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Marie von Ebner-Eschenbach (Die Gartenlaube 1898/16)

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Textdaten
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Autor: Moritz Necker
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Titel: Marie von Ebner-Eschenbach
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 492–495
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Marie von Ebner-Eschenbach.

Eine Charakteristik von Moritz Necker.
(Mit dem Bilde S. 493.)

Unter dem frischen Eindruck der nun zu Ende gehenden Erzählung „Die arme Kleine“ werden die Leser der „Gartenlaube“ gewiß mit ganz besonderem Interesse Näheres über die Persönlichkeit der berühmten Verfasserin erfahren. Marie von Ebner-Eschenbach nimmt heute den von allen litterarischen Parteien einmütig zuerkannten ersten Rang unter den deutschen Dichterinnen ein. Mit ihren ernsten und heiteren Novellen und Romanen, den „Erzählungen“, den „Dorf- und Schloßgeschichten“, mit „Božena“, „Das Gemeindekind“, „Zwei Comtessen“, „Lotti die Uhrmacherin“ – um nur einige ihrer Hauptwerke zu nennen, die geistvollen „Aphorismen“ nicht zu vergessen – hat sie sich für alle Zeiten ihre Stellung in der deutschen Nationallitteratur gesichert. Ein reicher Quell der Schönheit, Weisheit und Erhebung sprudelt aus diesen Dichtungen, und sie behaupten ihren Stand neben unseren größten Meistern der erzählenden Kunst. Wetteifert sie mit diesen Männern in Bezug auf markige Kraft der Darstellung, so verleugnet sie anderseits doch nie das echt weibliche Empfinden, welches den wesentlichsten Grundzug ihrer Persönlichkeit ausmacht.

Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach wurde am 13. September 1830 im Schloß Zdislavic bei Zdounek in Mähren geboren. Ihr Vater war der reichbegüterte Graf Franz Dubsky auf Zdislavic und Zdounek; ihre Mutter eine sächsische Freifrau von Vockel, die aber schon im Wochenbett starb und demnach von der Dichterin nie gekannt wurde. Diese wurde erst von der dritten Gattin ihres Vaters erzogen, denn auch die zweite hatte er bald durch den Tod verloren. Die Erziehung der jungen Gräfin war natürlich nach dem Geschmack jener Jahre des noch immer patriarchalischen Vormärz. Man legte zumal in der Mädchenbildung mehr Gewicht auf die äußeren Fertigkeiten und Formen des Umgangs als auf litterarische oder gar wissenschaftliche Ausbildung. Eine französische Gouvernante war unbedingt notwendig; aber der Hauslehrer war vorerst für die Söhne, nur in zweiter Linie für die Töchter des kinderreichen Hauses da. Die kleine Comtesse durfte sich mehr in Feld und Park tummeln, als hinter Klavier und Schreibtisch sitzen. Doch möchte man diese Erziehung nicht ohne weiteres als nachteilig bezeichnen, denn sie hatte neben ihren Mängeln vor dem modernen System der Ueberbürdung mit Bücherweisheit den Vorzug, daß sie der jungen Seele volle Freiheit der Bewegung gestattete.

Der Sommer wurde auf dem Lande, der Winter in Wien verbracht, wo die gräfliche Familie ihr eigenes Haus besaß, das noch jetzt (Am Hof 13) vom Haupt der Familie, dem jüngeren Bruder der Dichterin Graf Adolf Dubsky, dem hochangesehenen liberalen Mitglied des österreichischen Hauses der Abgeordneten, bewohnt wird. Die jährlichen Umzüge von der Stadt aufs Land und wieder zurück gestalteten sich für die Kinder der Familie zu höchst interessanten Fahrten, an welche die Dichterin noch im Alter gern zurückdenkt. Man brauchte damals, wo noch keine Eisenbahnen waren, mehrere Tage, um die Strecke von Zdounek und Brünn nach Wien zurückzulegen, die jetzt der Eilzug in wenigen Stunden durchfliegt. Bei Nacht machte man unterwegs Station. Das war voller Romantik und reich an Abwechslung, an der sich die rege Phantasie der jungen Comtesse ergötzte. Das Abschiednehmen und Wiederbegrüßen der Einwohner und des Gesindes hüben und drüben war ebenso anregend für das junge Gemüt, das frühzeitig mit klugen Augen um sich schaute, wie die Begrüßung der geliebten Plätzchen und Gärten in Schloß und Hof. Unsere Dichterin soll auch ein heiteres, zu satirischem Witz geneigtes Mädchen gewesen sein. Heiterkeit und kritischen Sinn hat sie sich bis in ihre alten Tage bewahrt.

