Mitteilungen aus den Memoiren des Satan/Erster Teil/IV
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„Das größte Glück der Geschichtschreiber ist, daß die
Toten nicht gegen ihre Ansichten protestieren können.“
Welt und Zeit, I.[1]
Ich teile hier einen Abschnitt aus meinen Memoiren mit, welcher zwar nicht mich selbst betrifft, den ich mir aber aufzeichnete, weil er mir sehr interessant war und vielleicht auch anderen nicht ohne einiges Interesse sein möchte. Er führt die Aufschrift „Der Festtag im Fegefeuer“ und kam durch folgende Veranlassung zu diesem Titel. Es ist auf der Erde bei allen großen Herren und Potentaten Sitte, ihre Freude und ihre Trauer recht laut und deutlich zu begehen. Wenn ein aus fürstlichem Blute stammender Leib dem Staube wiedergegeben wird, haben die Küster im Land schwere Arbeit, denn man läutet viele Tage lang alle Glocken. Wird eine Prinzeß oder gar ein Stammhalter geboren, so verkündet schrecklicher Kanonendonner diese Nachricht. Landesväterliche oder landesmütterliche Geburtstäge werden mit allem möglichen Glanz begangen; die Bürgermilizen rücken aus, die Honoratioren halten einen Schmaus, abends ist Ball oder doch wenigstens in den Landstädtchen bière dansante; kurz, alles lebt in dulci jubilo an solchen Tagen.
[310] Um nun meiner guten Großmutter eine Ehre zu erweisen, hielt ich es auch schon seit mehreren Jahrhunderten so. Im Fegefeuer, wo sie sich gewöhnlich aufhält, ist immer an diesem Tage allgemeine Seelenfreiheit. Die Seelen bekommen diesen Tag über den Körper, den sie auf der Oberfläche hatten, ihre Kleider, ihre Gewohnheiten, ihre Sitten. Was von Adel da ist, muß Deputationen zum Handkuß der Alten schicken (in pleno können sie nicht vorgelassen werden, weil sonst die Prozession einige Tage lang dauerte). Ehemalige Hofmarschälle, Kammerherren u. s. w. haben den großen Dienst und schätzen es sich zur Ehre, die Honneurs zu machen, die Festlichkeiten zu leiten, die Touren bei den Bällen, welche abends gegeben werden, zu arrangieren u. s. w.
Ich erfülle durch diese Festlichkeiten einen doppelten Zweck; einmal fühlt sich chère Grande-Mama ungemein geschmeichelt durch diese Aufmerksamkeit, zweitens gelte ich unter den Seelen für einen honetten Mann, der ihnen auch ein Vergnügen gönnt, drittens macht dieser einzige Tag, in Freude und alten Gewohnheiten zugebracht, daß die Seelen sich nachher um so unglücklicher fühlen; was ganz zu dem Zweck einer solchen Anstalt, wie das Fegefeuer ist, paßt.
An einem solchen Festtag gehe ich dann verkleidet durch die Menge; manchmal erkennt man mich zwar, ein tausendstimmiges: „Vivat der Herr Teufel! Vive le diable!“ erfreut dann mein landesväterliches Herz, doch weiß ich wohl, daß es nicht weniger erzwungen ist als ein Hurra auf der Oberwelt, denn sie glauben, ich drücke sie noch mehr, wenn sie nicht schreien.
In meinem Inkognito besuche ich dann die verschiedenen Gruppen; tout comme chez vous, meine Herren, nur etwas grotesker, Kaffeegesellschaften, Thee von allen Sorten, diplomatische, militärische, theologische, staatswirtschaftliche, medizinische Klubs finden sich wie durch natürlichen Instinkt zusammen, machen sich einen guten Tag und führen ergötzliche Gespräche, die, wenn ich sie mitteilen wollte, auf manches Ereignis neuerer und älterer Zeit ein hübsches Licht werfen würden.
Einst trat ich in einen Saal des Café de Londres (denn, nebenbei gesagt, es ist an diesem Tag alles auf großem Fuß und [311] höchst elegant eingerichtet), ich traf dort nur drei junge Männer, die aber durch ihr Äußeres gleich meine Neugierde erweckten und mir, wenn sie ins Gespräch miteinander kommen sollten, nicht wenig Unterhaltung zu versprechen schienen. Ich verwandelte daher meinen Anzug in das Kostüm eines flinken Kellners und stellte mich in den Saal, um die Herrschaften zu bedienen.
