Memoiren einer Sozialistin/Siebzehntes Kapitel
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Septembersonne! In mattem Blaugrün spannt sich der Himmel über Berlin; alles Licht ist gedämpft, und die Schatten haben einen silbernen Ton. Auf den Anlagen der großen Plätze und in den Vorgärten der Häuser, die die Kultur mühsam dem spröden Sandboden abgerungen hat, feiert sie jetzt ihre größten Triumphe: vom hellen Gelb der Linden bis zum dunkeln Rot der Blutbuchen leuchten alle Farben des Herbstes; aus dem grünen Rasenteppich glänzen Astern in sanftem Violett und müdem Blau, während sich in wehmütigem Sterben blasse Rosen an die weißen Steinstufen der Estraden schmiegen. Goldene Blätter tanzen in lind bewegter Luft, und unter den Bäumen sitzen auf weißen Bänken jene modernen Frauen der Großstadt, die starke Farben scheuen wie starke Gefühle und Kleider tragen, die aussehen, als wären sie in der Sommersonne verblichen.
Täglich, am frühen Nachmittag, gingen wir vier in den nahen Zoologischen Garten, wo sich die Bewohner des Westens am Neptunteich unter den Musikkapellen ein Stelldichein gaben. Hier traf sich der behäbige Spießbürger mit Freunden und Verwandten, im stillen beglückt, nach der vorschriftsmäßigen Sommerreise wieder ruhig am rotgedeckten Tisch zu sitzen, statt schwitzend und prustend Ausflüge abzuklappern. Hier erschien in schäbiger Eleganz die Offiziers- und Beamtenwitwe, um ihre schon stark angejahrten, interessant verschleierten Töchter vor Männeraugen spazieren zu führen. Hier ließen sich mit der Stickerei und dem mitgebrachten Kuchen zu stundenlangem Klatsch all die Überflüssigen nieder, an denen das weibliche Geschlecht so reich ist. Droben aber vor dem Restaurant, wo die weißen Tischtücher weithin sichtbar die Klassen schieden, tauchten elegante Toiletten und bunte Gardeuniformen auf, und Rücken an Rücken mit der vornehmen Frau der Hofgesellschaft saß im Glanz ihrer Brillanten und schwarzen Augen die schöne Otero und ihresgleichen. Jenseits jedoch, auf dem Hügel hinter dem Neptun, fanden die Stillen sich ein, die Musik- und die Naturschwärmer, die Nebenabsichtslosen mit ihren Büchern und ihren Zeitungen. Sie alle sahen unten auf der Lästerallee den bunten Strom kokettierender Jugend an sich vorüberfluten: bartlose Knaben mit erzwungener Blasiertheit, kurzröckige Mädchen mit heißen Augen; greisenhafte Jünglinge, lüstern nach Beute um sich schauend; korrekte junge Damen, glatt gescheitelt, mit kühlen, bleichen Wangen.
Nachdem die erste Neugierde gestillt war, ging ich nicht gern hierher; es kam mir wie Zeitverschwendung vor, und überdies sah ich mit leiser Angst mein reizendes Schwesterchen im Kreise flirtender Backfische und Gymnasiasten. Aber mein Vater liebte den Verkehr mit alten Freunden, die hier immer zu finden waren, und meine Mutter amüsierte der großstädtische Trubel. Bald hatten auch wir unseren Stammtisch unter der großen Kastanie bei der Musikkapelle, und Menschen verschiedenster Art gesellten sich zu uns, die nur ein gemeinsames Gefühl aneinander zu fesseln schien: die Unzufriedenheit. Das Leben hatte ihnen allen nicht gehalten, was sie sich von ihm versprochen hatten, und sie gaben nicht sich die Schuld, und nicht den Verhältnissen, – wodurch Unzufriedenheit zum Hebel der Tatkraft werden kann, – sondern den heimlichen Feinden im Militär- und Zivilkabinett und den Intriganten am neuen Kaiserhof.
Es waren Männer darunter, die, um die magere Pension zu erhöhen und ihren Frauen und Töchtern standesgemäße Toiletten, ihren Söhnen die Leutnantszulage zu sichern, halbe Tage als Agenten der verschiedensten Versicherungsgesellschaften Trepp auf, Trepp ab liefen, und nachmittags im Zoologischen den Junker spielten, der von seinen Renten lebt. Andere, die für ihre ungebrochene Kraft eine Beschäftigung, für ihre leere Zeit eine Ausfüllung brauchten, griffen zu den seltsamsten Hilfsmitteln. Der eine vergrub sich in heraldische Studien, ein zweiter sammelte Briefmarken, ein dritter widmete jede Stunde und jeden Gedanken dem Studium Dantes, ein vierter ging im Spiritismus auf und hatte täglich andere Geistererscheinungen. Aus Langerweile ließ ich mich mit diesem seltsamen Kauz, einem Obersten von Glyzcinski, dessen robuste Erscheinung mit dem breiten roten Gesicht wenig an einen Geisterseher erinnerte, oftmals in Gespräche ein und amüsierte mich im stillen darüber, auf welch vertrautem Fuß er mit dem lieben Gott stand, und wie glühend er zu gleicher Zeit die Kirche und ihre Diener haßte. Dankbar für mein vermeintliches Interesse brachte er mir täglich andere Bücher und Broschüren und lief geduldig die Lästerallee mit mir auf und ab, wenn ich es in der von Ärger und Mißgunst geschwängerten Atmosphäre unserer Tafelrunde gar nicht mehr aushalten konnte.
So gingen wir gerade einmal wieder von einer Musikkapelle zur anderen, als der Oberst plötzlich stehen blieb.
„Wie gehts dir, Vetter?“ hörte ich ihn sagen; mein Blick fiel durch den Schwarm Vorübergehender hindurch auf ein schmales Gesicht, von dichtem braunem Bart umrahmt, aus dem zwei tiefe, strahlende Kinderaugen herausleuchteten, wie von großer innerer Freude erhellt. „Gut – sehr gut,“ antwortete eine Stimme, die wie ein voller Geigenton klang. Welch glücklicher Mensch muß das sein, dachte ich mit stillem Neid. In dem Augenblick schoben sich die Menschen zwischen uns auseinander, – ich sah einen Rollstuhl, – eine dunkle Pelzdecke, – zwei ganz schmale, weiße Hände, deren blaues Geäder wie mit einem feinen Pinsel gezogen war, – einen schmächtigen Oberkörper – – unmöglich! – das konnte doch der Mann nicht sein mit den strahlenden Kinderaugen! Aber schon richteten sie sich auf mich – verwirrt sah ich zu Boden. „Entschuldigen Sie …“ sagte mein Begleiter im Weitergehen. „Wer war das?“ frug ich hastig, noch im Bann tiefen Erstaunens.
„Professor von Glyzcinski – mein Vetter,“ lautete die lakonische Antwort.
„Können Sie mich mit ihm bekannt machen?“ Mein rasch entstandener Wunsch formte sich ebenso rasch zur Bitte. Der Oberst runzelte die Brauen.
„Er ist Atheist und Sozialist,“ kam es mit harter Betonung über seine Lippen.
Ich zuckte zusammen und konnte dem Schauder nicht wehren, der mir zitternd über den Rücken lief. Aber mein Wunsch wurde nur noch stärker.
„Stellen Sie mich vor,“ bat ich dringend. Er sah mich von der Seite an: „Aber die Verantwortung tragen Sie allein!“
Wir drehten um. Ein kurzes Zeremoniell: „Fräulein von Kleve möchte dich kennen lernen, Georg, – sie ist Schriftstellerin.“
Des Professors Gesicht schien sich noch mehr zu erhellen. „Dann freue ich mich doppelt Ihrer Bekanntschaft,“ sagte er, und seine Hand umfaßte die meine mit einer kräftigen Herzlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte. „Jede arbeitende Frau ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft.“
„Auch ein Gewinn für die Kunst und die Wissenschaft?“ meinte ich zweifelnd.
„Gewiß! Sobald alle Universitäten und Akademien ihnen offen stehen, wie den Männern!“ Ich sah ihn verwundert an. Nur aus Witzblättern hatte ich bisher vom Frauenstudium erfahren, und hie und da war mir eine russische Studentin mit ausgetretenen Stiefeln, zerfranstem Rock und kurz geschorenen Haaren begegnet, die meine tiefe Abneigung gegen die Verleugnung der Weiblichkeit nur steigerte. Zögernd äußerte ich meine Ansicht. Der Professor lächelte. Die Witwe mit den angejahrten Töchtern ging gerade vorüber.
„Sind diese armen alten Mädchen, die nun schon seit Jahren hier auf den Heiratsmarkt geführt werden, vielleicht würdigere Vertreter der Weiblichkeit?“ sagte er, „die russische Studentin ziehe ich ihnen jedenfalls vor; und so arm sie sein mag, – sie selbst würde keinenfalls mit ihnen tauschen mögen. Denn sie hat ihre Freiheit, ihre Arbeit und ist tausendmal reicher als jene.“ Er schwieg, aber da ich nicht antwortete – das was er sagte war mir in seiner einfachen Selbstverständlichkeit doppelt überraschend –, fuhr er nach einer Pause fort: „Stellen Sie sich eine Frau in meiner Lage vor, – wie unglücklich müßte sie sich fühlen, weil sie nicht nur von vielen Freuden des Lebens ausgeschlossen, sondern vor allem, weil sie nutzlos, weil sie überflüssig ist. Ich aber bin vollkommen glücklich!“
Der Professor lehnte sich tief in den Rollstuhl zurück, legte die Hände übereinander auf die schwarze Pelzdecke und sah mit einem Ausdruck der Verklärung über die Menschen hinweg in die gelben tanzenden Blätter, in die rosigen Abendwolken hinein. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich war keines Wortes mächtig und dankbar, daß die Eltern, die mich suchten, mich jeder Antwort überhoben.