In Wien waren es vor allem die Aufführungen des Burgtheaters, welche sie anzogen. Den ersten starken poetischen Eindruck erhielt sie von der bilderreichen poetischen Erzählung in Versen „Der letzte Ritter“ von Anastasius Grün. Diese lernte Comtesse Marie halb auswendig. Auch Schiller war ein Lieblingsdichter ihrer Jugend; viele Jahre später (1869) huldigte sie ihm in dem kleinen Gelegenheitsstück „Doktor Ritter“. Aber die Vorstellungen im Burgtheater begeisterten sie zu allermeist. In den Erinnerungen aus ihrer Kinderzeit, die sie zu Karl Emil Franzos’ Sammelband „Geschichte des Erstlingswerkes“ beisteuerte, erzählt sie hierüber: „Im Winter wurden wir zu unserem nicht geringen Stolze jeden zweiten Tag in das Burgtheater mitgenommen. Eine neue Welt ging mir auf, und doch war mir, als befände ich mich in meinem eigentlichen Element. Das Burgtheater war damals eine Bildungsschule ersten Ranges, die Erfindung der ‚Comtessenstücke‘“ – so nennt man in Wien solche Stücke, die in keiner Beziehung verfänglich sind und die daher von jungen Mädchen gesehen werden dürfen – „noch nicht gemacht. Noch galt das Wort Julie Rettichs: ‚Das Klassische schadet nicht.‘ Nein, wahrlich, es schadet nicht, es läutert, es erbaut und begeistert! An manchem solchen Weiheabend saß ich auf dem Bänkchen im Hintergrunde unserer Loge, der Kopf brannte mir, meine Wangen glühten, ein kalter Schauer nach dem andern lief mir über den Rücken, und ich dachte: über kurz oder lang werden deine Stücke hier aufgeführt und deine Worte werden von der Bühne wie Funken herunterprasseln. Das waren Stunden!“ ….

Mit dem Ideal, ein großer dramatischer Dichter zu werden, wuchs also Comtesse Dubsky heran. Sie war unermüdlich thätig und füllte Bände mit ihren Versen, so daß sich schließlich ihre gute Mutter bei einer Autorität im Fache der Dichtkunst Rats erholen mußte, um ins klare über den Wert der dichterischen Neigungen ihrer Tochter zu kommen. Diese Autorität war Franz Grillparzer, der damals – es war im Jahre 1847 –, als größter Dichter Oesterreichs allgemein verehrt, in Wien lebte und zur

[493]

Marie von Ebner-Eschenbach in ihrem Arbeitszimmer.
Nach dem Leben gezeichnet von G. von Michalkowski.

[494] Gräfin Dubsky in freundlichen Beziehungen stand. Grillparzers Urteil ist in folgendem, denkwürdigem Briefe erhalten, der hiermit zum ersten Male der Oeffentlichkeit übergeben wird:

„Gnädige Gräfin! Ich wollte, früher durch eigene Unpäßlichkeit verhindert, mir gestern die Ehre geben, Ihnen meine persönliche Aufwartung zu machen, fand Sie aber nicht zu Hause. Da ich nun für die nächsten Tage über meine Zeit nicht disponiren kann, will ich nicht säumen, schon jetzt wenigstens schriftlich meine Meinung über die Gedichte Ihrer verehrten Tochter abzugeben.

Die Gedichte zeigen unverkennbare Spuren von Talent. Ein höchst glückliches Ohr für den Vers, Gewalt des Ausdrucks, eine, vielleicht nur zu tiefe, Empfindung, Einsicht und scharfe Beurtheilungsgabe in manchen der satyrischen Gedichte bilden sich zu einer Anlage, die Interesse erweckt und deren Kultivirung zu unterlassen wohl kaum in der eigenen Willkühr der Besitzerin stehen dürfte.