Zwei dieser jungen Leute beschäftigten sich mit einer Partie Billard; ich markierte ihnen und betrachtete mir indes den dritten. Er war nachlässig in einen geräumigen Fauteuil zurückgelehnt, seine Beine ruhten auf einem vor ihm stehenden kleineren Stuhl, seine linke Hand spielte nachlässig mit einer Reitgerte, sein rechter Arm unterstützte das Kinn. Ein schöner Kopf! Das Gesicht länglich und sehr bleich; die Stirne hoch und frei, von hellbraunen, wohlfrisierten Haaren umgeben, die Nase gebogen und spitzig, wie aus weißem Wachs geformt, die Lippen dünn und angenehm gezogen, das Auge blau und hell, aber gewöhnlich kalt und ohne alles Interesse langsam über die Gegenstände hingleitend. Dies alles und ein feiner Hut, enger oben als unten, nachlässig auf ein Ohr gedrückt, ließen mich einen Engländer vermuten. Sein sehr feines, blendend weißes Linnenzeug, die gewählte, überaus einfache Kleidung konnte nur einem Gentleman, und zwar aus den höchsten Ständen, gehören. Ich sah in meiner Liste nach und fand, es sei Lord Robert Fotherhill. Er winkte, indem ich ihn so betrachtete, mit den Augen, weil es ihm wahrscheinlich zu unbequem war, zu rufen. Ich eilte zu ihm und stellte auf seinen Befehl ein großes Glas Rum, eine Havanazigarre und eine brennende Wachskerze vor ihn hin.
Die beiden andern Herren hatten indes ihr Spiel geendigt und nahten sich dem Tische, an welchem der Engländer saß; ich warf schnell einen Blick in meine Liste und erfuhr, der eine sei ein junger Franzose, Marquis de Lasulot, der andere ein Baron von Garnmacher, ein Deutscher.
Der Franzose war ein kleines, untersetztes, gewandtes Männchen. Sein schwarzes Haar und der dickgelockte schwarze Backenbart standen sehr hübsch zu einem etwas verbrannten Teint, hochroten Wangen und beweglichen, freundlichen schwarzen Augen; [312] um die vollen roten Lippen und das wohlgenährte Kinn zog sich jenes schöne, unnachahmliche Blau, welches den Damen so wohl gefallen soll und in England und Deutschland bei weitem seltener als in südlichern Ländern gefunden wird, weil hier der Bartwuchs dunkler, dichter und auch früher zu sein pflegt, als dort.
Offenbar ein Incroyable von der Chaussée d’Antin[2]. Das elegante Negligee, wie es bis auf die geringste Kleinigkeit hinaus der eigensinnige Geschmack der Pariser vor vier Monaten (so lange mochte der junge Herr bereits verstorben sein) haben wollte. Von dem mit zierlicher Nachlässigkeit umgebundenen ostindischen Halstuch, dem kleinen blaßroten Shawl, mit einer Nadel à la Duc de Berry[3] zusammen gehalten, bis herab auf die Gamaschen, die man damals seit drei Tagen nach innen zuknöpfte, bis auf die Schuhe, die, um als modisch zu gelten, an den Spitzen nach dem großen Zehen sich hinneigen und ganz ohne Absatz sein mußten, ich sage, bis auf jene Kleinigkeiten, die einem Ungeweihten geringfügig und miserabel, einem, der in die Mysterien hinlänglich eingeführt ist, wichtig und unumgänglich notwendig erscheinen, war er gewissenhaft nach dem neuesten „Geschmack für den Morgen“ angezogen.
Er schien soeben erst seinem Jean die Zügel seines Kaprioletts in die Hand gedrückt, die Peitsche von geglättetem Fischbein kaum in die Ecke des Wagens gelehnt zu haben und jetzt in meinen Café hereingeflogen zu sein, um mehr gesehen zu werden, als zu sehen, mehr zu schwatzen, als zu hören.
Er lorgnettierte flüchtig den Gentleman im Fauteuil, schien sich an dem ungemeinen Rumglas und dem Rauchapparat, den jener vor sich hatte, ein wenig zu entsetzen, schmiegte sich aber nichtsdestoweniger an die Seite Seiner Lordschaft und fing an zu sprechen:
[313] „Werden Sie heute abend den Ball besuchen, mein Herr, den uns Monseigneur le diable gibt? Werden viel Damen dort sein, mein Herr? Ich frage, ich bitte Sie, weil ich wenig Bekanntschaft hier habe.