Von nun an war ich es, die die Nachmittage nicht erwarten konnte, die, als es immer herbstlicher wurde, und kälter und trüber, oft allein den gewohnten Weg ging, um in dem stiller und stiller werdenden Garten den Mann zu suchen, dessen durchsichtige Krankenhand mich auf steile Höhen mit endlosen Fernsichten und in dunkle Tiefen voll überquellender Schätze führte. Ohne daß er eine Frage stellte, lockte der warme Strahl seiner Augen meine verborgensten Gedanken ans Tageslicht, und wo sie wirr auseinanderfielen, wie vom Sturm zerrissene Telegraphendrähte, knüpfte er sie wieder vorsichtig zusammen. Er brachte mir Bücher, Zeitungen und Zeitschriften mit und wenn ich damit beladen nach Hause kam, wurde es mir schwer, mich von ihnen zu trennen und zu meiner Arbeit zurückzukehren. Ich hatte mancherlei Versprochenes und Begonnenes zu vollenden und tat es widerwillig, nur von dem Gedanken erfüllt, mich auf eigene Füße zu stellen.
Aber der Professor verstand es, mir selbst diese Arbeit wieder wertvoll zu machen. „Wie viele große, gute und gefährlich umstürzlerische Ideen können Sie einschmuggeln, wenn Sie nur Ihren Goethe tüchtig ausnutzen,“ meinte er, „und die vielen kleinen Flämmchen, die Sie entzünden, schlagen schließlich zu einer großen Flamme zusammen.“
Daß diese Arbeit nicht die meine bleiben dürfe, – davon war er freilich auch überzeugt, doch er lachte mich aus, – mit einem hellen frohen Gelächter, das von Spott nichts weiß –, als ich sagte, für mich gebe es nichts zu tun. „Die Fülle der Aufgaben müßte Sie vielmehr erdrücken, wenn Sie nicht so stark wären, alle auf sich zu nehmen,“ versicherte er mir.
Ich vertiefte mich auf seinen Rat in die Literatur der amerikanischen und englischen Frauenbewegung. Ihre Ideen erschienen mir nur als die notwendige Konsequenz meiner eigenen. Unter der Unfreiheit hatte ich gelitten, die Unmöglichkeit, meine geistigen Fähigkeiten auszubilden und zu betätigen, hatte mich fast erdrückt. Ich las Condorcet und John Stuart Mill und lernte die Heldenkämpfe der Amerikanerinnen um die Befreiung der Sklaven kennen. „Sie alle haben ein Recht, sich den Männern gleich zu stellen,“ sagte ich zum Professor, „denn wie sie opferten diese Frauen Gut und Blut für die Freiheit. Aber wir?!“
„Die Verleihung politischer Rechte ist doch auch beim Mann nicht die Konsequenz heroischer Taten!“ antwortete er. „Und wenn sie überhaupt an irgend eine Bedingung geknüpft wäre, so würde mir nur eine gerecht erscheinen: das Maß des Leidens. Wer am meisten leidet, sollte die weitestgehenden Rechte haben, um die Ursachen seiner Leiden zu beseitigen. Meinen Sie nicht, daß die Frauen in diesem Fall in erster Linie stünden?!“
Ich dachte an die Arbeiterinnen Augsburgs und konnte ihm nur zustimmen. Am nächsten Tage brachte er mir ein Paket Zeitungen mit. Rote und blaue Striche an den Rändern zeugten von der sorgfältigen Lektüre. Aber als ich sie auseinanderfaltete, erschrak ich: „Die Volkstribüne, Sozialistische Wochenschrift“ stand als Titel groß darüber. Jetzt zuckte es doch wie ein ganz leiser Spott um die Lippen des Professors:
„Also auch Sie fürchten sich vor den Sozis!“ meinte er lächelnd. „Lesen Sie nur dies Blatt, – ich habe mehr daraus gelernt, als aus manch dickleibigem Buch gelehrter Kollegen!“
Und ich nahm mir die Blätter mit und las sie und war so vertieft, daß ich erst merkte, wie spät es war, als mein Vater draußen die Entreetür aufschloß. Er kam aus Brandenburg zurück, wo er an dem Jubiläumsfest seines alten Regiments teilgenommen hatte.
„Wie, du bist noch auf?“ rief er. „Da kann ich dir ja noch Egidys Grüße bestellen!“ Damit trat er ein. „Ich wußte gar nicht, daß er Fünfunddreißiger gewesen ist, ehe er zur Kavallerie ging. Übrigens ein famoser Kerl, tapfer und ehrlich. Und, – stell dir vor! – die Rasselbande hat ihn geschnitten! Kannst dir denken, daß ich ihm um so deutlicher meine Anerkennung für seine
Überzeugungstreue aussprach. Er wäre mir beinahe um den Hals gefallen vor Dankbarkeit.“
In diesem Augenblick entdeckte mein Vater die „Volkstribüne“, die offen vor mir lag. Die Ader schwoll ihm auf der Stirn, und blaurot färbten sich seine Züge. „Was für ein Schuft hat dir diese Zeitung in die Hände geschmuggelt?“ schrie er, „vor meine Pistole mit dem infamen Patron!“
„Ich habe sie mir gekauft,“ log ich, „man muß auch seine Gegner aus ihren eigenen Schriften kennen lernen.“
Mein Vater nahm wütend die Blätter vom Tisch und zerriß sie. „Bring mir solche Schweinereien nicht wieder ins Haus!“ drohte er mit erhobener Faust. „Von Leuten, die das Vaterland verraten, den Meineid predigen und den Fürstenmord, darf meine Tochter nicht einmal einen Fetzen Papier in Händen haben!“ Und wütend warf er die Tür ins Schloß.
Am nächsten Vormittag besuchte uns Egidy. Den Zylinder in der Hand, in militärisch strammer Haltung wie zu einer dienstlichen Meldung stand er vor meinem Vater.
„Die Wohltat, die Eure Exzellenz mir in Brandenburg erwiesen, rechne ich zu den höchsten Empfindungen inneren Glücks, die mich bisher in meinem Leben beseelten. Euer Exzellenz Worte sind – ich sage nichts, als was ich fühle, – die größten, die an mich heranklangen, seit ich tat, was mir Pflicht schien.“ Scharf und bestimmt sprach er, und dann erst wandte er sich zu meiner Mutter und mir.
„Darf ich Ihnen meine Töchter bringen?“ frug er mich. „Es sind brave Kinder, die alles tapfer mit mir getragen haben und doch wehmütig empfinden, wie sie aus ihrer Bahn gerissen wurden.“ Ich reichte ihm die Hand.
„Selbstverständlich, Herr von Egidy! Was ich den Ihren sein kann, will ich mit Freuden sein,“ antwortete ich.
„Und darf ich nicht nur auf Ihre Freundschaft, sondern auch auf Ihre Mitarbeit rechnen?“ Er streckte mir noch einmal die Hand entgegen.
Ich legte die meine zögernd hinein: „Auf meine Freundschaft, ja! Meine Mitarbeit aber kann ich Ihnen noch nicht versprechend!“
Sein Blick verfinsterte sich. „Ihr Herr Vater ehrt die Überzeugungstreue …“ sagte er mit Betonung.
„Und ich werde meiner Überzeugung zu folgen wissen!“ entgegnete ich gereizt.
Am Nachmittag erzählte ich dem Professor von Egidy und meinen Beziehungen zu ihm. Ich war noch verärgert, und mein Urteil über die Halbheit, die ihn zwang, an dem Namen „Christentum“ festzuhalten, mochte nicht gerade milde klingen. Der Professor schüttelte den Kopf, – ein deutliches Zeichen seines Mißfallens. „Sie verlangen wirklich ein bißchen viel, gnädiges Fräulein! Ist es nicht schon einzig und unerhört und höchst erfreulich, daß ein Mann, wie er, in dieser Weise den Kampf gegen das traditionelle Christentum aufnimmt? – Zahllose Menschen, die für die Worte ausgesprochener Freidenker nur taube Ohren haben, werden ihn hören, und ihr erster Schritt auf der schiefen Ebene wird dann nicht ihr letzter sein!“
Ich dachte meiner eigenen Erfahrungen und gab ihm Recht. Hatte unser Gespräch sich bisher wesentlich um die Frauenfrage gedreht, so kamen wir heute zum erstenmal auf religiöse Fragen zu sprechen. Ich erzählte ihm von meiner Entwicklung. Er hörte mit sichtlichem Interesse zu und sprach mir dann von der seinen.