Was noch fehlt ist jene Reife, die den Dichter erst zum Künstler macht, jene durchgehende Verständlichkeit, die den Gedanken ungehindert auf den Zuhörer (oder wohl gar Leser?) überträgt. Junge Frauenzimmer sind jungen Männern von gleichem Alter an Verstand und Einsicht gewöhnlich um mehrere Jahre voraus; aber eines fehlt ihnen, was uns unsere mitunter abgeschmackten methodischen Studien geben: Ordnung in den Gedanken. Daran fehlt es zum Theile diesen Gedichten, namentlich wo sie zu schildern suchen und die Empfindung der Begebenheit störend in den Weg tritt.

So viel im Allgemeinen und in Eile. Vielleicht ist es mir gegönnt Einzelnes und Näheres mündlich nachzutragen.

Hochachtungsvoll ergebenster  Grillparzer.“[1]

Nun hatte die junge Dichterin Ruhe vor jenen Spöttern, die von vornherein alle litterarische Frauenarbeit für Blaustrümpferei erklären. Aber freilich war von dieser prinzipiellen Anerkennung einer vorhandenen Begabung bis zu den ersten Erfolgen in der Oeffentlichkeit noch ein langer, weiter Weg zurückzulegen.

An ihrem achtzehnten Geburtstage, am 13. September 1848, heiratete sie den Reichsfreiherrn Moriz von Ebner-Eschenbach, einen Vetter, der gegen fünfzehn Jahre älter war als sie, den sie seit der Jugend kannte und sehr liebte. Baron Ebner war zu der Zeit noch Hauptmann in der Genietruppe und zugleich Lehrer der Physik und Mathematik an der Kadettenschule; er war ein Mann von umfassender Bildung, auch philosophisch geschult, insbesondere ein Verehrer Schopenhauers. Im Laufe seiner Dienstzeit stieg Baron Ebner zu hohen Würden empor, wurde General im Geniekomitee, wo er sich viele Verdienste erwarb; 1874 trat er mit dem Titel eines Feldzeugmeisters und „Excellenz“ in Ruhestand und begab sich auf große Reisen, die ihn unter anderm auch nach Persien führten. Er starb im 84. Lebensjahre im Februar dieses Jahres. Als die Wiener Kadettenschule nach Klosterbruck bei Znaim – wenige Jahre nach 1848 – verlegt wurde, mußte das junge Paar, das sich schon im Ebnerschen Familienhause (Rotenturmstraße 27) wohnlich eingerichtet hatte, nach Klosterbruck übersiedeln und dort ungefähr zehn Jahre bleiben, bis Baron Ebner nach Wien zurückberufen wurde.

Da die Ehe kinderlos blieb, konnte sich die junge Baronin Ebner mit rückhaltlosem Eifer ihren litterarischen Studien an der Seite ihres gelehrten Gatten widmen. Sie war immer eine Frühaufsteherin und verstand stets ihre Zeit reich auszunützen. Zu den gründlichen Kenntnissen in der Geschichte nicht bloß des österreichischen und deutschen Vaterlandes, sondern auch insbesondere in der englischen Geschichte und der französischen Revolutionsepoche, zu der großen Belesenheit, welche die Schriften unserer Dichterin ganz unauffällig verraten, dürfte der Grund schon in jenen ersten stillen Jahren ihres glücklichen Ehelebens gelegt worden sein. Viel Anregung in litterarischer Beziehung hatte sie einem Kollegen ihres Mannes in Klosterbruck zu verdanken, der sich später als Dichter einen geachteten Namen erwarb: Josef Weilen. Aber man kennt unsere Dichterin schlecht, wenn man annehmen wollte, daß sie in ihrer Bücherwelt jemals aufzugehen vermochte. So lange sie lebt, ist ihr die Gegenwart wichtiger als alle abstrakte Vergangenheit gewesen; ein thätiges Eingreifen und Wirken im Dienste der Liebe erschien ihr stets wertvoller als jedes in gewissem Sinne doch nur selbstische Wissensstreben. Immer hatte sie das Bedürfnis, mit ihrer ganzen Zeit zu leben. Die Vorgänge auf dem großen Welttheater der Politik, dem sie durch den Beruf ihres Gatten und den ihres Bruders näher als viele andere Frauen stand, verfolgte sie zeitlebens mit großer Teilnahme; aber mit keiner geringeren die Entwicklung von Kunst, Theater und Litteratur, und zwar bis auf den heutigen Tag, wie auch ihre Schriften bezeugen. Bei dem aufs große Ganze gerichteten Sinn verlor sie indes nie die Empfänglichkeit für das kleine, aber so sehr reale Leid des Einzelnen. Hatte sie nicht für eigene Kinder zu sorgen, so schaffte sie sich Sorgen für die Kinder des verwitweten Bruders und half sie halb und halb mit auferziehen; ein andermal mußte einer erkrankten Schwester oder Freundin beigesprungen werden, und an Armen und Bedürftigen aus dem Volke, die ihr Herz rührten, hat es auch nie gemangelt, weder in Zdislavic noch in Wien. Und wer die vielen Kinderscenen in Erinnerung hat, die in den Erzählungen unserer Dichterin vorkommen (die allerschönste wohl in „Nach dem Tode“), der wird sich sagen, daß diese Frau, auch ohne selbst Mutter geworden zu sein, mütterliche Erfahrungen in Fülle gewonnen haben muß. In der That ist der erhabene Trieb der Mütterlichkeit der hervorragendste Charakterzug in der ganzen Persönlichkeit Marie Ebners, und sie durfte an ihrem sechzigsten Geburtstage mit Recht in stolzem Jubel bekennen: „Die Kinderlose hat die meisten Kinder“.

