Mary
Mary.
Sir William Fletscher war ein berühmter Advocat gewesen und mit den Früchten gewonnener und verlorner Prozesse – beinahe 11/2 Millionen Thalern – auf sein großes Landgut im Norden Englands gezogen, um hier seines Goldes und Lebens froh zu werden. Daran hätte ihn auch Niemand gehindert; denn das Bewußtsein seiner Thaten, so schlecht sie sich auch mit Moral und Christenthum vertrugen, störte ihn nicht: er hatte ja Alles im Dienste der Gerechtigkeit „gesetzlich“ erworben – wenn nicht sein einziges Kind, ein wilder Knabe, mit der Zeit groß und ihm eine lebendige Strafe für seine Grundsätze geworden wäre. Vater und Mutter waren „geldstolz“ und hielten es deshalb auch unter ihrer Würde, ihren einzigen Erben – Dudley – in seinen Wünschen und Launen zu hindern, „er hatt’s ja dazu.“ „Arme Leute mögen ihre Kinder so erziehen,“ sagte der alte Fletscher, „daß sie den Mantel nach dem Winde hängen können, mein Dudley kann den Mantel tragen wie’s ihm beliebt.“
So wuchs der Junge wie ein echtes „Goldsöhnchen“ auf. Der Hauslehrer war einer seiner Diener, der ihm zwar nicht die Stiefeln zu wichsen brauchte, dafür aber desto mehr Mühe hatte, ihn nur etwas aus dem Gröbsten herauszupoliren. Der Junge wäre unerträglich gewesen, wenn er mit seiner Verschwendung, seinem Eigensinn nicht eine natürliche Gutmüthigkeit und sogar gelegentlich ein gefühlvolles Herz verbunden hätte.
In seinem neunzehnten Jahre fing er sogar an, oft sehr ernst und sinnig zu werden. Er suchte oft die Einsamkeit, ging oder ritt des Nachts aus, arbeitete am Tage bei verschlossener Thüre und benahm sich überhaupt so seltsam, daß ihn der Hauslehrer für verliebt erklärte und gegen den Vater den Verdacht laut werden ließ, Dudley mache im Geheimen – Verse. Letzteres hielt jedoch „der Alte“ für eine so arge Verläumdung, daß er den Hauslehrer aufforderte, entweder Beweise zu schaffen oder dem Sohne dafür Abbitte zu thun. Was die Verliebtheit betreffe, so wolle er ihm dankbar sein, wenn er Beweise schaffe: hier müsse man bei Zeiten einschreiten, da 10 Meilen rund herum kein Mädchen wohne, das zu seines Sohnes „Gelde“ passe. (In England ist die Phrase: „Sie paßt nicht für mein – Geld“ im Munde von Heirathscandidaten und „Verliebten“ sogar sprüchwörtlich geworden.)
Der Hauslehrer, aufgebracht über den Unglauben, der seinem Scharfsinne begegnete, setzte sich selbst zu einem Untersuchungs-Comité nieder, um zunächst Beweise zu schaffen. So schlich er eines Nachts seinem Schüler nach, bemerkte, wie derselbe sich in die Gebäude eines der Fletscher’schen Pächter verlor, dort eine Melodie pfiff und kurz darauf mit einer weißen Gestalt im benachbarten Parke verschwand.
Der Hauslehrer ging nach Hause und verfiel mehrere Tage lang in tiefes Nachdenken, um Beweise seiner Behauptungen [200] zu schaffen, die seinen Brodherrn recht derb überführen und beschämen sollten.
In einer schwarzen, stürmischen Nacht, während die ganze Familie Fletscher, Vater, Mutter und Sohn – in einem eifrigen Familiengespräche begriffen waren, machte er sich auf nach dem Pachtgute, pfiff, so gut er konnte, dieselbe Melodie, die sein Zögling als Zauberformel gebraucht hatte, und wartete der Dinge, die darauf folgen sollten. Der Erfolg war überraschend. Zwar näherte sich keine weiße Gestalt und flüsterte süße Worte der Liebe, aber zunächst kam ihm ein mächtiger Peitschenhieb auf die Nase, die diesen kostbaren Theil des Gesichts ziemlich zerspaltete, und seine sofortige Flucht wurde von so viel Hieben, die auf den Rücken regneten, beschleunigt, daß er sich selbst wunderte, wie schnell er wieder zu Hause war.