„Religiöse Gewissenskämpfe sind mir fremd geblieben,“ begann er. „Bis ich in die Schule kam, wußte ich nichts von Religion. Als meine Mutter mich zu meinem Klassenlehrer brachte und er mich frug, was ich vom lieben Heiland wüßte, gab ich erstaunt zur Antwort, daß ich von dem Land noch nie etwas gehört hätte. Der Schulreligionsunterricht bestand dann eigentlich nur im mechanischen Auswendiglernen, was ich ebenso gedankenlos absolvierte, wie irgend welche Tabellen oder grammatische Regeln. Was dem Gemüt vieler Kinder die Religion bieten mag, das bot mir die Natur; und da ich von klein an schwächlich war und meinen Altersgenossen und ihren Spielen infolgedessen ziemlich fern blieb, unterstützten meine Eltern meine Passionen. Mein Zimmer war immer ein wahres Aquarium, und das Leben der Tiere und der Pflanzen mit all seinen Wundern lernte ich mit steigendem Entzücken zuerst aus eigenen Beobachtungen kennen. Jetzt habe ich nur noch ein paar Vögel und ein Blumenfenster,“ – er lächelte wehmütig, „seit meine Mutter im vorigen Jahre starb und ich bewegungslos bin, würde doch keiner für meinen Privat-Zoo sorgen können!“ Mit der ihm charakteristischen Gebärde reckte er den Oberkörper, als wollte er eine peinliche Erinnerung energisch abstoßen – „und allmählich sind mir denn doch die Menschen interessanter geworden als die Tiere. Ich studierte Philosophie, weil es das einzige ist, was ein Mann wie ich zu seinem Lebensberuf machen kann. Aber meine unglückliche Liebe zu den Naturwissenschaften ist doch gleich in meiner Doktordissertation zum Ausdruck gekommen, in der ich die philosophischen Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie behandelte. – Sie müssens mal lesen, gnädiges Fräulein, – ich habe noch heute meine Freude dran, obwohl der liebe Gott noch bedenklich zwischen den Zeilen spukt! Dann hab ich mich hier habilitiert. – Ich wohnte bei meiner guten Mutter, einer blitzgescheiten Frau – schade, daß Sie sie nicht mehr kannten! –, die mit dem lieben Gott auf besonders gespanntem Fuße stand, weil er ihren Jungen zum Krüppel hatte werden lassen. Und ein bißchen mag das auch bei mir dazu beigetragen haben, an seiner Existenz allmählich zu zweifeln. Bei näherem Nachdenken konnte ich die geistigen Kapriolen der frommen Leute nicht mitmachen, die nötig sind, wenn man das unverschuldete Elend in der Welt, wenn man Unrecht und Verbrechen mit dem allgütigen und allmächtigen Himmelsvater in Einklang bringen will. Wäre er, so müßte er entweder ein herzloses Scheusal oder das unglückseligste aller Wesen sein, das gezwungen ist, untätig zuzusehen, wie seine Geschöpfe sich zerfleischen!“ Die Stimme des Professors hatte sich gehoben, seine Augen funkelten, sein ganzer zarter Körper schien von starker Energie gespannt.
„Und doch sind Sie ein glücklicher Mensch geworden!“ sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.
„Das habe ich wieder den Naturwissenschaften und meinen vielen lieben Freunden zu verdanken.“
„Ihren Freunden?!“
„Denen, die immer um mich sind und nur reden, wenn ich sie brauche: den Büchern. Darwins Entwicklungsgesetz war es, das mich zuerst mit einem unbeschreiblichen, unzerstörbaren Glücksgefühl erfüllte, denn es festigte meinen Glauben an die unendliche sittliche und intellektuelle Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur, und er trat an die Stelle des Glaubens an einen unbeweisbaren Gott.“
Das Herz klopfte mir vor Freude; ich umfaßte unwillkürlich mit meiner heißen Hand seine kühlen Finger: „Ich danke Ihnen – danke Ihnen tausendmal,“ kam es vor Erregung bebend über meine Lippen, „so bin ich doch nicht mehr allein mit dem, was ich dachte und fühlte, und was mir fast schon zu entschwinden drohte. Einmal, in einer glücklichen Stunde, schrieb ichs auf, – darf ich es Ihnen bringen?“
„Ich bitte Sie darum!“ Ein warmer Blick traf mich, – er schien mich ganz und gar zu umfassen. „Sollte ich doch am Ende wieder an den lieben Gott glauben müssen – der mir eine Frau wie Sie in den Weg geschickt hat?!“
Die Eltern kamen und holten mich ab. Mein Vater war merkwürdig kurz angebunden. „Du wirst deinen Verkehr mit dem Professor beschränken müssen,“ sagte er auf dem Nachhausewege, „Walter sagte mir, daß er im Rufe steht, einer der gefährlichsten Kathedersozialisten zu sein.“ – „Daß er Gott verleugnet, hat er neulich mit zynischer Frivolität selbst zugestanden,“ fügte Mama mit hochrotem Gesicht hinzu.
„Wenn er es tat, so ist es weder zynisch noch frivol, sondern ein Beweis derselben tapferen Überzeugungstreue, die Ihr an Egidy zu rühmen pflegt,“ antwortete ich.
„Ein Atheist ist ein Verbrecher,“ stieß Mama aufgeregt hervor; dann schwiegen wir alle, in dem gemeinsamen Gefühl, auf der Straße keine Szene provozieren zu wollen.
Als am nächsten Tage der Herbst mit Sturm und Regen durch die Straßen fegte und die Bäume arm und kahl zurückließ, die eben noch im Glanz ihres bunten Kleides geprangt hatten, atmete Mama förmlich erleichtert auf: „Nun haben die Zoo-Nachmittage ein Ende!“
Ich aber nahm mein altes Glaubensbekenntnis und mein kleines schwarzes Buch und verließ das Haus zur gewöhnlichen Stunde.
Über den öden Wittenbergplatz führte mein Weg an einer Reihe von Neubauten vorbei, aus denen ein feuchter Kellergeruch mir entgegenströmte, der mich frösteln machte. Die Kleiststraße ging ich entlang, deren neue Häuser, wie lauter Parvenüs, sich durch überladenen Schmuck gegenseitig zu überbieten suchten, und bog dann in die stille dunkle Nettelbeckstraße ein. Schüchterne Sonnenstrahlen, die gerade die Wolken durchbrachen, trafen nur noch die Dächer der Häuser. In eins davon trat ich.
„Professor von Glyzcinski?“ Die Portierfrau musterte mich von oben bis unten. „Gartenhaus – parterre!“ Der Hof war noch enger und lichtloser als bei uns, und die Treppe war vollkommen finster. Auf mein Klingeln öffnete der Diener. Im Flur konnte ich die Hand nichts vor Augen sehen. Im nächsten Moment aber schloß ich sie geblendet. Aus der Tür, durch die ich ins Zimmer trat, strömte ein Meer von rotgoldenem Licht.
„Willkommen, mein liebes, gnädiges Fräulein!“ hörte ich des Professors weiche Stimme sagen.
Und nun erst sah ich ihn: am Fenster saß er, das dicht von wildem Wein umsponnen, den Blick in lauter Gärten schweifen ließ. Auf die Bücher und Papiere, die den Schreibtisch vor ihm bedeckten, malte die Sonne lauter runde blinkende Silberflecken und streichelte an der Wand gegenüber die vielen, schön aneinandergereihten Bücher. Zwei Vögel mit buntschillernden Flügeln flatterten, durch meinen Eintritt aufgescheucht, durch den Raum und ließen langgezogene Flötentöne hören.
Auf den breiten Lehnstuhl neben dem Schreibtisch deutete einladend die weiße Hand Glyzcinskis, der mir mit seinen Kinderaugen und dem wesenlosen, unter Decken verborgenen Körper wie ein Zauberer inmitten seines Märchenreichs erschien. Flüchtig tauchte mein dunkles Zimmer vor meinem inneren Auge auf, – hatte meine Sehnsucht nicht dieses Märchenreich längst gesucht?
„Wissen Sie, daß ich Sie mit Bestimmtheit erwartet habe?!“ sagte er, „darum gibt es auch heute Kuchen zum Kaffee, wie an einem Festtag!“ Er versuchte von dem Tischchen aus, das der Diener hereingetragen hatte, mich zu bedienen. „Das ist Frauensache!“ lachte ich und nahm ihm die Kaffeekanne ab. Wie alte Freunde saßen wir beieinander.
Und dann las ich ihm „Wider die Lüge“ vor.
„Daß Sie mir nichts Gewöhnliches bringen würden, wußte ich,“ bemerkte er langsam nach einer kurzen Pause, die mich schon ganz ängstlich gemacht hatte. „Von keinem meiner Studenten dürfte ich so viel Geist und Kraft und Selbständigkeit erwarten … Ich habe lange über Sie nachgedacht, aber das Resultat dieses Nachdenkens hätte ich noch für mich behalten, wenn Sie mir nicht diesen Einblick in Ihr Geistesleben gewährt haben würden. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, dessen selbstsüchtige Beweggründe mein Gewissen freilich arg belasten: Sie haben keinen Bruder, ich keine Schwester, – lassen Sie mich Ihren Bruder sein, und gestatten Sie mir dann als solchem, mich Ihrer anzunehmen. All die guten Freunde drüben –“ er zeigte auf den Bücherschrank – „will ich Ihnen vorstellen; Sie werden rasch nachholen, was Ihnen an philosophischen Kenntnissen fehlt, – und dann – –,“ er stockte.
„Dann?!“ frug ich gespannt.
„Dann werden Sie tun, was mir versagt ist: unsere Ideen unter die Massen tragen.“
„Werde ich es können – – dürfen?! Meine Eltern sind schon jetzt …“
Er unterbrach mich. Ein harter Zug grub sich um seine Mundwinkel. „Wer den Pflug anfaßt und stehet zurück, der ist unserer Sache nicht wert …“
„So lehren Sie mich Ihre Sache kennen, – ich glaube freilich schon von vorn herein, daß es auch die meine sein wird!“
„Sie sollen nichts glauben, woran Sie zu glauben noch gar kein Recht haben! Das ist die Lehre der neuen Tugend, der intellektuellen Redlichkeit! – Nehmen Sie die Bücher dort mit dem dunkelblauen Rücken, – lesen Sie sie in aller Ruhe, und dann sagen Sie mir, was Sie darüber und was Sie über meinen Vorschlag denken.“
Ich erhob mich. Es wurde mir sehr schwer, diesen stillen Raum zu verlassen, der von dem hellen Geist starker Freudigkeit erfüllt schien, wie von der glänzenden Oktobersonne.
„Haben Sie Dank, vielen Dank,“ sagte ich noch und wandte mich zum Gehen. Ich stand schon an der Tür, als ich noch einmal seine Stimme hörte:
„Nicht wahr – Sie kommen bald, recht bald – – morgen schon?“ Ich nickte. Und dann verschlang mich der dunkle Flur, der finstere Hof, die kühle Straße.