Die Fünfziger- und Sechzigerjahre verflossen der Dichterin im angestrengten Bemühen um die dramatische Kunst. Wie viele dramatische Versuche im Dunkel ihrer Schubladen noch verborgen liegen mögen, wissen wir nicht; vielleicht hat sie sie alle vernichtet. Bekannt geworden sind nur drei Dramen von ihr: „Maria Stuart in Schottland“ (1860), „Marie Roland“ und „Das Waldfräulein“. Das erste und das letzte dieser Dramen wurde auch – jenes 1860 in Karlsruhe, dieses 1872 im Wiener Stadttheater – aufgeführt; aber das „Waldfräulein“ wurde nicht einmal gedruckt und ist derzeit ganz unerreichbar. Außerdem wurden kleine Einakter („Die Veilchen“ und „Doktor Ritter“) gelegentlich gespielt. Zu einem durchschlagenden Erfolg gelangte jedoch Frau von Ebner mit ihren dramatischen Versuchen nicht. Woran das lag? Ohne Zweifel hat sie dramatische Begabung. Ihre Erzählungen gliedern sich häufig genug in Akte, wie ihr Meisterwerk „Nach dem Tode“; oder sie nehmen in den ergreifendsten Scenen dramatisches Leben an, wie die herrliche Novelle „Totenwacht“ aus der letzten Zeit. Erst ganz kürzlich, am 29. April d. J., hat Frau von Ebner am Burgtheater mit dem schönen Einakter „Ohne Liebe“ einen zweifellos dauernden Erfolg errungen. Dennoch verweist ihre eigentliche Begabung sie auf die Form der Erzählung. Bis sie sich jedoch zu dieser Erkenntnis durchrang, hatte Frau von Ebner einen wahren Leidensweg durchzumachen und oft genug die Stimmung, an ihrem Erfolg zu verzweifeln. Man hört es aus ihren Dichtungen heraus, daß sie – die doch vom Schicksal in so vieler Beziehung vor vielen anderen Dichterinnen so reich begünstigt wurde – ihren Teil an Lebensprüfungen gründlich durchgekostet hat. Denn auch als sie mit ihren ersten Novellen und mit der heutzutage allgemein als einem der besten deutschen Romane anerkannten ersten größeren Erzählung „Božena“ (1876) hervortrat, blieb sie viele Jahre ohne Anerkennung, und sie mußte immer höher und höher schreiten, mit jedem neuen Werke sich selbst zu übertreffen streben, bis sie als das gewürdigt wurde, was sie in Wahrheit ist.

Erst mit dem Uebertritt in das Fach der Erzählung hatte Frau von Ebner sich selbst gefunden: das war die Form, in der sie das Leben mit jener Klarheit, jener Heiterkeit und Tiefe spiegeln konnte, die ihre Poesie auszeichnen. Sie brauchte nicht mehr in die ferne Vergangenheit zu schweifen, um brauchbare Stoffe zu finden: ihre nächste Umgebung, die Menschen in Schloß und Dorf, im slavischen Mähren und im deutschen Wien, boten ihr die Modelle; sie brauchte nur um sich zu sehen und hineinzugreifen ins volle Menschenleben, und was sie ergriff, gestaltete sich im Läuterungsfeuer ihrer Phantasie zu ewiger Poesie. Als endlich im Publikum die Erkenntnis des Wertes ihrer Kunst durchgedrungen war – meines Erinnerns waren Ausschlag gebend „Die Freiherren von Gemperlein“ und die kostbaren [495] Brieflein der „Comtesse Muschi“, die in den ersten achtziger Jahren erschienen – da ward die Dichterin mit Bitten um neue Erzählungen bald so überhäuft, daß sie noch viele Male fleißiger hätte sein müssen, als sie schon war, um allen Genüge zu leisten! Der Erfolg stellte sich zwar spät ein, aber doch noch zu einer Zeit, wo Frau von Ebner in der vollen Kraft ihrer Jahre stand und sich ihrer Kunst ohne Beschwerden widmen konnte. Und sie that es mit voller Hingabe und Begeisterung, vermied nach Möglichkeit alles, was sie in ihrem Lebensberufe stören könnte.