Am nächsten Morgen wunderten sich die Fletscher’s insgesammt nicht wenig über die Nase des Hauslehrers und sein ganzes Aussehen, hielten es aber unter ihrer Würde, von so einer untergeordneten Creatur weitere Notiz zu nehmen. Nur durch einen unerwarteten Besuch wurde diese Nase als Knoten einer dramatischen Entwickelung auf einige Augenblicke wichtig. Der Besitzer derselben ward zu Sir William Fletscher gerufen, der ziemlich aufgeregt auf und abging. Nachdem er Nase und Hauslehrer ziemlich genau angesehen, ließ er seinen Pächter Thomas Wickley eintreten. Letzterer trat ganz so auf, wie aufgebrachte Väter auf dem Theater.
„Sie behaupten also,“ fragte Fletscher, „daß mein Sohn Ihrer Tochter Marie eine ungeziemende Aufmerksamkeit schenke?“
„Das that ich und thu’ ich!“
„Und daß Sie ihn dafür geprügelt haben?“
„Ja – und ich denke, er selber wird die Beweise davon noch an sich tragen. Ich zeichnete ihn erst vorige Nacht.“
Fletscher lachte. Wickley sah ihn mit der größten Entrüstung an.
„Entschuldigen Sie,“ unterbrach sich Fletscher, „mein Lachen erscheint Ihnen nicht am Orte; aber ich werde Sie sogleich von Ihrem Mißverständniß überzeugen – “
„Das können Sie nicht!“
„Hätten Sie ihn wirklich geschlagen, ihn meinen Sohn, würde ich anders vor Ihnen stehen, darauf verlassen Sie sich. Mein Sohn hat gestern Nacht nicht das Haus verlassen. Aber sehen Sie sich mal diesen Gelehrten hier an!“
Wickley musterte den Hauslehrer, schüttelte aber mit dem Kopfe, zog ein Packetchen aus der Tasche und, indem er es Fletscher überreichte, murmelte er mürrisch: „Ich weiß nicht genau, wen ich geprügelt habe; daß aber Jemand etwas Gehöriges von mir bekommen hat, ist ein Factum. Ich weiß auch nicht, wer dies hier geschrieben hat; aber Sie wissens vielleicht.“
Der alte Advocat entfaltete das Packetchen, zog ein zierliches Briefchen mit gepreßten Kanten hervor, überflog es und rief: „Das ist meines Dudley Hand, und es hat wahrhaftig die schauderhafteste Aehnlichkeit mit Poeterei.“
Der Hauslehrer wollte etwas sagen, der alte Advokat riß aber so heftig am Klingelzuge und befahl so heftig, Dudley solle sogleich zu ihm kommen, daß ihm die bescheidene Hinweisung auf seinen psychologischen Scharfsinn, die er auf der Zunge hatte, in den Sprachwerkzeugen stecken blieb.
Dudley trat ein und der alte Fletscher las mit Hohn und Wuth:
Zuviel verlangt! Ich trag’ es nicht,
Mary, von Dir, von meinem Leben,
Von meiner Seele Sonnenlicht
Zu scheiden und mich zu ergeben.
Ergeben, wem? Der Willensmacht,
Dem rohen Heischen unsrer Väter?
Sie lieben nicht, ihr Kopf ist Nacht:
Und unsre Herzen glühn im Aether.
Was Thau der Blume auf dem Feld,
Dem Wasser aber nächtliche Sterne,
Was Gott der ganzen, großen Welt,
Das bist Du mir in Näh’ und Ferne;
Doch wie der Thau die Blume tränkt,
Die Sterne sich im Flusse baden,
Und Gott sich liebend niedersenkt
Zu wandeln auf der Erde Pfaden;
So komm auch Du, Du liebes Licht
Zu mir hernieder ohne Zagen!
Der Trennung Schmerz ertrag’ ich nicht.
Mich zwingt kein Gott, Dir zu entsagen.“
„Hast Du das Zeugs geschrieben?“ fragte der Vater, nachdem er diese Zeilen mit recht grausamer Bedächtigkeit und mit den schrecklichsten Betonungen laut gelesen.
„Das habe ich,“ antwortete Dudley zugleich vor Scham und Zorn erröthend.
„Was hast Du damit sagen wollen? Daß Du dieses Mannes Tochter liebst und heirathen willst?“
„Kein Gentlemen wird einen andern Sinn darin finden.“
„Heirathen?“ rief Fletscher der Alte, sich hoch aufrichtend, als wollte er persönlich die Höhe seines Vermögens damit andeuten. „Unerzogner Bube!“
Der junge Fletscher fuhr bei diesen Worten auf seinen Vater zu, als wollt’ er Hand an ihn legen, besann sich aber sogleich, und trat einen Schritt zurück, indem er sagte: „Ich will die Antwort auf einen solchen Titel schuldig bleiben“ und verließ das Zimmer.
