Manchester (Meyer’s Universum)
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„Es wird die Zeit kommen, – sagt Seneca, – wo, was jetzt verborgen ist, durch Forschungen vieler Jahrhunderte an’s Licht gebracht seyn wird. Zur Untersuchung so großer Dinge reicht ein Menschenleben nicht hin; sie können erst in einer langen Zeitfolge ausgemittelt werden; die Nachkommen aber werden sich wundern, daß wir so offenbare Dinge nicht gewußt haben.“
Der Geist des Propheten ruhete auf Seneca, als er dies niederschrieb; denn es ist in Erfüllung gegangen. Die Gegenwart hat uns, – mit den Worten eines scharfen Beobachters zu reden, – in den Erscheinungen der Natur eine neue Welt erschlossen, deren Daseyn nicht blos von den Völkern des Alterthums, sondern selbst von unsern Vätern noch nicht gedacht wurde; und die Erforschung der Natur und ihrer Wunder hat zu Resultaten geführt, welche die kühnsten Ahnungen der größten Geister der Vergangenheit weit überboten. Mögen wir auf die Resultate der empirischen Forschung sehen, die sich mit dem in Raum und Zeit Erfaßlichen beschäftigt; oder auf jene der mathematischen, welche zählt, mißt und abwägt; oder auf jene der philosophischen, welche bestrebt ist, die verborgenen Gesetze zu ergründen, für die äußern Erscheinungen die innere Regel zu entdecken und sie darzulegen als Gliederungen und Thätigkeiten eines allgemeinen Organismus, der belebt ist vom Hauche der Allmacht: überall finden wir eine Fülle der Beobachtung, einen Reichthum der Forschung, eine Masse von theoretischer Wahrheit und praktischer Anwendung, so groß, daß auch der umfassendste, gebildetste, kräftigste Geist, der Alles überschauen wollte, verwirrt werden müßte. An die Stelle der frühern Armuth ist ein überschwenglicher Reichthum getreten und das Wachsen desselben ist ohne Ende. Jeder Tag verkündigt eine neue, große Entdeckung, ober eine nützliche, der menschlichen Thätigkeit neue Bahnen und Richtungen anweisende, oder ältere zerstörende, und unwegsam machende Erfindung. Jeder Morgen bringt neue Hoffnungen für die Vermehrung des menschlichen Wissens und Könnens; jeder Abend hat sie übertroffen und für jeden nächsten Tag steigern sich die Erwartungen höher. Verlangend, voller Eifer, voller Wissensdurst greift der Mensch nach dem Buche, in dem der Herr seine Weisheit und Güte geoffenbart hat. Das Buch der Natur ist aufgeschlagen; mehr und mehr wird seine Hieroglyphenschrift entziffert, gelesen und verstanden von den Menschen und nach ihren Belehrungen wird die Welt umgestaltet.
Nicht Alles, was erforscht und entdeckt wird, tritt unmittelbar in den Kreis der gemeinen Nützlichkeit; aber jede Entdeckung im Gebiete der Naturwissenschaft trägt den Keim nützlicher Anwendung in sich, und er [134] verdirbt nicht, wenn er auch Jahrhunderte, ja Jahrtausende verborgen, oder unentwickelt bleiben sollte. Hat nicht für die Anwendung des Wasserdampfs als bewegende Kraft schon Archimedes gedacht und geschrieben? wurde sie nicht schon vor Columbus zum Treiben der Schiffe vorgeschlagen? war man über die Theorie der Zugkraft auf ebner Fläche nicht schon zu Aristoteles Zeiten einig? und dennoch sind Dampfmaschinen und Eisenbahnen Dinge von Gestern. Wie es aber so mit den Entdeckungen der Vorzeit gegangen ist, so muß es auch mit vielen unserer Zeit seyn. Neben den wenigen, die täglich in’s praktische Leben übertreten, weil ihre nützliche Anwendung dem Fassungsvermögen der Menge nahe liegt, bleiben ihrer Legion als unentwickelte Keime aufgehoben für künftige Geschlechter.