In den letzten zwei Jahrzehnten lebte sie im Winter in Wien, im Sommer zuerst in St. Gilgen, dann oft bis zur Weihnachtszeit in Zdislavic. So recht fleißig konnte sie nur auf dem Lande sein. Da blieb sie – gewöhnlich in Gesellschaft ihrer Freundin, der geistvollen Frau Ida von Fleischl, der Mutter eines angesehenen österreichischen Physiologen, Ernst von Fleischl – ohne Störung bei ihrem Schaffen. In den schönen schattigen Laubgängen des für Fremde abgeschlossenen Parks zu Zdislavic kann sie sich ihren Phantasien und Gedanken überlassen, gewöhnlich in den Morgen- und Vormittagsstunden. Die Nachmittage sind der Zerstreuung gewidmet. In Wien fühlt sich Frau von Ebner von gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sie doch bei ihrer großen Menschenliebe nicht leicht abzulehnen vermag, in der zur Arbeit nötigen Sammlung vielfach gestört. So lange ihre Freundin, die Dichterin Betty Paoli lebte (die vor wenigen Jahren erst im hohen Alter von achtzig Jahren starb), verbrachte Frau von Ebner die Nachmittage der ungeraden Monatstage bei ihr. In der Vorrede zu den Gedichten aus dem Nachlasse Betty Paolis hat sie diese Nachmittage sehr anmutig geschildert. Es wurde zu dritt – Frau Ida, Betty und die Baronin – scheinbar Karten gespielt; in Wahrheit aber brachten die Gespräche jede Partie zum Stillstand: sie waren interessanter.

Bei der Arbeit hat wohl selten jemand unsere Dichterin gesehen, denn vormittags, wo sie sich ihr widmet, ist sie für niemand zu sprechen. In ihrem Schreibzimmer in Wien, dessen Abbildung wir unseren Lesern bringen, sieht es daher immer „aufgeräumt“ aus. Der Schreibtisch unterscheidet sich nicht besonders von dem jeder anderen Dame aus ihren Kreisen; er entbehrt vollständig jenes malerischen Reizes der Unordnung, den Dichterschreibtische aufzuweisen pflegen. Im ganzen Zimmer deuten nur die schönen Bücherschränke auf beiden Längsseiten, in denen die Meisterwerke der Weltlitteratur in schönen Einbänden hinter blitzblanken Scheiben nebeneinander stehen, auf die Neigungen und die Beschäftigung der Bewohnerin. Ein Manuskript der Dichterin ist mir hier nie zu Gesicht gekommen. Aber man weilt nur zu gern in diesem mit edlem Geschmacke eingerichteten Raume, denn an allen Wänden und in jedem Winkel stehen, liegen oder hängen Gegenstände, an die sich irgend eine persönliche Erinnerung der Dichterin knüpft: die Gemälde oberhalb der Bücherschränke sind ältere Familienporträts; da liegt eine gestickte Mappe, dort steht ein schöner Leuchter, da ruht ein Werk in schönem Einband mit der Widmung des Verfassers. Es waltet ein wahres Behagen in diesem Zimmer, das noch tiefe Fensternischen hat, weil das Haus alt ist, indes in den neuen Wiener Häusern die Mauern so dünn als nur möglich gebaut werden.