„Poeterei und Liebe zu einer Pachterstochter,“ rief der Vater, „das muß ich an meinem einzigen Sohne erleben!“ –
Mary’s Vater ward mit nichtigen Redensarten von Satisfaction wegen der seiner Tochter angethanen „Schmach“ (da Heirathen in diesem Falle nach den Gesetzen der „guten Gesellschaft“ für eine reine Unmöglichkeit galt) entlassen, Dudley eingeschlossen und das Weitere zwischen Vater, Mutter und Hauslehrer feierlich berathen.
Das Ergebniß dieser geheimen Sitzung ward schon den folgenden Morgen bekannt und ausgeführt. Der Hauslehrer wurde mit einer Gratification, womit er sein Nasenbein wieder in Ordnung bringen lassen sollte, entlassen und der Sohn in ein ehrenvolles Exil geschickt.
„Er ist alt genug, um etwas zu lernen,“ hatte der alte Advocat die Sitzung geschlossen, „er kann gleich anfangen, bei Dr. Calomel Medicin zu studiren, und bei der Tante Mrs. Hays wohnen. London ist weit genug und die Medicin ein gutes Mittel, ihn von solchen Absurdidäten, wie Liebe und Poeterei, zu curiren.“ – –
Dudley eröffnete also seine Studien unter der Leitung des berühmten Dr. Calomel in London und zugleich seine [201] „gesellschaftliche“ Laufbahn unter der Weisung seiner jungen Tante Mrs. Hays. Dr. Calomel lehrte ihm das Geheimniß, Dosen einzugeben, Mrs. Hays – Dosen einzunehmen.
Diese Dame, elegant, reich und schön, hatte großen Einfluß auf Alles, was man Ton und gute Gesellschaft nennt. In ihrem Hause drängten sich vornehme Herren und Damen; ihr Wille galt als Gesetz zunächst in ein Dutzend anderen Familien, die durch ihr bloßes Beispiel mit eisernem Scepter über die ganze „Schicht“ der guten Gesellschaft, in die sie nach englischen Kastengesetzen gehörten, herrschten. Sie war in der That ein Musterbild von Weltdame. Nie war ein Fleckchen auf ihren schneeigen Charakter gefallen. Mit eisiger Kälte und Härte verurtheilte sie jede kleinste Abweichung von dem Pfade der gesellschaftlichen Tugend. Dabei war sie unstreitig die vollkommenste Lehrerin des Lasters, die jemals als Dienerinnen der Hölle auf Erden lebten. „Den Schein retten“ ist Alles, unter dem Heiligenscheine hochkirchlicher Gläubigkeit und hohen guten Gesellschaftstones ist Alles erlaubt. Dudley war ganz verwirrt und entzückt. Wenn er den Glanz seiner Tante mit dem bescheidenen, einfachen Landmädchen verglich, sah er eine ungeheure Kluft, die ihn für immer von seiner ersten Liebe zu trennen schien. Dann schrieb er ihr wohl um so längere und glühendere Briefe, um sich selbst zu täuschen und Mary antwortete in noch ausführlicheren und tiefer und immer tiefer aus ihrem Herzen quellenderen; aber er kam dabei auf dem glänzenden Pfade des Lasters unter der vollkommensten Leitung immer weiter, bis die Briefe an Mary allmählig kürzer und seltener wurden und endlich ganz aufhörten.
Wie die arme Marie sich Tag für Tag und Nacht für Nacht abhärmte, bis ihre feinen, rothen, frischen Wangen von Thränen weggewaschen waren – die Leiden eines solchen Herzens, immer still verzehrend und nagend, ohne Abwechselung und Linderung, im Gegentheil nur gesteigert und verschärft durch gelegentliches rohes, gutgemeintes Dreinreden und „Keifen“ der Aeltern, welche die Quelle bald ahnten, das läßt sich schwerlich schildern. Der Sommer verbleichte zum Herbste, der Herbst fror zum Winter zusammen, Tage und Tage, Wochen und Wochen, Monde und Jahreszeiten waren in träger, schwerer Langsamkeit dahingegangen ohne ein Wort von Dudley. Nur zuweilen hatten die Aeltern absichtlich Mittheilungen über ihn besprochen, wie er in London allmählig ein Trunkenbold, Schwelger und Lustjäger geworden, und wie er auf diesem Wege die reißendsten Fortschritte mache. Nach einer solchen Beurtheilung ihres unbefleckten Ideales, die mit besonders rohen Zurechtweisungen begleitet wurde, begab sie sich eines Nachts in ihr Schlafzimmer, stürzte schluchzend auf die Kniee, schrieb einige Zeilen an ihre Aeltern, hüllte sich in die nöthigsten Kleider und eilte in die kalte, finstre Nacht hinaus. Sie wollte fort, sie mußte fort, sie wollte Dudley sehen, ihn zurückrufen in die Zeit ihrer Unschuld, seiner Poesie, seiner Reinheit, seiner Liebe. Daheim war keine Hoffnung mehr, kein Leben.