„Woher kommst du?“ Mit dieser von einem mißtrauischen Blick begleiteten Frage, empfing mich zu Hause mein Vater. Sie saßen alle drei beim Abendessen. Ich hatte schon irgend eine billige Ausrede auf der Zunge – aber plötzlich wurde mir klar, daß jede verlogene Heimlichkeit mein Erlebnis beschmutzen würde.
„Von Herrn Professor von Glyzcinski …“ Mein Vater hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.
„Unerhört!“ rief er „und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen, nachdem du meine Meinung über diesen Verkehr erst gestern deutlich genug gehört hast?! – Und – Und rennst wie ein Frauenzimmer einem unverheirateten Mann in die Wohnung?! – Willst du mich denn durchaus ins Grab bringen, mit all der Schande, die du mir machst?“ Er lief aufgeregt im Zimmer umher, während helle Schweißtropfen auf seiner Stirne standen.
Ich zwang mich zur Ruhe: „Du weißt wohl nicht, was du sagst, Papa! Herr von Glyzcinski ist ein Schwerkranker, meinen Besuch kann niemand mißdeuten!“
Aber die Wut, in die er sich hineingeredet hatte, steigerte sich nur noch mehr. Ich versuchte das Zimmer zu verlassen, während Mama und Klein-Ilschen, vor Schrecken stumm, sich nicht zu rühren wagten.
„Du bleibst!“ schrie mein Vater und packte mein Handgelenk. „Versprich mir, daß dieser Besuch der erste und der letzte war, und ich will ihn vergessen!“ Und gleich darauf ruhten seine Blicke mit einem Ausdruck liebevoll besorgter Bitte auf mir. Mein Herz krampfte sich zusammen: Sinnlosem Zorn konnte ich die Stirne bieten, – aber der Liebe?! Ich schloß eine Sekunde lang die Augen: Wer den Pflug anfaßt…!
„Ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen, Papa!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Dann brach der Sturm von neuem los. Auch meine Mutter mischte sich hinein, – von den teuflischen Verführungskünsten des Gottesleugners hörte ich sie etwas sagen, auch von Weimar sprach sie und versuchte, mich zu bestimmen, meinen für das nächste Frühjahr beabsichtigten Besuch auf die allernächsten Tage festzusetzen. An meinen Ehrgeiz, an meine Eitelkeit appellierte sie, während meines Vaters Stimmung, wie stets nach einem solchen Ausbruch der Leidenschaft, immer weicher wurde. „Wir sind an allem Schuld, wir allein,“ sagte er, „wir haben dir keinen Verkehr verschafft, wie du ihn zu fordern ein Recht hast. Aber das soll anders – ganz anders werden. Wir werden an den Hof gehen, wo wir hingehören. Und du wirst nun auch mein gutes Kind sein und gehorchen!“
„Nein, Papa! – Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Wäre ich Euer Sohn, statt Eure Tochter, ihr würdet es selbstverständlich finden, wenn ich meine eigenen Wege ginge. Ich kann nicht denken wie ihr, und ich bin außerstande, nichts als eine Haustochter zu sein. Paßt Euch der Verkehr nicht, der mir notwendig ist, wollt Ihr Euch nicht mit mir identifizieren, so laßt mich in Frieden meiner Wege gehen, – gebt mir freiwillig die Freiheit!“
Meine Worte wirkten verblüffend. Die Eltern waren plötzlich ganz ruhig geworden. Sie schienen auf das tiefste verletzt. „Daß wir über solchen Wahnwitz mit dir verhandeln, wirst du selbst nicht erwarten können,“ sagte Papa kalt. „Geh in dein Zimmer. Bis morgen früh dürftest du wohl zur Vernunft gekommen sein.“
Aber der Morgen kam und fand mich entschlossen, eher das Haus zu verlassen, als auf meine Besuche bei Herrn von Glyzcinski zu verzichten. Und die Eltern, die zwischen dem Skandal einer davonlaufenden Tochter und dem Eingehen auf ihre Wünsche zu wählen hatten, gaben mir nach. Eine drückende Stimmung, wie geladen von Mißtrauen und Feindseligkeit, blieb zurück. Nur Papa gab sich alle Mühe, meine Interessen auf andere Wege zu leiten. Meine Teilnahme an den Bestrebungen Egidys schien ihm sogar erwünscht, um die Einflüsse von der anderen Seite zu paralysieren. Er selbst hielt sich davon zurück. „Es widerstrebt mir, mich als preußischer General in irgendeine öffentliche Bewegung zu mischen. Ich bin Soldat, – nichts weiter,“ sagte er zu Egidy bei unserem Gegenbesuch, der der erste und letzte war, den er bei ihm machte. Um so häufiger geleitete mich meine Mutter in die Spenerstraße, zuerst mit mißmutig aufeinander gepreßten Lippen, nur aus Pflichtgefühl, – den Standesgenossen gegenüber mußte doch die Form gewahrt werden, die einem jungen Mädchen nicht gestattete, allein in Gesellschaft zu gehen! – Dann mit steigender persönlicher Neigung. Diese bunte Welt, die sich jeden Dienstag Abend in dem gastfreien Hause zusammenfand, war eine völlig neue für sie, und mit einer fast kindlichen Neugierde beschäftigte sie sich mit jedem Besucher, während bei mir das Interesse an dem bloß Neuen und Fremdartigen um so mehr erlahmte, je leidenschaftlicher ich nach Gesinnungsgenossen suchte.
Eigenbrödler aller Art füllten die Salons der Familie Egidy, bis zu solchen herab, deren armer enger Geist durch die unablässige Beschäftigung mit einem einzigen Gedanken mehr und mehr in Verwirrung geraten war. Da gab es Menschen, die von der Rückkehr zur Natur das Heil der Welt erwarteten, barfuß gingen im Gewande des Nazareners, von Körnern lebten, die sie in der Tasche trugen; andere mit fahlen, asketischen Zügen, die mit der ganzen mühselig zurückgedämmten Leidenschaftlichkeit ihres Inneren die Selbstvernichtung der Menschheit predigten, und, als ihr Gegensatz, fanatische Anarchisten, die die Freiheit ihrer eigenen kleinen Gelüste mit dem Schlagwort vom schrankenlosen Ausleben der Persönlichkeit zu rechtfertigen suchten. Studenten und Studentinnen aller Nationen fanden sich ein, deren jugendlicher Überschwang in Egidy einen neuen Heiland verehrte, und eine Menge ältliche Damen, die aus dem stillen Winkel ihres leeren Lebens hervorgekrochen schienen wie Maulwürfe, die die Sonne suchen, und mit dem Rest ihrer unterdrückten Gefühle verschwärmt zu Egidys Füßen saßen; verschämte Arme, die hier nichts wollten als den reich gedeckten Tisch, an dem sie einmal in der Woche satt werden konnten; mitten darin Abenteurer aller Art, die den reichen, nur allzu vertrauensseligen Mann für ihre Zwecke zu gewinnen suchten, und dazwischen – vereinzelt – ernste aufrichtige Anhänger, junge Literaten und Theologen zumeist, die sich vergebens bemühten, Egidy vor sich selbst zu schützen. Er hatte für Alle Zeit, für jeden Herzenskummer, der ihm anvertraut wurde, ein freundliches Interesse; und warnte man ihn vor diesem und jenem seiner Gäste, der ein notorischer Hochstapler war, so sagte er mit fester Überzeugung: „Wer zu mir kommt, der beweist dadurch, daß er gewillt ist, ein Anderer zu werden. Und ich sollte ihm mein Haus verschließen?“
Aber auch ernste, reife Menschen erschienen, Männer und Frauen mit berühmten Namen, die auf irgend einem reformbedürftigen Gebiet des öffentlichen Lebens tätig waren und alle versuchten, Egidy auf ihre Seite zu ziehen: Abstinenzler, Friedensfreunde und Bodenreformer, moderne Pädagogen und Frauenrechtlerinnen. Warteten sie nicht alle, die ihre Kräfte in dramatischen Gesten oder in der Kleinarbeit winziger Reförmchen erschöpften, ihrer selbst unbewußt, auf irgend ein Zauberwort, das ihre eigenen Fesseln sprengen und sie zu gemeinsamer großer Leistung vereinigen würde? War Egidy der Mann, der es aussprechen sollte?
Ich hatte inzwischen die Bücher Glyzcinskis gelesen: seine eigene Moralphilosophie und die Schriften der Gründer und Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas und Englands. Sie vertraten die Einheit der Moral gegenüber der Vielheit der Religionen, sie waren überzeugt, daß alle Menschen, die ernstlich das Gute wollen, sich, unabhängig von ihren verschiedenartigen transzendenten Anschauungen, auf dem Boden allgemein gültiger Ethik zu dem großen Werk sittlicher und sozialer Reform vereinigen könnten. Über Gott und den Göttern stand für sie das Absolute, die Moral; denn nicht darum ist das Gute gut, sagten sie, weil Gott es seinen Gläubigen zu tun befiehlt, er befiehlt es vielmehr, weil es gut ist, also muß auch für die Gottgläubigen das Gute das Allumfassende sein. Sie selbst stellten für das sittliche Handeln keine Einzelvorschriften auf, sie erkannten vielmehr als dessen Richtschnur und Prüfstein das größtmögliche Glück der größten Mehrzahl.
Auf mich wirkten diese Werke wie eine Offenbarung: hier war das erlösende Wort, das nicht nur all die auf Seitenwegen Umherirrenden zusammen rufen und dem gemeinsamen Ziel entgegenführen würde, hier war der Zauberstab, der aus den Felsenherzen der Menschen lebendige Brunnen tatkräftigen Wirkens hervorlocken könnte; hier breitete sich vor meinen inneren Augen jungfräulicher Boden aus, den ich mit zu roden und zu bebauen bestimmt schien. Eine Ethische Gesellschaft in Deutschland zu gründen, die das öffentliche Gewissen der Nation werden sollte, – darauf richteten sich alle meine Gedanken.