Es ist ein großer Vortheil für die Gegenwart, und der immer häufigeren Anwendung der Naturforschungsresultate leistet es großen Vorschub, daß das Studium der Naturwissenschaften nicht mehr blos ein Beruf Einzelner ist. Daß es als ein Moment der allgemeinen Bildung aufgenommen wurde in die Schulen der civilisirten Nationen – dies ist das Größte, Folgenreichste, was in den letzten Dezennien für Menschencultur geschehen ist. Die Aufnahme der Naturwissenschaften im öffentl. Unterrichte hat noch den Vortheil, das, bei der Unmöglichkeit, jedem Individuum nur das zu lehren, was in der engen Sphäre seiner speziellen Lebensbestimmung ihm unmittelbar nützlich und anwendbar werden könne, der Unterricht selbst stets umfassend seyn muß, und er dadurch genöthigt wird, jenen hohen Standpunkt zu bewahren, der ihn vor dem Versinken in Pedanterie, Einseitigkeit und ausschließlicher Beschäftigung mit Einzelnheiten für immer schützt. Da er bei der Zersplitterung der Lebensberufe jedem Individuum nicht Alles seyn kann, so muß seine Tendenz stets dahin gerichtet seyn, Allen recht viel zu werden, und dies kann er nur dadurch, daß er die Einsicht schärft, den Sinn für das Schöne ausbildet, die Begeisterung für das Heilige und Erhabene weckt, den Willen veredelt und kräftigt, die praktische Thätigkeit für den zu wählenden Lebensberuf vorbereitet; kurz, daß er trachte, alle Geisteskräfte des Schülers zu heben und zu harmonischer Einheit zu verbinden, seine Organe zu cultiviren, sein Gemüth zu kräftigen und zu veredeln und ihn dahin zu führen, daß er es verschmäht, die Richtungen seiner practischen Thätigkeit auf etwas Anderes zu gründen, als auf die Gesetze der Humanität.
An den Ausspruch Göthe’s:
knüpft sich dann eben so wahr:
Hat unsere Bildung den angedeuteten Standpunkt gewonnen, bann entwickelt sich aus derselben gleichsam von selbst die Anwendbarkeit des erlangten Wissens auf die Handthierungen und Gewerbe des Lebens. [135] Unsere Bildung veredelt solche, sie hebt sie gleichsam empor auf gleicher Stufe mit der Wissenschaft. Der Handwerker, der sich innerhalb der engen Grenzen hergebrachter Formen und ererbter Erfahrungen gedankenlos und knechtisch bewegt, er wird aus der Gesellschaft allmählig verschwinden; der denkende Industrielle tritt an seine Stelle; aber auf höherer Staffel, seiner Bewegung frei, seiner Zwecke und ihrer Mittel dazu sich bewußt, herrschend über Stoff und Form, und sein Gewerbe zu einem Quell und Gefäße der geistigen Kultur gestaltend. Bei ihm treten fortgesetzte wissenschaftliche Forschung und Beobachtung in steter Beziehung zu praktischer Anwendung, und unter dieser Wechselwirkung erweitert er mit jedem Tage das Gebiet seines Wissens, die Grenzen seines Wirkens, seine Berechtigung zu höherer Geltung im Staate, und er hilft durch sein Beispiel, durch das Anregende, Nacheiferung Erweckende, den geistigen Horizont der Menschheit erweitern, hilft fördern die schönsten Zwecke der Humanität. Eine Nation aber, die unter ihren Bürgern solcher Individuen die meisten zählt, wird immmer die größte Menge von Intelligenz, Macht und Reichthum in sich vereinigen, und sie wird in der Wagschale der Politik auch am schwersten wiegen.
Diese Wahrheiten sind jetzt allgemein verstanden: daher ein Wetteifer unter den cultivirtesten Staaten, den Völkern die Mittel der Bildung in immer reichlicherm Maße zu reichen. Besonders ist man darauf bedacht, das Studium der dem praktischen Leben so großen Vorschub leistenden Naturwissenschaften auszubreiten und das Bedürfniß dazu in allen Classen zu erwecken. Die einsichtsvollsten Männer der höchsten Stände gehen dabei mit ihrem Beispiele überall voran. Fürsten, Minister, die berühmtesten Staatsmänner, ja kaiserliche Prinzen widmen ihre Intelligenz den Gewerben, ein Metternich läßt Hufeisen schmieden für das Pferd des Bauers, ein Erzherzog Johann Nägel machen für die Schuhsohle des Häuslers, und in den eigentlichen Pflanzengärten für industrielle Bildung, den Real- und polytechnischen Schulen, sehen wir die Söhne des Adels und der Mächtigen beharrlich und fleißig nach dem Wissen und den Fertigkeiten ringen, welche die Vornehmen sonst verschmäht haben.