Durch die lange, schreckliche, eisige Nacht hin eilte die arme Unglückliche immer die Straße hinauf, die in die Hauptstadt führt, durch weite starre Felder und durch Hügel und Thäler, die sich alle meilenweit auszustrecken und mit ihr zu gehen schienen, um sie nicht vorwärts kommen zu lassen. Und wie die dürren Gerippe riesiger Bäume im Winde zitterten und krachend ihre dürren Arme gegeneinander rieben!
Ruhige Pächtereien lagen schlafend dazwischen, hier und da noch mit einem schwachen Lichte aufblickend, vom großen Hunde bewacht, der eifriger und eifriger bellte, je näher sie kam, und sich erst lange nach dem Verhallen der letzten Schritte zufrieden gab. Durch Hügel und Thal, durch Wald und Feld immer trieb sie eine innere dämonische Gewalt vorwärts. Keine Musik, kein Geisterspuk der Nacht erschreckte sie. Die Wetterfahnen kreischten vergebens, alte Bäume zogen ihr vergebens drohende Gesichter. Sie sah nichts davon, ihre ganze, fieberisch zitternde, schmerzgequälte Seele war bereits in London und suchte ängstlich in den Straßenlabyrinthen herum, das Haus zu finden, wo er wohnte. Das kleine furchtsame Alltagsmädchen schritt als weibliche Heldin durch die Nacht. Der Morgen dämmerte herauf, die Sonne stieg empor, ohne ihre Pflicht zu thun, Wärme auf das ermüdete, vor Kälte und innerm Fieber zitternde Mädchen herabzusenden; endlich ward es auch Mittag – sie wankte, schwankte, ächzte immer noch vorwärts, doch langsamer und immer mühseliger, bis ein Wagen, der langsam vor ihr vorbei gefahren war, still stand und sie zu erwarten schien. Ein alter, glatzköpfiger Gentlemen, in seinem Buffalo-Pelze fast ganz unsichtbar, trippelte herbei und lud das arme, schöne, von Frost, Hunger und innern Leiden zerquälte Wesen mit dem herzlichsten Tone echter Theilnahme ein, sich seines Wagens mit zu bedienen. Sie folgte mechanisch, und so kam sie endlich in einem Hotel Londons an, ohne zu wissen wie. Wie öfter auf dem Wagen, zwang sie auch hier der alte Gentlemen wieder, etwas zu genießen und den Kaffee beinahe kochendheiß zu trinken, bot ihr alle mögliche Hülfe, alle möglichen Rathschläge, allen möglichen Schutz an, ohne daß das arme Wesen wußte, wie sie Alles abwehren sollte. Die uneigennützigste, seltenste Theilnahme des alten edeln Herrn, wie es deren nur in England geben soll, quälte sie nur. Sie bat endlich um etwas Frist; sie werde vielleicht bald im Stande sein, sich ihm vollständig mitzutheilen und ihm für seine edele, herzliche Theilnahme zu danken.
Der Alte ging. Sie blieb im Gastzimmer allein zurück, am Fenster stehend, trostlos auf die großen Häuser drüben und das unaufhörliche, kalte Durcheinandereilen von Wagen und Menschen blickend. Sie versuchte einen Entschluß zu fassen. Dabei wurde ihr die quälende Wirklichkeit ihrer hilflosen Lage immer deutlicher und legte sich auf ihr Herz, wie eine erdrückende Riesenlast. Der Kopf brannte, alle Glieder schmerzten und zitterten im Fieber, und Nichts konnte sie erwärmen. Endlich fragte sie furchtsam einen Kellner, ob er wisse, wo der Dr. Calomel wohne?
Der Kellner machte eine lange Beschreibung, wie das Haus zu finden sei, ging sogar selbst bis zur nächsten Ecke mit und zählte ihr dann die andern Ecken und Straßen vor, die rechts und links, krumm und grade, grade auf das glänzende Haus des berühmten Doctors zuführten.
So verwickelt der Weg war, fand sie ihn doch. Sie stieg die weite Halle empor, die zur ersten Eingangsthür führte, klopfte leise und ward von einem alten, magern [202] Manne, mit einem langen Besen in der Hand eingelassen. Es war noch sehr früh, doch meinte der alte Mann, der Herr Doctor werde bald zu sprechen sein, um seine „Armen-Praxis“ kurz abzufertigen, da er heute sehr früh zu einem Patienten müsse, der mehr Guineen als Gesundheit besitze. Sie ward in ein großes Zimmer gewiesen, das mit verschiedenen scheußlichen Bildern kranker und verunstalteter Köpfe, Körper, Arme und Beine u. s. w. geschmückt war, außerdem mit Glasschränken, in denen Knochen, Schädel und ganze Gerippe aufgeschichtet standen. Durch eine offene Thür sah sie andere große Zimmer, ganz in demselben Style ausmeublirt.