Ich ging täglich zum Professor. Schon lange hegte er denselben Wunsch wie ich, ohne, seiner eigenen Gebrechlichkeit wegen, an die Möglichkeit naher Erfüllung zu glauben.
„Hatte ich nicht recht,“ sagte er einmal, „wenn ich meinte, ich müsse eigentlich dem lieben Gott dankbar sein für die merkwürdige Begegnung mit Ihnen? Durch Sie wird der Lieblingstraum meines Lebens in Erfüllung gehen!“
Wir arbeiteten unseren Plan in allen Einzelheiten aus: Mitglieder der verschiedensten religiösen und politischen Richtungen sollten den ersten Aufruf zur Gründung der Ethischen Gesellschaft unterzeichnen. Ihr Zweck sollte sein, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem alle Menschen ihre Gedanken freimütig über alle brennenden Fragen der Gegenwart auszutauschen vermöchten, von dem aus gemeinsam geschaffene Gesetzesvorschläge den Regierungen unterbreitet und zu den Ereignissen des öffentlichen Lebens Stellung genommen werden sollte. Niemand dürfe um seines Glaubens oder seinen politischen Anschauungen wegen bekämpft oder ausgeschlossen werden, es sei denn, daß er dadurch gegen das Grundprinzip der Gesellschaft verstoße: das größte Glück der größten Anzahl zu fördern.
Mein Gedankengang geriet bei diesem Punkt ins Stocken. „Wenn ichs mir recht überlege,“ sagte ich nachdenklich, „kann ein echter Christ sich unserem Bunde nicht anschließen. Toleranz gegen Andersgläubige kann bei denjenigen kaum erwartet werden, die überzeugt sind, daß ihr Glaube der allein selig machende sei; und das größte Glück als Ziel unseres Strebens aufstellen, ist vollends ganz und gar unchristlich.“
Glyzcinski lachte: „Sie haben einen hellen Kopf, liebe Freundin, darum lassen Sie mich ihnen noch eins verraten: Niemand, der von Herzen an einen lebendigen Gott glaubt, kann auf unsere Seite treten; oder dürfte er zugeben, daß Gott selbst sich der Moral unterordnet?! Die Religion als vager metaphysischer Glaube, als flüchtig berauschendes Genußmittel schwacher Seelen kann innerhalb unserer Reihen Anhänger haben, nicht aber die Religion als Grundlage der Sittlichkeit, – und damit wird ihr Halt und Inhalt zugleich entzogen. Der Kaiser und die Junker haben von ihrem Standpunkt aus vollkommen recht, wenn sie dem Volke die Religion erhalten und die Schule der Kirche mit Haut und Haar ausliefern möchten: nichts hindert die Verbreitung wahrer ethischer Kultur mehr als die Religion. Die Dankbarkeit für alles, was wir haben und sind, körperlich und geistig, wird in sentimentalen Gefühlen auf Gott gelenkt, statt daß sie sich in Taten auslöst für die Menschheit, der wir in Wirklichkeit alles verdanken. Aller Widerstand gegen das Böse, alle Kampfeslust gegen das Unglück wird dadurch gelähmt, daß man den Menschen lehrt, sich demütig vor Gottes Willen zu neigen, und ihnen den Glauben an die ewige Seligkeit einstößt. Und alle Tapferkeit, alle Menschenliebe, alle Kraft zur Selbstbefreiung und zur Befreiung der Menschheit aus Elend und Knechtschaft wird im Keime erstickt, wenn die Verantwortlichkeit für das Leiden auf die Gottheit abgewälzt werden kann.“
„Ich verstehe Sie nicht, – Sie scheinen gegen den eigenen Plan zu sprechen, – nach Ihnen müßte keine ethische, sondern eine atheistische Gemeinschaft gegründet werden,“ wandte ich ein.
„Sie irren, – atheistische Pfaffen, die wir in diesem Fall züchten würden, schaden unserer Sache mindestens ebenso viel wie kirchliche. Ethik wollen wir verbreiten, und in dieser Ethik ruht die Kraft der Wahrhaftigkeit, die allmählich alle alten Gespenster austreiben wird. Für mich – wir beide sprechen offen miteinander! – – ist die Hauptaufgabe der Ethischen Gesellschaft nicht die, für Gerade und Krumme ein gleichmäßig passendes moralisches Mäntelchen zuzuschneiden, sondern im Dienst der sittlichen und sozialen Entwicklung dem Antichristentum und dem Sozialismus die Wege zu bereiten!“
Ich schwieg; ein tiefer Schrecken vor unbekannten Gefahren hatte mich erfaßt. Der Sozialismus! – Männer mit niedrigen Stirnen und schwieligen Fäusten sah ich, schwindsüchtige Frauen und Kinder mit Greisengesichtern, ein Zug von Gestalten, haßerfüllt die Züge, die Fäuste drohend erhoben wider alles, was unser Leben schön und reich machte, eingehüllt in einen Geruch von Schweiß und Blut. Helfen wollte ich ihnen, – einen Weg wollte ich hauen durch die Wildnis ihres Elends, ich fürchtete nicht die Dornen, die mir die Hände zerreißen, die fallenden Äste, die mich verwunden würden, – aber mich ihrem Zuge einreihen –, mich schauderte.
„Wie sind Sie blaß und still geworden!“ hörte ich Glyzcinskis warme Stimme. „Verzeihen Sie mir – ich habe mich schon so daran gewöhnt, vor Ihnen laut zu denken, daß mir nicht einfiel, wie sehr ich Sie dadurch erschrecken könnte!“
„Sie haben nur, wie immer, zu gut von mir gedacht, und ich bedarf ihrer Verzeihung, – nicht umgekehrt,“ antwortete ich. „Sie müssen Geduld mit mir haben, – ich muß mich erst an die Neuheit des Gedankens gewöhnen. Ich weiß ja auch im Grunde gar nichts vom Wesen des Sozialismus. Vieles, was ich hörte, stimmte wohl mit meinen eigenen Ansichten überein, vieles aber hat mich immer abgestoßen –.“
„Ich werde wieder meine stummen Freunde für mich sprechen lassen!“ Und Glyzcinski bezeichnete mir die Bücher und Broschüren, die ich aus seinem Bücherschrank nehmen sollte. „Nur eins möchte ich Ihnen gleich heute sagen: Auf dem Wege wissenschaftlichen Studiums bin ich zu meinen ethischen Überzeugungen gelangt, auf demselben Wege habe ich erkannt, daß die Entwicklung zum Sozialismus eine gesetzmäßige, unabänderliche ist, gleichgültig, ob unser Gefühl sich dagegen sträubt oder nicht. Nachdem ich das aber einmal erkannt habe, kann es für mich von meinem ethischen Standpunkt aus keine andere Wahl geben, als die, mich in den Dienst der Entwicklung zu stellen und mit allen Kräften dahin zu wirken, daß sie eine möglichst friedliche, das Glück der Menschen möglichst wenig gefährdende sei. Andere denselben Weg der Erkenntnis zu führen, den ich gegangen bin, – das ist daher meine Aufgabe –, das ist die Aufgabe, die die Ethischen Gesellschaften haben sollten.“
„Und Sie glauben, daß die Menschen sich dahin führen lassen werden?!“
Des Professors Gesicht nahm jenen kindlich-strahlenden Ausdruck an, der mich immer an gotische Heiligenbilder erinnerte.
„Ich glaube daran! Sonst müßte ich mich selbst für eine Ausnahme aller Regel halten!“
Auch Egidy, dachte ich auf dem Heimweg, ist solch ein Gläubiger; bei ihm soll das Einige Christentum vollenden, was der Professor von der Ethischen Kultur erwartet.
Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei jedem Umschlagen einer Seite erwartete ich das Gräßliche zu finden, das so vielen Menschen das Recht gab, den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte mich, und wenn ich überrascht war,so nur über die Selbstverständlichkeit jeder Kritik am Bestehenden und jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im stillen vor Freude, wenn ich eigene, längst vertraute Ideen wiederfand; und wo meine Gedanken nicht Schritt halten konnten, sagte mein Gefühl ja und tausendmal ja. Gleiche Rechte für alle: Männer und Frauen; Freiheit der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle; freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens –: wie konnte irgend jemand, der auch nun über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!
Eugen Richters famose Broschüre, die ich im Sommer gelesen hatte, und die Onkel Walter in Pirgallen gratis unter die Arbeiter verteilte, fiel mir ein. Sollte der Verfasser wissentlich gelogen haben? Und war es Lüge, nichts als Lüge, was die Gegner vom Sozialismus verbreiteten? Das der Professor mir irgend etwas vorenthalten haben konnte, war doch unmöglich!
Ich besprach alles mit ihm: meine freudige Zustimmung und meine Zweifel und Bedenken. Der erfurter Parteitag war eben geschlossen worden, das neue Programm lag vor, und Glyzcinski erklärte es mir in allen seinen Einzelheiten. Ich sah, daß die vielverlästerte und mir immer lächerlich erschienene Forderung nach der Verteilung allen Besitzes in Wirklichkeit nicht vorhanden war, daß nur der Grund und Boden, der seine privaten Besitzer reich machte, ohne daß sie arbeiteten, und die Produktionsmittel der Industrie, durch die ihre Eigentümer zu Millionären wurden und ihre Arbeiter zu abhängigen Sklaven, in den Besitz der Allgemeinheit übergehen sollten. Dabei konnten wir alle nur gewinnen, – wir vielen, die wir doch auch nichts als Besitzlose waren! – Warum sträubten wir uns dann?