Mein Herr, darf ich Ihnen vielleicht meinen Wagen anbieten, um uns beide hinzuführen; es ist ein ganz honettes Ding, dieser Wagen, habe ich die Ehre, Sie zu versichern, mein Herr; er hat mich bei Latonnier vor vier Monaten achtzehnhundert Franken gekostet. Mein Herr, Sie brauchen keinen Bedienten mitzunehmen, wenn ich die Ehre haben sollte, Sie zu begleiten, mein Jean ist ein Wunderkerl von einem Bedienten.“
So ging es im Galopp über die Zunge des Incroyable. Seine Lordschaft schien sich übrigens nicht sehr daran zu erbauen. Er sah bei den ersten Worten den Franzosen starr an, richtete dann den Kopf ein wenig auf, um seine rechte Hand frei zu machen, ergriff mit dieser – die erste Bewegung seit einer halben Stunde – das Kelchglas, nippte einige Züge Rum, rauchte behaglich seine Zigarre an, legte den Kopf wieder auf die rechte Hand und schien dem Franzosen mehr mit dem Auge als mit dem Ohr zuzuhören und auch auf diese Art antworten zu wollen, denn er erwiderte auch nicht eine Silbe auf die Einladung des redseligen Franzosen und schien, wie sein Landsmann Shakespeare sagt:
vor seine Sprachorgane gelegt zu haben.
Der Deutsche hatte sich während dieses Gespräches dem Tische genähert, eine höfliche Verbeugung gemacht und einen Stuhl dem Lord gegenüber genommen. Man erlaube mir, auch ihn ein wenig zu betrachten. Er war, was man in Deutschland einen gewichsten jungen Mann zu nennen pflegt, ein Stutzer; er hatte blonde, in die Höhe strebende Haare, an die etwas niedere Stirne schloß sich ein „allerliebstes Stumpfnäschen“, über dem Mund hing ein Stutzbärtchen, dessen Enden hinaufgewirbelt waren, seine Miene war gutmütig, das Auge hatte einen Ausdruck von Klugheit, der wie gut angebrachtes Licht auf einem grobschattierten Holzschnitt keinen üblen Effekt hervorbrachte.
[314] Seine Kleidung wie seine Sitten schien er von verschiedenen Nationen entlehnt zu haben. Sein Rock mit vielen Knöpfen und Schnüren war polnischen Ursprungs; er war auf russische Weise auf der Brust vier Zoll hoch wattiert, schloß sich spannend über den Hüften an und formierte die Taille so schlank als die einer hübschen Altenburgerin; er hatte ferner enge Reithosen an, weil er aber nicht selbst ritt, so waren solche nur aus dünnem Nanking verfertigt, aus ebendiesem Grund mochten auch die Sporen mehr zur Zierde und zu einem wohltönenden, Aufmerksamkeit erregenden Gang als zum Antreiben eines Pferdes dienen. Ein feiner italienischer Strohhut vollendete das gewählte Kostüm.
Ich sehe es einem gleich bei der Art, wie er den Stuhl nimmt und sich niedersetzt, an, ob er viel in Zirkeln lebte, wo auch die kleinste Bewegung von den Gesetzen des Anstandes und der feinen Sitte geleitet wird; der Stutzer setzte sich passabel, doch bei weitem nicht mit jener feinen Leichtigkeit wie der Franzose, und der Engländer zeigte selbst in seiner nachlässigen, halb sitzenden, halb liegenden Stellung mehr Würde als jener, der sich so gut aufrecht hielt, als es nur immer ein Tanzmeister lehren kann.
Diese Bemerkungen, zu welchen ich vielleicht bei weitem mehr Worte verwendet habe, als es dem Leser dieser Memoiren nötig scheinen möchte, machte ich in einem Augenblick, denn man denke sich nicht, daß der junge Deutsche mir so lange gesessen sei, bis ich ihn gehörig abkonterfeit hatte.