Einer ganz besonderen Merkwürdigkeit der Ebnerschen Wohnung wird man gewahr, wenn man sich eine kleine halbe Stunde aufhält. Da hört man plötzlich von verschiedenen Seiten her das lieblichste Glockenschlagen. Die Dichterin ist nämlich, wie jeder weiß, der ihre Erzählung „Lotti, die Uhrmacherin“ kennt, eine große Freundin der Uhrmacherkunst. Sie hat sie gründlich gelernt und im Laufe der Jahre eine Uhrensammlung mit vielen Seltenheiten und Merkwürdigkeiten Stück für Stück erworben. Diese Sammlung ist in einem kleinen Kasten, der in den Winkel zweier Wände hineingebaut ist, in ihrem Arbeitszimmer sichtbar. Hat Frau von Ebner einmal Muße und Stimmung, so nimmt sie gern ihre Kostbarkeiten heraus und erklärt dem Gast ihre Wunder der Uhrmacherkunst. In jenem Kasten sind die Uhren still, nicht aufgezogen, aber in der ganzen Wohnung, die aus vier Zimmern außer den Nebenräumen besteht – mit etwas düsterem Lichte, denn die Fenster gehen in das enge „Rabengäßchen“, einen der ältesten Teile der Stadt Wien –, sind auf den Kaminen, vor den Spiegeln, auf Etageren Uhren aufgestellt, jede ein Wunderwerk in ihrer Art, und diese schlagen und läuten zu allen Viertelstunden, vor- oder hintereinander, wie es just kommt, denn auch unsere Dichterin hat ebensowenig wie Karl der Fünfte alle Uhren zu genau gleichem Gange zwingen können …

Und da sitzt man denn in der Schummerstunde, die Marie Ebner ebenso liebt wie Theodor Storm es that, um 4 Uhr nachmittags, wo sie zu empfangen pflegt, im dunklen Salon vor ihr und freut sich des Glückes, einmal wieder mit ihr plaudern zu dürfen. Sie versteht es gut, zu plaudern, und hört sehr gern zu, wenn man ihr erzählt. Dabei ist sie von einer Einfachheit, Natürlichkeit und Wärme, daß jede Befangenheit, auch vom Neuling, in ihrem Kreise bald schwindet. Diese gewöhnlich in schwarzer Seide gekleidete, eher kleine als große, überaus zarte Frauengestalt mit dem feinen ausdrucksvollen Kopfe zwingt uns durch ihre eigene Art, einfach, wahrhaft, natürlich zu sein, wenn wir mit ihr sprechen. Wohl ist auch sie für den Ausdruck der Begeisterung für ihre Werke empfänglich, und sie freut sich unbefangen und offen, wenn man sie lobt; aber sie hört ebenso rasch und fein heraus, wenn die Schmeicheleien nichts mehr als Artigkeiten sind, und versteht es, dem Gespräch rasch eine andere Wendung zu geben. Denn Marie Ebner ist von einer tiefen, nur allzu selbstkritischen Bescheidenheit; sie beschämt einen mitunter mit ihrer Demut. Fühlt sie sich im Urteil über andere zu einem Tadel genötigt, so sagt sie das Herbe am liebsten in scherzender Einkleidung. Ueberhaupt liebt sie die heiteren Menschen, einen guten, frischen Witz viel mehr als die Sauertöpfe. Was sie im „Gemeindekind“ dem Schulmeister Habrecht in den Mund legt: „Traurigkeit ist Stille, ist Tod; Heiterkeit ist Regsamkeit, Bewegung, Leben“ – das ist ihr so recht aus der eigenen Seele geflossen. Thätigkeit – unermüdliche, unverdrossene Thätigkeit: das ist die erste und letzte Forderung dieser großen sittlichen Persönlichkeit an sich selbst und an die Menschheit. Thätigkeit auch im engen Kreise erscheint ihr wertvoller als alle noch so glänzend scheinende Existenz, die sich nur mit Worten begnügt oder in der Beschaulichkeit aufgeht. Die Thätigkeit im Dienste des Wohles der anderen erscheint ihr sehr viel wichtiger als alle theoretischen Probleme. Das Evangelium geläuterter Menschlichkeit, das Goethes Iphigenia verkündet, beseelt nicht nur ihre Werke, es hat ihre ganze Lebensarbeit geadelt.



  1. Das Original dieses Briefes befindet sich im „Grillparzer-Archiv“ der Wiener Stadtbibliothek, wohin ihn die Dichterin nebst einem zweiten Brief Grillparzers gestiftet hat. Beide Briefe zusammen werden demnächst in dem Jahrbuch der Grillparzer–Gesellschaft zur Veröffentlichung gelangen. D. Red.