„Sie sehen selbst: Unwissenheit und Selbstsucht sind die Gegner der Sozialdemokratie, die Lüge ihre Waffe,“ sagte der Professor, „und wir sollten sie zu besiegen nicht imstande sein?!“
Die Zeit damals war geladen mit Elektrizität. Überall schien die alte Erde von unterirdischen Donnern erschüttert, und hie und da klaffte ein dunkelgähnender Abgrund, wo noch eben grüne Wiesen gelacht hatten. Schmutzige Geldgeschichten in preußischen Ministerhotels, Betrugsanklagen gegen Vertreter der deutschen Regierung im Ausland; Unterschlagungen von Kirchengeldern und wohltätigen Stiftungen durch christliche, vom Hof protegierte Bankhäuser erschütterten das noch vorhandene Vertrauen in die Unantastbarkeit preußischen Beamtentums und christlicher Tugenden. Und wer, wie ich, von den Tiefen menschlichen Elends und menschlicher Verworfenheit noch wenig wußte, dem riß der Prozeß Heintze die letzten Schleier von den Augen. Diese gewaltsame Enthüllung der Wahrheit, die selbst die, die nicht sehen wollten, zum Sehen zwang, wirkte wie Wetterleuchten, das großen Umwälzungen vorhergeht.
Im Egidyschen Kreise, dem ich jetzt um so seltener fern blieb, als ich gerade hier die erfolgreichste Propaganda für die Ideen der Ethischen Kultur glaubte machen zu können, trat die durch die öffentlichen Ereignisse hervorgerufene Erregung deutlich zutage. Egidy pflegte kurze Vorträge zu halten, in denen Tagesfragen stets berührt wurden; selten nur begegnete ihm ein Widerspruch, fast immer konnte er der jubelnden Zustimmung seiner Gäste sicher sein, wenn er in seiner halb kindlichen, halb herrischen Weise alle Fragen spielend löste. „Wir brauchen nur Christen zu sein, ganz und gar Christen, und wir haben keine Rasse-, keine Geschlechts- und keine sozialen Probleme mehr,“ erklärte er, und mit unerschütterlichem Optimismus hoffte er auf den Kaiser: „Nach einem Führer unserer Bewegung, die das ganze Volk ohne Ausnahme umfassen wird, braucht ein Land nicht zu suchen, dem Fürsten geboren werden.“ Ich war fast die einzige, die nicht nur skeptisch blieb, sondern alles daran setzte, die große Persönlichkeit dieses Mannes, die mir wie geschaffen zu sein schien, Hunderttausende mit sich zu reißen, den Ideen der Ethischen Bewegung zu gewinnen. Wir debattierten oft stundenlang und setzten dann noch brieflich unsere Diskussionen fort.
„Wir wollen beide dasselbe,“ sagte er einmal, „und auf diesen ernsten Willen kommt es an.“
„Ist unser Wille der gleiche, und sind unsere Gedanken dieselben, so haben Sie so wenig das Recht wie ich, sich für neuen Wein alter Schläuche zu bedienen!“ antwortete ich.
„Das Christentum – mein Christentum Jesu ist aber nicht der alte Schlauch, den die Kirche gemacht hat, mit der ich ganz und gar nichts zu tun habe,“ beharrte er.
„Ich will überhaupt nur, daß etwas wird,“ schrieb er bald darauf: „Wir wollen die Religion leben; setzen Sie für das Wort: Religion – Ethik, so ist’s mir recht, aber für das Wort: leben sollen Sie mir kein anderes setzen. – Wir müssen das Christentum ernst nehmen; setzen Sie für Christentum – Ethik, so ist’s mir recht, das Ernstnehmen aber lasse ich mir nicht fortstreichen. Wir haben lange genug entwickelt, – ich will nun Entfaltung sehen. Wieder bloß reden, bloß predigen, bloß erziehen, derweilen die Menschen weiter hungern und die Welt aus Laune einzelner in Waffen starrt, – nein! Mein Streben geht darauf hin, Zustände zu schaffen, die verwirklichen, was Sie predigen. Der Staat soll eine große ethische Gesellschaft sein, jede Schule eine in Ihrem Sinne ethische, in meinem Sinne religiöse Gemeinschaft erziehen. Glauben Sie mir: ich marschiere ganz auf realem Boden. Daß auch Fräulein von Kleve – traurig oder lächelnd? – den Kopf schüttelt, tut mir furchtbar weh. Entmutigen aber darf es mich nicht. Sie waren ja vor mir auf dem Schlachtfelde, – ich weiß das recht gut. Die Frage wird schließlich einfach die sein: wer der Menschheit zumeist genützt haben wird, – Ethische Gesellschaft oder Angewandtes Christentum. Sie beantwortet sich allenfalls heute schon daraus: womit begründet jemand seine Ansprüche an die Gemeinsamkeit wirksamer: indem er auf Grund ethischer Prinzipien – ‚neuer Werte‘ – fordert, oder indem er auf Grund des ‚gerade von euch, ihr Herren‘ gepredigten Christentums, im Namen des Jesus von Nazareth verlangt? …“
„Auch ich will, daß etwas wird,“ antwortete ich ihm, „aber ich sehe nicht, daß wir, die wir jede gewaltsame Durchsetzung neuer Zustände ablehnen, dieses Werden anders fördern können, als durch ‚reden‘, ‚erziehen‘, ‚predigen‘, das heißt durch Verbreitung neuer Ideen. Sie tun doch auch nichts anderes! Und Sie werden mir gewiß zugeben, daß Reden – ‚bloß reden‘ (!) – eine mutigere und an Folgen reichere Tat sein kann, als Schlachten schlagen. Auf diese Folgen kommt es an, sagen Sie, und wieder finden Sie mich auf Ihrer Seite. Wenn ich aber wirklich zuweilen traurig – niemals lächelnd! – den Kopf schüttele, so nur deshalb, weil ich überzeugt bin, daß die Folgen der von Ihnen ins Leben gerufenen Bewegung größere sein würden, wenn Sie sich anderer Mittel bedienten. Die ursprüngliche Lehre Jesu mag mit Ihren Ansichten übereinstimmen – das zu entscheiden wäre Sache gelehrter theologischer Forschung –, aber das, was heute die ganze Welt unter Christentum versteht, ist etwas im Laufe der Jahrhunderte historisch Gewordenes, das umzustoßen viel mehr Zeit, viel mehr Kraft erfordern würde, – falls es überhaupt möglich ist! –, als neue Werte unter neuem Namen in die Köpfe und Herzen zu pflanzen …“
Aber all unsere Auseinandersetzungen, in denen wir im Grunde mit größerer Leidenschaft um einander, als um Ideen kämpften, blieben fruchtlos. „Also – ich reite allein!“ schrieb mir Egidy in einem Augenblick, wo wir, wie erschöpft vom Kampf, mit gesenktem Degen stumm voneinander gegangen waren, „aber – den Glauben dürfen, richtiger: können Sie mir nicht rauben, daß Sie und ich im kleinsten Finger dasselbe meinen; ich habe Sie erfaßt, nur Sie mich nicht! Warum? ich werde es Ihnen einmal sagen, – nicht schreiben; ich habe ein ganz klares Bewußtsein davon …“
Glyzcinski gegenüber gab ich meinem Unmut über das Vergebliche meines Bemühens lebhaften Ausdruck. Er selbst hatte ursprünglich auf Egidy, als einen unserer künftigen Mitkämpfer, außerordentlichen Wert gelegt. Allmählich grub sich eine kleine Falte zwischen seine Brauen, wenn ich von ihm erzählte. „Sie sollten Ihre Kräfte nicht länger an eine verlorene Sache verschwenden,“ meinte er dann. Aber ich konnte mich um so weniger beruhigen, als mir ein Zusammenstoß zwischen den beiden Bewegungen unvermeidlich schien, je mehr sie an Bedeutung gewannen.
Einer der Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas war auf Glyzcinskis Veranlassung nach Berlin gekommen, seine Vorträge hatten große Aufmerksamkeit erregt und im Kreise der Intellektuellen lebhafte Debatten hervorgerufen. Ich sah, wie schmerzlich Egidy und seine Anhänger das Auftreten des Ethikers empfanden. An den folgenden Dienstagabenden drängten sich die Menschen mehr als sonst in den Salons der Spenerstraße; die hektisch geröteten Wangen vieler Besucher verrieten ihre krankhaft gesteigerte Aufregung; und welcher Gruppe ich mich auch näherte: die Plaudernden verstummten oder stoben scheu auseinander.
„Man hat Sie als Spitzel der Ethischen Bewegung verdächtigt,“ sagte lachend Wilhelm von Polenz, ein treuer Freund und ständiger Gast des Egidyschen Hauses, den ich um Aufklärung bat. „Bande!“ – stieß ich zwischen den Zähnen hervor. „Sie haben mit Ihrer Bezeichnung, fürcht’ ich, mehr recht, als Sie ahnen,“ – des jungen Dichters Züge waren ernst, fast traurig geworden – „es ist ein Jammer, daß unser Freund diese Umgebung hat und duldet. Aber es muß anders werden!“ fügte er nach einer Pause hinzu. „Ich denke an solche, die fähig und würdig sind, Träger seiner Ideen zu sein, und die – vielleicht unbewußt – nach Vertiefung und Bereicherung ihres Innenlebens lechzen: an unsere jungen Künstler und Literaten.“ Egidy begann zu reden und unterbrach unser Gespräch. Meine Gedanken waren aber noch dabei; Polenz hatte recht, ganz recht: die Dichter der „Ehre“, der „Familie Selicke“, des „Vor Sonnenaufgang“ waren unsere geborenen Mitkämpfer. Unsere?! – die der Ethischen Bewegung natürlich!