Der Marquis wandte sich sogleich an seinen neuen Nachbar. „Mein Gott, Herr von Garnmacker“, sagte er, „ich möchte verzweifeln; der englische Herr da scheint mich nicht zu verstehen, und ich bin seiner Sprache zu wenig mächtig, um die Konversation mit gehöriger Lebhaftigkeit zu führen; denn ich bitte Sie, mein Herr, gibt es etwas Langweiligeres, als wenn drei schöne junge Leute bei einander sitzen und keiner den andern versteht?“
„Auf Ehre, Sie haben recht“, antwortete der Stutzer in besserem Französisch, als ich ihm zugetraut hätte; „man kann sich zur Not denken, daß ein Türke mit einem Spanier Billard spielt, aber ich sehe nicht ab, wie wir unter diesen Umständen mit dem Herrn plaudern können.“
[315] „J’ai bien compris, Messieurs“, sagte der Lord ganz ruhig neben seiner Zigarre vorbei und nahm wieder einigen Rum zu sich.
„Ist’s möglich, Mylord?“ rief der Franzose vergnügt, „das ist sehr gut, daß wir uns verstehen können! Markeur, bringen Sie mir Zuckerwasser! O, das ist vortrefflich, daß wir uns verstehen, welch’ schöne Sache ist es doch um die Mitteilung, selbst an einem Ort wie dieser hier.“
„Wahrhaftig, Sie haben recht, Bester“, gab der Deutsche zu; „aber wollen wir nicht zusammen ein wenig umherschlendern, um die schöne Welt zu mustern? Ich nenne Ihnen schöne Damen von Berlin, Wien, von allen möglichen Städten meines Vaterlandes, die ich bereist habe; ich hatte oben große Bekanntschaften und Konnexionen und darf hoffen, an diesem verfl… Ort manche zu treffen, die ich zu kennen das Glück hatte; Mylord nennt uns die Schönen von London, und Sie, teuerster Marquis, können uns hier Paris im kleinen zeigen.“
„Gott soll mich behüten!“ entgegnete eifrig der Franzose, indem er nach der Uhr sah, „jetzt, um diese frühe Stunde wollen Sie die schöne Welt mustern?
Meinen Sie, mein Herr, ich habe in diesem détestable purgatoire so sehr allen guten Ton verlernt, daß ich jetzt auf die Promenade gehen sollte?“
„Nun, nun“, antwortete der Stutzer, „ich meine nur, im Fall wir nichts Besseres zu thun wüßten. Sind wir denn nicht hier wie die drei Männer im Feuerofen? Sollen wir wohl ein Loblied singen wie jene?[WS 2] Doch wenn es Ihnen gefällig ist, mein Herr, uns einen Zeitvertreib vorzuschlagen, so bleibe ich gerne hier.“
„Mein Gott“, entgegnete der Incroyable, „ist dies nicht ein so anständiger Café, als Sie in ganz Deutschland keinen haben? Und fehlt es uns an Unterhaltung? Können wir nicht plaudern, soviel wir wollen? Sagen Sie selbst, Mylord, ist es nicht ein gutes Haus, kann man diesen Salon besser wünschen? Nein! Monsieur le diable hat Geschmack in solchen Dingen, das muß man ihm lassen.“
[316] „Une confortable maison!“ murmelte Mylord und winkte dem Franzosen Beifall zu. „Et ce salon confortable.“
„Gute Tafel, mein Herr?“ fragte der Marquis, „nun die wird auch da sein, ich denke mir, man speist wohl nach der Karte? Aber, meine Herren, was sagen Sie dazu, wenn wir uns zur Unterhaltung gegenseitig etwas aus unserem Leben erzählen wollten? Ich höre so gerne interessante Abenteuer, und Baron Garnmacker hat deren wohl so viele erlebt als Mylord?“
„God damn! das war ein vernünftiger Einfall, mein Herr“, sagte der Engländer, indem er mit der Reitgerte auf den Tisch schlug, die Füße von dem Stuhl herabzog und sich mit vieler Würde in dem Fauteuil zurechtsetzte; „noch ein Glas Rum, Markeur!“
„Ich stimme bei“, rief der Deutsche, „und mache Ihnen über Ihren glücklichen Gedanken mein Kompliment, Herr von Lasulot. – Eine Flasche Rheinwein, Kellner! – Wer soll beginnen, zu erzählen?“
„Ich denke, wir lassen dies das Los entscheiden“, antwortete Lord Fotherhill, „und ich wette fünf Pfund, der Marquis muß beginnen.“
„Angenommen, mein Herr“, sagte mit angenehmem Lächeln der Franzose; „machen Sie die Lose, Herr Baron, und lassen Sie uns ziehen, Nummer Zwei soll beginnen.“
Baron Garnmacher stand auf und machte die Lose zurecht, ließ ziehen, und die zweite Nummer fiel auf ihn selbst.