Mary saß und wartete wohl zwei Stunden, während der Diener immer schweigend hin und her fegte, wischte und abstäubte und alle Minuten von der Glocke nach der Thür gerufen ward, um alle Arten von Kranken und zerlumpten Krüppeln, besonders viel hohläugige Mütter mit bläulichen und oft skelettartigen Kindern einzulassen. So füllte sich endlich das große Zimmer. Niemand sprach; nur schrie hier und da ein jämmerliches Kind ohnmächtig auf, und alte Leute seufzten, stöhnten und husteten hier und da durch die öde, stille, elende Gesellschaft, auf welche die gebleichten Knochen aus den Glasschränken still und höhnisch herabgrinzten. Einige Gerippe schienen ganz besonders Wohlgefallen an der Gesellschaft zu finden; sie zeigten die Zähne von einem Ohre bis zum andern und lachten ohne Aufhören. Endlich kam der Doctor hastig herein, ein kleiner, trockner, faltiger, grauhaariger Mann mit kalten blauen Augen, die eben so gefühllos auf die Armen herabsahen, wie er wirklich war. Barsch und heftig gab er Einigen diese und jene Rathschläge, die er manchmal verwechselte, so daß der Blinde eine Verordnung als für ihn bestimmt nahm, welche einem Weibe für ihr lahmes Kind galt. Manche fragte und hörte er gar nicht, Andere schalt er mit einigen Kraftworten aus, und so war er in einigen Minuten mit seiner Wohlthätigkeits-Praxis – durch mehr als 50 Menschen hindurch – zu Ende. Die am Ende sitzende Hauptkranke fuhr er zuletzt an: „Und was ist hier los?“
„Ich wünsche Dudley Fletscher zu sprechen,“ war die zitternde Antwort.
Der Doctor warf einen kalten höhnischen Blick auf die Unglückliche, eilte davon, indem er heftig nach der Uhr sah, und rollte sogleich in seiner prächtigen Doctorkutsche davon.
Hinterher wankten und hinkten die Kranken, welche zu dem höhern Ruhme des berühmten Doctors so viel beitrugen. „Er ist wie unser Heiland selber,“ sagten die höhern Frommen seiner Klike, „er läßt Alle, die mühselig und beladen sind, zu sich kommen und erquickt sie“ – im besten Falle mit Medizin aus einer Apotheke, die ihm – hundert Procent von ihrem Gewinne bezahlen muß.
Marie war allein zurückgeblieben. Der Portier gab ihr endlich Auskunft. Herr Fletscher sei ein Lebemann und komme jetzt selten zum Doctor, doch könne es immer möglich sein, daß er heute grade einmal komme, um am Kohlenfeuer zu schlafen, während die Andern eifrig dem Doctor zuhörten; aber wahrscheinlich sei es nicht. Das Beste sei vielleicht, ein Billet an ihn zurückzulassen.
Mary wartete noch einige Stunden, dann schrieb sie mit zitternder Hand einige Zeilen, übergab sie dem Portier und wankte bis zum Tode betrübt in ihr Hotel zurück. –
Hier dachte sie lange darüber nach, was sie thun, was sie sagen wollte, wenn Dudley wirklich käme.
Sie kam zu keinem bestimmten Gefühle und Gedanken. Nur fieberisches, unendliches Weh durchwüthete Seele und Leib, und wenn sie ihn nur noch einmal sehen, nur noch einmal seine Stimme hören, nur noch einmal seinen Arm um ihre Gestalt geschlungen fühlen könnte, müßte Alles wieder gut sein, dachte sie, weiter nichts. Aber die Zeit schlich langsam dahin und kein Dudley kam. Bei jedem Geräusch von Schritten zitterte sie auch und meinte, nun müsse er es sein. Doch wieder und immer wieder getäuscht und durch impertinentes Ansehen von Kellnern und Fremden in Verlegenheit gesetzt, stellte sie sich wieder an’s Fenster, und, hinstarrend auf das ewige Gedränge in der Straße, merkte sie endlich plötzlich, daß ihre Augen von den fließenden Thränen ganz matt geworden. Das unaufhörliche Toben und Wühlen auf der Straße ging an ihr vorüber wie einförmiges Wasserrauschen. Der Abend kam und sie stand immer noch am Fenster.