England, das im Staatenkreise seit vielen Jahrhunderten den Reigen führt im Streben nach tüchtigen Zielen, England, das zuerst der Alleinherrschaft den Stachel nahm, das zuerst die Bürgerfreiheit neben das Königthum gesetzt, das zuerst Sklaverei und Sklavenhandel gebrandmarkt hat, das im Verkehr der Staaten unter einander das Sittengesetz wieder zu Ehren brachte; England, das jetzt die Elemente, die es für zeitgemäße wahre Volksbildung gesammelt, in ein großes System vereinigen und wirksam zu machen strebt: – das hat auch für die industrielle Bildung zuerst die Fahne erhoben, das Studium der Naturwissenschaften zuerst aus dem praktischen Gesichtspunkte aufgefaßt, es in die Schulen verpflanzt und für die polytechnischen und Reallehranstalten die [136] ersten Muster aufgestellt. Es hat auch die frühesten Früchte davon geärndtet. Die produktive Macht Englands ist in gleichem Verhältniß gewachsen, wie dort die Unterrichtsmittel gewachsen sind. Man vergleiche die britische Industrie von jetzt und ehedem nur in einigen Zweigen. Noch zur Zeit der Elisabeth wurde das Eisen von wandernden Schmieden auf den Erzlagern selbst mit den Kohlen der benachbarten Forsten in kleinen Oefen geschmolzen; jeden Sommer kamen sie, kohlten und schmolzen, was sie für das übrige Jahr bedurften, und zogen dann mit ihrer Beute heim. Das Höchste, was ein solcher Mann in einem Sommer fertigte, war 4000 Pfund. An die Stelle ihrer kleinen Heerde sind jetzt Hochöfen getreten, welche täglich 30,000 bis 40,000 Pfund Eisen ausbringen; ein Arbeiter produzirt, was sonst 160 Schmiede kaum anfertigen konnten. – Die Vorzeit kannte keine Mahlmühlen; man that mit Handmühlen das, was heute Wasser, Wind und Dampf verrichten. Ein Mensch in englischen Dampfmühlen produzirt jetzt mehr, als dreihundert Männer sonst mit doppelter Anstrengung in viel schlechterer Beschaffenheit hervorzubringen vermochten. – In einer britischen Flachsspinnerei, einem der jüngsten Kinder der industriellen Bildung und der Einführung der mathematischen Wissenschaften in’s praktische Leben, macht ein Mädchen von 12 Jahren mehr Waare, als 250 Handspinnerinnen mit dem größten Fleiße. Ein Dampfwagen zieht auf der Great-Western Eisenbahn 2500 Centner; ein Mensch leitet ihn; – früher wurden 50 zweispännige Wagen damit beladen: 50 Fuhrleute und 100 Pferde verbrauchten ihre Kräfte zur Fortbewegung dieser Masse, und da diese 10 mal langsamer geschah, so verrichtet der Locomotivenführer in der That die Leistungen von 1000 Pferden und 500 Fuhrleuten in derselben Arbeitszeit. – Ein eben so bewundernswürdiges Beispiel gibt die Baumwollindustrie. Maschinen reinigen den Urstoff, bereiten ihn vor, krämpeln, spinnen ihn; sie bringen die Fäden auf die Spuhlen; sie machen die Ketten; sie weben tausendfältige Muster; sie bleichen, färben, bedrucken, appretiren und packen das fertige Gut zum Versenden. Die meisten menschlichen Arbeitskräfte, die dazu mitwirken, sind solche, welche ehedem gar nicht verwerthet werden konnten: Kinder thun das meiste, und die Kräfte der Erwachsenen wirken mehr beaufsichtigend, als selbstthätig, oder sie sind andern Gewerben überlassen. Ein Knabe an einer Spinnmaschine fertigt mehr und besseres Garn, als 600 Spinner ehedem, ein Mann bedient 3 Maschinenwebstühle und liefert mehr Zeug, als 40 flinke Weber. Man hat berechnet, daß die ganze Bevölkerung von Großbritannien und Irland zusammengenommen nicht hinreichend wäre, auf alter Weise die Hälfte nur der baumwollenen Stoffe und Garne hervorzubringen, welche gegenwärtig das einzige Manchester in seinen Fabriken erzeugt.