„… Jetzt haben die Ethiker den Triumph, daß Orthodoxe und Liberale ihnen Beifall rauschen,“ hörte ich Egidys klare, scharfe Kommandostimme, „weil sie erklären, die allgemein menschliche Moral zu vertreten und den religiösen Glauben des einzelnen nicht anzutasten. Ich aber muß es über mich ergehen lassen, daß man sich schaudernd von mir wendet, weil ich dem dogmatischen Christentum zu Leibe gehe. Ich sage Ihnen, daß ich jedem Dogma zu Leibe gehe, – aber mit offenem Visire, nicht so, daß man erst gar nichts Böses hinter mir ahnt und ich mich dann erst als Erzketzer entpuppe, sondern: erst Ketzer – dann ganzer und wahrer und Nur-Mensch, – – so sind noch nicht viele in die Schranken des öffentlichen Lebens eingeritten …“ Ein langer Blick traf mich, und irgend etwas Unbestimmtes – wars Arger, wars Beschämung? – ließ mich erröten… „Doch im Namen wahrer Religion tue ich es. Die Ethiker haben keinen Namen, der so alles in sich schließt, wie Religion. Hat man den Namen bisher mißbraucht, so soll man ihn jetzt zu Ehren bringen: Religion nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst Religion! Und diese Religion bezeichne ich mit dem Worte Christentum. Mögen die Ethiker es doch versuchen, mit einem anderen Wort etwas zu erreichen! Aufs Erreichen kommt es an, nicht auf den Widerwillen, den man gegen Begriffe und Worte hat, die achtzehnhundert Jahre lang der Deckmantel schnödester Frevel waren. Jetzt aber soll es anders werden. Wille wird! aber nicht, indem man das Banner fortwirft, und es der Menge überläßt, kopfscheu auseinander zu rennen, sondern indem man es höher denn je erhebt und mutig ausruft: Alle hierher! Eben entdecken wir erst, daß es noch nie richtig entrollt war – in den Falten, die man unseren Blicken entzog, steht ja ganz was anderes –, die ganze Menschheit soll dies Banner stützen, und nicht die Kirche!“
Es war sekundenlang still. Egidy hatte sich ein für allemal jede Beifallsäußerung streng verboten. Die Zunächststehenden sahen mich erwartungsvoll an. Das Herz klopfte mir bis zum Halse herauf – mir wurde heiß und kalt –, ich fühlte, ich mußte sprechen. Es dunkelte mir vor den Augen, die Angst schnürte mir fast die Kehle zu, – wie sollt’ ich die Worte finden, wie reden, wenn all die vielen feindseligen Blicke mir entgegenblitzten?! Und doch: dürft’ ich zum erstenmal, wo die Gelegenheit sich bot, die große Sache zu verteidigen, – meine Sache! –, durfte ich feige schweigen?!
„Herr von Egidy stellte die Lage so dar, als ob es hieße: Hie Christentum – hie Ethik,“ begann ich, die zitternden Hände krampfhaft auf die Stuhllehne vor mir stützend, „während wir alle, deren gleiches Ziel die Wohlfahrt der Menschheit ist, nicht die Verschiedenheiten unserer Anschauungsweisen hervorsuchen, sondern die Einheit unserer Aufgaben betonen sollten …“
„Die Zerstörung der Kirche ist unsere Aufgabe!“ rief eine krächzende Stimme dazwischen. Ich suchte einen Augenblick verwirrt nach dem zerrissenen Faden meiner Rede und fuhr dann fort: „Wir Vertreter der Ethischen Bewegung legen auf das gemeinsame Handeln den größten Wert und meinen, daß es weit richtiger ist, gegen Hunger und Not zu kämpfen, als gegen die Kirche …“
Eine lebhaft gestikulierende Dame, der das Haar in stumpfblonden Strähnen über die Stirne hing, reckte die dürren Hände plötzlich hoch empor und schrie gellend: „Sie verleumdet Egidy, – duldet das nicht, duldet das nicht!“ Egidy machte eine kurze, beruhigende Bewegung und stand dann wieder mit verschränkten Armen, die Blicke starr auf mich gerichtet, unter dem Türrahmen. Ich weiß, daß ich in diesem Moment, wo die Aufregung um mich stieg, wie um Hilfe flehend zu ihm hinübersah.
„Wir sind der Überzeugung, daß das Gemeinsame der Menschen –“ fast mechanisch sprach ich jetzt und ausdruckslos – „nicht die Religion, die im Gegenteil die Welt in feindselige Lager teilt, wohl aber eine allgemeine Moral sein kann, auf Grund deren wir handeln.“ Mir wurde, angesichts der größeren Ruhe um mich her, freier ums Herz. „Das größte Glück der größten Anzahl – diese sittliche Richtschnur kann von allen anerkannt werden, ohne daß der Glaube des einzelnen verletzt zu werden braucht.“
„Dazu sind Sie ja viel zu feige!“ – wie ein gut gezielter Pfeilschuß flogen mir die Worte zu.
Ich sah auf Egidy – noch rührte er sich nicht – das Herz tat mir weh, und zugleich kam mir blitzartig die Erkenntnis, daß er im Grunde in seiner Rede dasselbe gemeint hatte. Ich zwang mich zur Ruhe und würdigte den Zwischenrufer keiner Antwort. „Herr von Egidy rühmte sich mit Recht, daß er mit offenem Visir kämpfe, – und wir und meine Freunde sind die letzten, die seinen Mut bezweifeln. Wir ehren jede Überzeugung, indem wir sie nicht antasten und über ihre Schranken hinweg den anderen die Hände reichen …“
Ein spöttisches Gelächter neben mir reizte meinen kaum unterbrunterdrückten Zorn, und alle Selbstbeherrschung verlierend, stürzten mir die Worte über die Lippen: „Sie sind feige, die Sie mich hinterrücks angreifen, – nicht ich! Viel rücksichtsloser als bei irgend einem unter Ihnen ist meine Gegnerschaft zur Kirche, zu den Dogmen, ja, zum Christentum selbst, dessen Inhalt, dessen Tendenz volks- und kulturfeindlich ist.“
„Alix!“ – meiner Mutter Stimme war’s, – in ein fassungsloses Schluchzen brach sie aus. Meine harte Mutter, die Empfindungen kaum zu kennen schien, sie zum mindesten immer in eisernen Fesseln hielt, – meine Mutter weinte! Wir führten sie hinaus, Egidy und ich. Er sprach ihr beruhigend zu, und ihre Augen wurden trocken, ihre Lippen bewegten sich zu mühsamem Lächeln. An der Tür streckte er mir die Hand entgegen, – ich übersah sie. Wir fuhren wortlos nach Haus. Erst als ich vor meinem Schlafzimmer ein leises „Gute Nacht“ flüsterte, schien sie sich des Geschehenen wieder zu erinnern.
„Du – du wagst es, mir eine gute Nacht zu wünschen?!“ kam es stoßweise über ihre Lippen. „Hast du mir nicht schon genug Kummer gemacht, und nun muß ich noch das Fürchterliche erleben, daß du in aller Öffentlichkeit unseren Herren und Heiland verleugnest?! … Dazu also hast du die Freiheit benutzt, die wir törichte, mehr als rücksichtsvolle Eltern dir gewährten, hast dir von dem Professor, der uns gegenüber die Maske des duldsamen Ethikers trägt, den Kopf verdrehen lassen! Ein schöner Dank für all unsere Liebe – – Aber das schwör’ ich dir zu: keinen Fuß setzt du mehr über die Schwelle dieses Elenden!“ Ich wollte heftig erwidern, aber schon war sie fort und schob geräuschvoll den Riegel vor ihre Türe.
Noch in der Nacht schrieb ich zwei Briefe, den einen an Egidy, worin ich mich bitter beklagte, daß er mich in seinem eigenen Hause den Angriffen seiner Anhänger schutzlos preisgegeben habe, und daß ich dafür nur eine Antwort hätte: ihm von nun an fern zu bleiben, und einen anderen an meine Kusine Mathilde, durch den ich sie bat, mich so rasch wie möglich zu sich einzuladen, da ich Berlin auf einige Zeit verlassen müsse. In aller Frühe steckte ich beide in den Kasten und ging zu Glyzcinski. Als ich bei ihm eintrat, in dies stille, vertraute Zimmer voll Licht und Frieden und Vogelgezwitscher, überfiel mich ein Schwindel, – sekundenlang lehnte ich mit fest auf das Herz gepreßten Händen an der Türe. Er hatte sich krampfhaft aufgerichtet und starrte mich an, die Augen angstvoll aufgerissen, die Züge leichenfahl. Und dann hielt er meine Hand in der seinen und ließ sie nicht los, so lange ich erzählte.