Die Laternen wurden angezündet, das Toben und Tosen auf der Straße wurde stiller und stiller, schon sah man die Leute einzeln gehen und immer einzelner, und immer war noch kein Dudley gekommen; Kellner kamen öfter und fragten immer zudringlicher, was sie eigentlich wolle, so daß sie sich zuletzt genöthigt sah, zu gehen. Wohin? Hinaus in die düstern, kalten Straßen Londons mit seinen ewigen Reihen dichtverschlossener und burgartig vergitteter Häuser. Wohin? Nicht von dem Hotel weg: er kann ja immer noch kommen. So ging sie vor dem Hotel und gegenüber auf und ab, jede Gestalt die sich näherte, mit den Augen durchdringend, ob er nun endlich einmal zu entdecken wäre. Aber auch hier wurde sie bald belästigt, von Vorübergehenden frech angesehen oder wohl gar mit verächtlicher Zutraulichkeit angeredet, so daß sie beschloß, seine Wohnung, das Haus der berühmten Mrs. Hays, zu erfragen. Manch kundiger, freundlicher Policemann wurde vergebens gefragt, Mancher der weniger wußte, als nichts, gab ihr Straßen und Richtungen an, die vom Ziele abführten, so daß es Mitternacht wurde, ehe sie sich zurecht gefragt hatte und sicher war, den richtigen Weg zu gehen.
Endlich stand sie vor einem strahlenden Palaste, aus welchem rauschende Musik erscholl. Hier wohnte Mrs. Hays, das war keine Frage mehr. Jedes Kind wußte es in der Nachbarschaft. Sie schlich sich an die prächtige große Thür und sah auch den silbernen Knopf, welcher in einer Umschrift verkündigte, daß er nur von „Gästen“ gezogen werden könne, während auf der andern Seite ein blos „messingner“ Knopf die Umschrift „servants“ (Dienstleuten) trug. Sie zog an einem. An beiden Seiten der Thür liefen Säulenhallen hin mit prächtigem Marmor und Gußeisenwerk. Innerhalb derselben wagte sie sich bis an ein Fenster. Im ersten Augenblicke stand sie ganz geblendet. Die prächtigsten Säle hinter riesigen Spiegelscheiben, wohl absichtlich gar nicht verhüllt, schwammen im üppigsten Lichte goldener und krystallener Kronenleuchter. Purpurne und goldene Tapeten, kostbare Meubles mit Sammet und dem künstlichsten Schnitzwerk, ungeheuere Oelgemälde, schwellende Teppiche mit herrlicher Stickerei und auf diesen ein Gewoge der glänzendsten Gesellschaft, [203] nach den Takten schmetternder, jauchzender Musik sich schwingend und drehend. – Sie sah ein Feenmärchen vor sich und in diesem – Dudley.
Das Blut drängt sich gewaltsam in die blassen Wangen. Er ist es, strahlend in Liebenswürdigkeit und überfließend von süßen Liebesworten zu der üppigen, schmunzelnden Dame an seinem Arme, deren Finger und Hals und Kopf auf das Geschmackloseste mit Gold, Emaille und Brillanten überladen sind. Sie nehmen Platz nicht weit vom Fenster. Er beugt sich mit dem Munde an ihr Ohr und sieht sie an und sie ihn wieder auf eine Weise, deren Sinn auch die Unschuld in ihrem tödtlichsten Weh ahnt. Sie glaubt ihn zu hören, die Worte klingen ihr in’s Ohr wie Dolche, deren jeder das Herz durchbohrt. Ihre Liebe ist verrathen, ihr Ideal entwürdigt – es ist wahr, was angebliche Verläumdung bis in ihre ferne, stille Heimath trug –
Sie ist fort. Das tiefste, tiefste, tödtlichste Weh in dem schönsten Gesicht, das je die Unschuld trug, drängt sich nicht mehr zitternd an die kalte, zwei verschiedene Welten scheidende Spiegelscheibe. Sie ist fort. Die bleiche, rasch aufglühende, zum letzten Male in trügerischer Jugendblüthe aufflammende Gestalt ist fort. Wohin treibt sie ihr tödtliches Weh? Wer fragt danach in der dichten, herzlosen Jagd von drei Millionen Menschen nach Brod, Gewinn, Kupfer, Silber und Gold? Verlieren sich nicht allnächtig Tausende in diesem unendlichen Gewirre ruheloser Straßen in Qualen und Leid, von denen die Welt niemals etwas erfährt, mit denen der Himmel kein Erbarmen hat und die jeden Tag der Todtengräber mit ewigem Schweigen deckt? Das schwache, schöne, unschuldige, ungekannte, wie aus Gottes Meisterhand am Gelungensten hervorgegangene Wesen hat sich verloren im riesigsten Gedränge von Menschen und Waaren und Goldhaufen und Häusern und Wohlthätigkeitsanstalten, die alle, alle verschlossen sind, meilenweit, viele Meilen weit in allen Richtungen sicher und fest und dreifach und vierfach verschlossen.
