrücke unter die Genossen verteilt. Nicht gering war ihr Erstaunen, als sie wahrnahmen, daß, ungesehen von ihnen, ein Bär hinter dem Waldsaum her kostenfrei sich hatte mit abkonterfeien lassen.
Meister Petz ist allerdings ein nicht seltenes Wild in diesem Hochgebirge, in das er über die lombardischen Eisfelder herüberkommt – und häufiger als die Gemse. Es halten sich unter den eleganten Sportsmen, die Campiglio besuchen, auch immer einige aristokratische Bärenjäger auf, und der Wirt seiner Gaststätten hat mehrere dieser Tiere, die in dem Hochthal erlegt wurden, als Thürhüter und dergleichen ausgestopft, wirksam aufgestellt. Ob der mitphotographierte Bär in der That noch Herr seiner Bewegungen gewesen war, oder ob er der Sippe dieser Thürhüter angehört hatte, scheint noch unklar. Ich möchte letzteres annehmen. Die Spaziergänger von Campiglio sind wenigstens noch von keinem wirklichen Bären behelligt worden.