„Meine liebes, armes Schwesterchen!“ sagte er immer wieder. „Aber es mußte einmal so kommen, – Sie werden sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß schließlich ein Bruch zwischen Ihnen und den Ihren unvermeidlich ist.“ Ich ließ mutlos den Kopf sinken. „Dann erst werden Sie leisten können, was Sie zu leisten berufen sind.“
Ich sprach von meiner Absicht, abzureisen. Es legte sich wie ein Schleier über seine Augen, und ein fast unmerkliches Zucken ging durch seinen Körper. „Aber ich bleibe ohne Besinnen, wenn es Ihnen lieber ist,“ fügte ich rasch hinzu. Er lächelte gezwungen: „Mir scheint es freilich fast unmöglich, Sie zu missen, – aber gehen Sie – gehen Sie nur! Wie könnt’ ich verlangen, daß Sie mir ein Opfer bringen?!“ …
Ein Opfer?! schoß es mir durch den Kopf, – ist nicht der Gedanke für mich selbst beinahe unerträglich, ihn zu verlassen?! – –
Noch am Nachmittag kam ein Brief von Egidy. „Der Vorwurf, den Sie mir machen, bekümmert mich sehr,“ hieß es darin. „Ich habe nicht den Eindruck gehabt, daß mein Schutz Ihnen nötig war. Ich fand, daß Sie sich selbst am besten verteidigen konnten. Am tiefsten aber betrübt es mich, daß Sie jetzt von einem Wegbleiben reden. Der Gedanke, Sie missen zu müssen, ist mir schmerzlich. Ich habe Herz und Kopf noch so voll für Sie, – ich habe sie richtig lieb. Am schmerzlichsten aber ist der Stachel, den Ihre Worte mir ins Herz gesenkt: daß Ihnen dies Wegbleiben gar etwa so schwer nicht würde! Ich meine: andernfalls dürften Ihnen Vorkommnisse solcher Art einen solchen Gedanken nicht eingeben, vielmehr müßten Sie eine Befriedigung im Überwinden derartiger Dinge finden; dies um so mehr, als Sie meiner ritterlichen Verteidigung wohl überzeugt sein dürfen, sofern ich sehe, daß Sie derselben irgend benötigen. So wenigstens denke ich von der Aufrechterhaltung eines Bandes, das zu keinem anderen Zwecke besteht als zu dem: den Menschen zu dienen; – – ganz abgesehen von einem Gefühl wohltuender Freundschaft: ‚oh reiß den Faden nicht der Freundschaft kurz entzwei – wird sie auch wieder fest – ein Knoten bleibt dabei –‘ Wir werden uns aussprechen, – ich bin in wenigen Stunden bei Ihnen …“
Und er kam. Ich wollte ihn nicht sehen, meine Mutter empfing ihn; er blieb lange bei ihr, und als er gegangen war, trat sie mir mit ganz verändertem Ausdruck entgegen. „Egidy läßt dich grüßen,“ sagte sie, „danke es diesem prachtvollen Menschen, daß ich dir noch einmal verzeihe und deine Freiheit nicht antasten will.“
Noch am Abend brachte der Diener Glyzcinskis mir ein paar Zeilen von ihm: „Eben verläßt mich Egidy. Sein Besuch war mir eine doppelte Freude: Ich erfuhr, daß er Ihre Mutter beruhigen konnte, und lernte einen Mann kennen, wie es – trotz all seiner Schrullen und Eigenheiten – wenige geben mag. Nicht wahr, nun darf ich auch hoffen, daß Sie bleiben werden und bei mir wieder jeden Nachmittag Sonntag ist?!“
Egidy selbst schrieb mir nur vier Worte: „Hab ichs recht gemacht?!“
Ein politisches Ereignis von weittragender Bedeutung sollte dem Einigen Christentum Egidys und der Ethischen Bewegung, die bisher beide einen verhältnismäßig kleinen Kreis Getreuer umfaßten, gewaltigen Vorschub leisten: der Zedlitzsche Volksschulgesetzentwurf. Wer die Wissenschaft vertrat, oder einen auch nur gemäßigten Fortschritt, fühlte sich in seinen Idealen persönlich verletzt und suchte nach Gleichgesinnten, um den Mut zu gemeinsamen Protesten zu finden, den er für sich allein nicht aufbrachte. Die sich Christen nannten, strömten Egidy zu, die Juden und die Freidenker zeigten ein täglich wachsendes Interesse an der Ethischen Bewegung. Egidy selbst war zuerst so gedrückt durch die Täuschung, die sein Vertrauen auf den Kaiser gefunden hatte, – denn daß der Entwurf dessen persönlichstes Werk war, daran zweifelte kaum einer –, daß die neue Anhängerschaft ihn dafür nicht zu entschädigen vermochte. Vor der Menge zeigte er sich stark und hoffnungsfroh; sprach ich ihn allein, so schien mirs, als sänke dieser stramm aufgerichtete Soldat zum erstenmal müde zusammen. Kam ich dagegen zu Glyzcinski, so fand ich den Gelähmten in einer Stimmung, die strahlend aus seinem Antlitz sprach und täglich zuversichtlicher wurde. „Denen, die das Gute wollen, müssen alle Dinge zum Besten dienen,“ rief er mir zu, kaum daß ich eintrat. „Sehen Sie hier: –“ und er schwenkte ein paar Briefbogen wie eine Fahne, „nichts als Beitritts- und Zustimmungserklärungen. Mein alter Traum geht wirklich in Erfüllung: wir werden in Deutschland eine Ethische Gesellschaft haben!“
Ich erzählte es Egidy, – seit jenem bösen Dienstagabend war die Ethische Bewegung zwischen uns nicht mehr erwähnt worden –, er schüttelte langsam den Kopf: „Wenn es doch bei der bloßen Bewegung geblieben wäre!“ sagte er, „wie ganz anders flössen unsere Bestrebungen nicht nur neben- sondern ineinander, wenn Sie die Ihrigen nicht durch Satzungen zu einem künstlich gemauerten Kanal formen würden. Gedanken verbreiten, – das ist das einzig Not tuende! – Sie werden vor lauter Statutenberatungen und Vorstandssitzungen für diese Hauptsache gar keine Kraft und Zeit mehr übrig haben. Ein Verein – nun ja, – das ist ja ganz nett, aber – und nun glauben Sie mir einmal! – über kurz oder lang arten sie alle in Sport aus. Der Starke ist am mächtigsten allein!“
„Das sagen Sie!“ antwortete ich, ein wenig ärgerlich, „und doch tun Sie nichts anderes als Anhänger werben, die sich zwar nicht auf Statuten, wohl aber auf Ihren Namen verpflichten müssen. Sogar an Bebel hat sich Ihr Freund, der asketische Kandidat der Theologie, neulich gewandt – –“
„Gewiß – und mit meiner Zustimmung,“ unterbrach mich Egidy, „das Christentum schließt, wie alles andere Entwicklungsfähige, so auch den Sozialismus in seinen lebensfähigen und würdigen Forderungen in sich. Und einem Führer, wie Bebel, hätte ich eine richtigere Einsicht zugetraut. Wollen Sie seine Antwort lesen?“
Ich bejahte lebhaft und las den Brief nicht nur, sondern schrieb ihn auch ab, um ihn Glyzcinski zeigen zu können. Es hieß darin: „… Das Bürgertum sieht die Religion heute als eins der wirksamsten Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie an. Daher die Macht, die seit zwölf bis fünfzehn Jahren das Pfaffentum erlangte, und die Erscheinungen, die Herrn von Egidy zu seinem Kampfe gegen die herrschende Strömung aufreizten. Die Bürgerklasse, obwohl meist freigeistig, wird sich daher in ihrer Masse den Bestrebungen des Herrn von Egidy fernhalten, andererseits kann sich auch die Sozialdemokratie nicht für diesen Kampf begeistern, weil seine Ziele ihrer Natur nach nur eine Halbheit sein können und an dem sozialen und politischen Zustande, der hauptsächlich auf den Massen lastet, und dessen Beseitigung ihre Hauptaufgabe ist, nichts ändert. Sich für die Bestrebungen des Herrn von Egidy unsererseits zu engagieren, hieße unsere Kräfte zersplittern, aber auch zugleich seine Bestrebungen als sozialdemokratische stigmatisieren und ihm die Mehrzahl seiner Anhänger vertreiben … Voller Sympathie also für die Sache an sich, insofern uns jeder Kampf gegen bestehende Übel willkommen ist und den bestehenden Bau erschüttern hilft, können wir doch nicht gemeinsam wirken, weil unser Ziel weit über das von Herrn von Egidy gesteckte hinausführt … Da also der Berg nicht zu Mohammed kommen kann, muß Mohammed eben zum Berge kommen! …“
Hier war kein Satz, dem ich hätte widersprechen können: gewiß, seine Partei konnte sicher und ruhig ihren Zielen entgegen gehen; sie bedurfte unser nicht. Aber eines, so schien mir, vergaß Bebel: daß es neben dem Proletariat Millionen Menschen gibt, die nicht nur der endlichen Erlösung ebenso würdig und bedürftig sind, die sich vielmehr auch im Augenblick, wo die Arbeiterklasse schon die Fahne des Sieges aufzupflanzen imstande wäre, ihr wie eine Barriere in den Weg stellen würden. Mich und meinen Glauben an unsere Sache entmutigte weder Egidy noch Bebel. Und der Professor – dessen war ich gewiß – würde nicht anders denken als ich.
Mit Bebels Brief in der Hand, überschritt ich wieder einmal den engen Hof, die dunkle Treppe, den lichtlosen Flur, und stand schon vor seiner Türe, als eine Stimme von innen meinen Fuß stocken ließ. Sie klang tief und warm und hatte jenen österreichischen Akzent, der uns Norddeutsche, wie alles, was vom Süden kommt, so seltsam anheimelt.
„Alle Ströme fließen in unser Meer …“ sagte sie.
„Ich bin ganz Ihrer Meinung und wünschte, daß Ihre Partei uns ebenso einschätzt: als einen Nebenfluß, der ihr reiche Schätze zuzutragen vermag,“ antwortete der Professor. Noch ein Stühlerücken, ein paar Höflichkeitsphrasen, ein fester Tritt, – ich öffnete rasch die Türe, um nicht als Horcherin ertappt zu werden. Ein großer, blonder Mann stand mir gegenüber, wir sahen einander einen Augenblick lang ins Gesicht, und mit einer stummen Verbeugung ging er an mir vorbei zum Zimmer hinaus.
„Wer war das?“ frug ich erstaunt und strich mir mechanisch mit der Hand über die Stirne, – ich mußte diesen Menschen schon irgendwo gesehen haben.
„Dr. Brandt, – der bekannte sozialdemokratische Schriftsteller,“ sagte Glyzcinski, er strahlte noch vor Freude über den Besuch. „Was meinen Sie, sollen seine Worte der geheime Wahlspruch werden, den wir Beide an die Spitze unserer Satzungen stellen?“
„Alle Ströme fließen in unser Meer,“ wiederholte ich und drückte fest die Hand, die er mir entgegenstreckte – „hier haben Sie mich zum Bundesgenossen!“
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