Eine Gesellschaft von Studenten der Medicin trieb sich trinkend, lachend, pfeifend, rauchend und Billard spielend in einem großen Restaurations-Zimmer herum. Ihre Kleider, der Duft ihrer Cigarren, ihre Getränke, ihr flegelhafter Uebermuth bekundeten, daß ihre Väter eben nicht lässig im Zusenden von Geldanweisungen sein mochten.
„Kömmst Du heute Abend mit in die Vorlesung, Tom?“ fragte Einer, indem er sein geleertes Glas auf den Tisch warf.
„Das versteht sich. Ich denke keine Muskel dieses Helden ununtersucht zu lassen. Er hat uns viel zu schaffen gemacht, dieser Riese, ehe wir ihn erwischen konnten.“
„Ja wahrhaftig, es wäre eine Schande, bei ihm zu fehlen. Das ausgebildetste Muskelsystem und außerdem gehangen, das kommt nicht alle Tage vor.“
„Ganz gewiß,“ setzte ein dritter hinzu, „Croß ist eine wahre Schönheit. Jede Faser an ihm ist ein Kapital für die Wissenschaft. Bei Gehangenen bilden sich namentlich die Blutgefäße musterhaft aus.“
„Wie gelehrt sich Nedschan ausdrückt! Denkst Du Dich nicht auch einmal um unsere Wissenschaft verdient zu machen? Wie wär’s, wenn Du Dich auch einmal der unschuldigen Operation einer zu engen Halsbinde vom Seiler unterwürfest?“
„Wer kann’s wissen in dieser Lotterie des Schicksals. Vorläufig haben wir an Croß genug.“
„Wir haben in unserer Klasse doch einen schönern Bissen!“ versetzte ein tornisterblonder Camerad mit einem feuerrothen Backenbarte, der ihm das Aussehen eines ältlichen, trocknen Kaufmannes, eines englischen Mustergesichts gab. „Eine Schönheit erster Klasse.“
„Ach was, wir halten’s mit dem Stricke. Niemals erwies uns der Galgen einen größern Dienst. Doch vorwärts. Es wird Zeit. Aber vergessen wir Dudley nicht!“
„Wo steckt er denn?“
„Da liegt er, wie gewöhnlich, betrunken und eingeschlafen. Ein Kerl, wie aus Theeblättern gemacht, kann schon gar nichts mehr vertragen.“
„Das kommt von den gütigen, frommen, schönen Tanten,“ erwiederte Einer. Ein schallendes Gelächter und einige Püffe weckten ihn auf. Er starrte um sich, ließ sich in die Mitte nehmen und taumelte mit den singenden, pfeifenden, rauchenden Cameraden davon.
Es war nicht weit bis zum Anatomie-Gebäude der medicinischen Lehranstalt. Sie stiegen schwere, steinerne Treppen hinauf, schritten durch lange Corridore und kamen endlich an große eiserne Doppelthüren, die sich schwerfällig öffneten. Obgleich die Fenster offen standen, durch welche der Wind dämonisch in das flackernde Kaminfeuer fuhr, füllte doch ein unvertilgbarer Verwesungsgeruch das ganze große Auditorium. Auf langen schmalen Tischen streckten sich, nachlässig mit Papier bedeckt, nackte Leichname und auf verschiedenen Seitentischen lagen zerstreut zerschnittene und „präparirte“ Glieder in gräßlicher Farbe und Verstümmelung, auf dem Fußboden und in Winkeln schmutzige Knochen und grinzende Schädel. Die Studenten bewunderten den Riesen, bis der Professor kam und zu schneiden und zu dociren anfing. Studenten und Leichen scheinen beide aufmerksam zu horchen. So oft der Professor schweigt, hört man nichts, als das eigenthümliche Geräusch der Messer und das – Schnarchen Dudley’s, der in einem Winkel eingeschlafen und vom Stuhle gefallen war.
Die Stunde geht rasch dahin. Das Feuer ist niedergebrannt, die Lichter flackern trübe, die Vorlesung ist vorüber. Alles eilt froh über die herrlichen Muskeln des Riesen davon, und der Diener schließt mit einem Ruck die Quelle der Gasflamme, schließt hastig die großen eisernen Thüren und eilt, froh, daß das Tagewerk wieder einmal vorüber ist, nach Hause.
Dudley schläft, vergessen unter Leichen, eingeschlossen in Verwesung, weiter.