Dieses Manchester, das der Wunder der industriellen Intelligenz so viele in sich schließt, ist selbst das allergrößte. Vor 100 Jahren war es noch ein kleiner, unansehnlicher Ort, der nicht einmal städtische Rechte genoß. Der alte Flecken stand am rechten Ufer des Irwell und war mit dem gegenüber liegenden Flecken Salford [137] durch eine Brücke verbunden; jetzt ist’s fast so groß als Berlin, 3 engl. Meilen lang, über 2 breit; es hat eine Viertel Million Einwohner und ist der Sitz des großartigsten Verkehrs, eines unermeßlichen Reichthums. – Manchester ist das Herz der Baumwollindustrie, der wichtigsten Manufaktur Englands. Es verarbeitet täglich 1⅛ Millionen Pfund roher Baumwolle. An 1100 Seeschiffe dienen dem Herbeischaffen des rohen Stoffs, dessen Hervorbringung in Amerika, in West- und Ostindien, in der Türkei und in Aegypten mehr als 200,000 Menschen erfordert. Durchschnittlich beträgt die Entfernung der Produktionsorte über 2000 englische Meilen, und nachdem die Baumwolle zu allen Arten von Stoffen und Garnen verarbeitet worden, geht sie größtentheils in die Länder ihres Ursprungs zurück. Mit jedem Centner Fabrikat bezahlt Manchester über 5 Centner des Rohstoffs; vier Fünftel des Manufakturwerths fließen durch tausend und aber tausend Kanäle unter die Bevölkerung, nicht blos der Stadt selbst, sondern des britischen Reichs, und helfen das Nationalcapital alljährlich um Millionen vergrößern. Was hat aber dies große Wunder der Gewerbe geschaffen? Die Vermehrung des Wissens und Könnens unter den produzirenden Classen, die gewerbliche Intelligenz, die Uebertragung der Wissenschaft und ihrer Resultate in die Mitte des Lebens. In Manchester wurde die erste polytechnische Schule, die erste Lehranstalt für die Realien der Wissenschaft gegründet. Hier entstanden die ersten Arbeiterklubbs zu gegenseitigem Unterricht, die ersten Leihbibliotheken für Handwerker, die ersten technischen Modell- und Mustersammlungen, die ersten Sonntagsschulen für Lehrlinge, die ersten öffentlichen Vorlesungen über Physik und Chemie in ihren Beziehungen auf Fabrik- und Manufakturwesen; Preisaufgaben für technische Zwecke wurden hier zuerst aufgestellt; Prämienklubbs und Gewerbvereine zuerst gebildet; – und aus allen diesen Instituten zur Verbreitung industrieller Kenntnisse und zur Kultur gewerblicher Elemente ist, unterstützt von einem verständigen Unternehmungsgeist und unter dem Schutze einer weisen Gesetzgebung, eben jene Manufakturgröße entstanden, in deren Besitz Manchester der übrigen Welt seit ¾ Jahrhunderten ein Vorbild war und noch ist. Nicht weniger als neun Millionen Centner Manufakturwaaren und Twiste, im Werthe von 460 Millionen Gulden, sämmtlich das Erzeugniß der Stadt und der Umgegend, werden jährlich von Manchester aus in allen Richtungen versendet, und von London, Hull, Liverpool u. s. w. aus ergießt sich dieser Strom des Verkehrs durch unzählige Kanäle befruchtend und belebend über das ganze Erdrund. Die deutsche Fürstin, wie die deutsche Bauersfrau, der leibeigene Sohn der afrikanischen Sonne, wie der freie Wilde in Südamerikas Wäldern, der Türke, wie der Chinese, Völker aller Zonen und aller Kulturgrade – fast jeder Mensch ist mit irgend einem Bedürfniß, oder einer Zierrath, Manchester zinsbar und steuert unbewußt und unfreiwillig zu seiner Größe und zu seinem Reichthum. Daß das Bild auch eine Kehrseite habe, daß hinter den Spiegelfenstern der Paläste der reichen Fabrikherren nichts so selten wohnt, als Seelengröße und wahre Tugend, daß Egoismus und Habsucht in arger Gestalt den Millionär, Dürftigkeit und Lüderlichkeit den Proletarier [138] hier so häufig durch’s Leben begleiten, als irgendwo, daß Herren und Diener, Arbeitgeber und Arbeiter hier gar oft in einem Kriegszustande mit einander leben und Bedürfniß und Noth die Friedensvermittler werden müssen, – das sind bekannte Thatsachen; doch ist immer zu berücksichtigen, daß in der Nähe das Bild dieser Zustände nicht so schlimm aussieht, als aus der Ferne betrachtet.
Neben der Baumwollindustrie blühet die Seidenweberei in Manchester vorzugsweise, und der Maschinenbau in colossalen Werkstätten. Die Fertigung der Maschinen beschäftigt über 20,000 Menschen, welche jährlich über 400,000 Centner Eisen verarbeiten. Für Drucken, Färben, Bleichen und Appretiren der Stoffe existiren Etablissements mit Vorrichtungen, wie sie nur hier möglich sind und sich bezahlt machen können; es gibt z. B. Bleichanstalten, die über 100,000 Centner Schwefel- und Salzsäure jährlich zur Bereitung des Chlors verbrauchen. Nirgends auch ist die Theilung der Arbeit weiter gediehen, als hier und im Zusammenwirken aller dieser Hebel der Produktion, verbunden mit der Leichtigkeit des Transports auf Eisenbahnen und Kanälen nach allen Häfen des Reichs und von da auf dem Meere nach allen Küsten der Erde, liegt eben die Möglichkeit für den hiesigen Fabrikanten, auf den Märkten der ganzen Welt, trotz der Zölle, Frachten und Unkosten, mit Vortheil feil zu halten und an den meisten die Concurrenz zu erdrücken.