Das Feuer ist erloschen. Eisiger Nachtwind überfällt den Bewußtlosen immer empfindlicher, bis er zitternd und bebend an allen Gliedern aufwacht. Er starrt um sich und besinnt sich endlich mit Mühe, in welcher Lage und Umgebung er sich eigentlich befindet. Er graspt sich, stolpernd über Knochen mühsam nach der Thür. Sie ist verschlossen. Das angestrengteste, anhaltendste Klopfen verhallt ungehört in dem Raume und in den öden Hallen draußen. Von der fürchterlichsten Kälte erlahmt, versucht er nun, das Feuer im Kamine wieder zu beleben. Doch [204] ein schwacher Rest von Gluth erbleicht unter seiner störenden Hand. Er greift rasch nach den Papierbogen, mit welchen die Leichen bedeckt sind und sucht es in Flamme zu bringen. Es versengt langsam, aber will nicht in Flammen ausbrechen. Da läuft er in das nächste Zimmer, wo andere Leichen unter dünnem Papier schlafen. Hastig knittert er die Bogen zusammen, sie von Leiche nach Leiche wegreißend. Warum steht er auf einmal starr? Warum gaspt er nach Luft und blickt so stier und wild?
Wenn das ein Traum ist, muß es der grauenvollste sein! Er schlägt sich vor die Stirne, ringt die Hände und taumelt davon. Er wacht. Er will umkehren, noch einmal hinsehen – nein, nein, er kann es nicht. Er hat sie einmal gesehen in vollster, blühendster Schönheit, aber todt, unwiederbringlich verloren und erloschen. Er weiß, warum. Der Brief steckt noch in seiner Tasche. Er versucht ihn beim schwachen Mondenlichte noch einmal zu lesen. Vergebens. Noch einen Blick auf die schöne, schöne Gestalt, die das rasch erstickende Wasser der Themse von dem langsamen Tode des Absiechens am gebrochnen Herzen gerettet hatte, noch einen Blick und er sinkt, von physischer Kälte und dem Blitze des furchtbarsten Richterspruchs in’s Herz getroffen, zusammen.
Dort lag er und starrte mit wahnsinnigem stieren Blick durch die mondhelle Finsterniß über die todten Gebeine hin bis zu ihr, der unschuldigen, schönen, todten Hülle, in der einst seine Poesie, sein Himmel, alle Seligkeit einer reinen Jugend gelebt und geliebt, zu ihr, die er ermordet und unter Diebe und Mörder, unter den Auswurf der Armuth geschleudert! Bewegte sich nicht ihre schöne Hand? – Sie schien sich zu bewegen. Sie erhebt sich, wendet sich, ihre Wange röthet sich, ihr Auge öffnet sich, ihre süße Stimme ruft ihn. Nein, er besinnt sich – da liegt sie noch in Schönheit und Unschuld, aber todt und kalt und bewegungslos. Er rafft sich auf; mit aller Gewalt will er hinaus in die Freiheit, in’s Leben, unter Lebendige. Die schweren Riegel setzen dem Ohnmächtigen unerschütterlich ihre stumme, eiserne Kraft entgegen. Niemand hörte ihn, Niemand, das fühlte er, konnte draußen die ewige Last von seiner Seele nehmen. Er sank wieder an der Thür zusammen.
Dort fand ihn der Schließer am nächsten Morgen besinnungslos und körperlich gelähmt in allen Gliedern. Die Kunst der Aerzte bot vergebens allen ihren Witz auf; wohl kam er wieder zum Bewußtsein seiner Schuld, aber nie wieder zum Gebrauch seiner Glieder. Man fuhr ihn endlich zurück in das väterliche Haus, hilflos wie ein Kind. So blieb er und so lebt er fort niedergebeugt, trostlos in ewiger Reue.
Auf dem kleinen Kirchhofe, nicht weit von seinem Hause, erhebt sich ein grauer Hügel, wo weder der sanfthüllende Schnee des Winters, noch der lustige Vogel des Frühlings ein Denkmmal, einen Namen sehen. Nur das Gras flüstert an kühlen Sommerabenden sehr leise und scheint von dem Unglücklichen verstanden zu werden, der hier so oft und so lange sitzt und wartet, bis er wieder nach Hause getragen wird.
Auch wir wissen wohl, wer unter dem Hügel so frühzeitig den ewigen Schlummer zu schlafen begann. Und von dem stummen, gebrechlichen Wesen, das fast Tag für Tag hiehergetragen und wieder weggetragen wird, läßt sich erwarten, daß er noch in einer Hoffnung Trost finde, in der Hoffnung, bald treu und unwandelbar an ihrer Seite den Schlaf der Todten schlafen zu können.