Ich sah den Franzosen dem Lord einen bedeutenden Wink zuwerfen, indem er das linke Auge zugedrückt, mit dem rechten auf den Deutschen hinüberdeutete; ich übersetzte mir diesen Wink so: „Geben Sie einmal acht, Mylord, was wohl unser ehrlicher Deutscher vorbringen mag. Denn wir beide sind schon durch den Rang unserer Nationen weit über ihn erhaben.“
Baron von Garnmacher schien aber den Wink nicht zu beachten; mit großer Selbstgefälligkeit trank er ein Glas seines Rheinweins, wischte in der Eile den Stutzbart mit dem Rockärmel ab und begann:
[317]
„Als mein Großvater, der kaiserlich-königlich –“
„Ich bitte Sie, mein Herr“, unterbrach ihn der Incroyable, „schenken Sie uns den Großpapa und fangen Sie gleich bei Ihrem Vater an; was war er?“
„Nun ja, wenn es Ihnen so lieber ist, aber ich hätte mich gerne bei dem Glanz unserer Familie länger verweilt; mein Vater lebte in Dresden auf einem ziemlich großen Fuß –“
„Was war er denn, der Herr Papa? Sie verzeihen, wenn ich etwas zu neugierig erscheine, aber zu einer Geschichte gehört Genauigkeit.“
„Mein Vater“, fuhr der Stutzer etwas mißmutig fort, „war Kleiderfabrikant en gros –“
„Wie“, fragte der Lord, „was ist Kleiderfabrikant? Kann man in Deutschland Kleider in Fabriken machen?“
„Hol’ mich der Teufel, wie er schon gethan!“ rief der Stutzer unwillig und stieß das Glas auf den Tisch; „das ist nicht die Art, wie man seine Biographie erzählen kann, wenn man alle Augenblicke von kritischen Untersuchungen unterbrochen wird; mein Vater hatte ein Haus am Altmarkt, darin hatte er ein Atelier und hielt Arbeiter, welche Kleider für die Leute machten!“
„Mon Dieu, also war es, was wir Tailleur nennen? ein Schneider?“
„Nun, in Gottes Namen! nennen Sie es, wie Sie wollen, kurz, er hatte die Welt gesehen, machte ein Haus, und wenn er auch nicht den Adel und die ersten Bürger in seinen Soirées sah, so war doch ein gewisser guter Ton, ein gewisser Anstand, ein gewisses, ich weiß nicht was, kurz, es war ein ganz anständiger Mann, mein Papa.“
Mich selbst erfaßte der Lachkitzel, als ich den garçon tailleur so perorieren hörte, doch faßte ich mich, um den Markeur nicht aus der Rolle fallen zu lassen. Der Marquis aber hatte sich zurückgelehnt und wollte sich ausschütten vor Lachen, der Engländer sah den Stutzer forschend an, unterdrückte ein Lächeln, das seiner
[318] Würde schaden konnte, und trank Rum; der deutsche Baron aber fuhr fort:
„Sie hätten mich, meine Herren, auf der Oberwelt in Daumenschrauben pressen können, und ich hätte meine Maske nicht vor Ihnen abgenommen. Hier ist es ein ganz anderes Ding; wer kümmert sich an diesem schlechten Ort um den ehemaligen Baron von Garnmacher? Darum verletzt mich auch Ihr Lachen nicht im geringsten, im Gegenteil, es macht mir Vergnügen, Sie zu unterhalten!“
„Ah! ce noble trait!“ rief der Incroyable und wischte sich die Thränen aus dem Auge, „reichen Sie mir die Hand, und lassen Sie uns Freunde bleiben. Was geht es mich an, ob Ihr Vater Duc oder Tailleur war. Erzählen Sie immer weiter, Sie machen es gar zu hübsch.“
„Ich genoß eine gute Erziehung, denn meine Mutter wollte mich durchaus zum Theologen machen, und weil dieser Stand in meinem Vaterland der eigentlich privilegierte Gelehrtenstand ist, so wurde mir in meinem siebenten Jahre mensa, in meinem achten amo, in meinem zehnten τύπτω,[4] in meinem zwölften pacat[5] eingebläut. Sie können sich denken, daß ich bei dieser ungemeinen Gelehrsamkeit keine gar angenehmen Tage hatte; ich hatte, was man einen harten Kopf nennt; das heißt, ich ging lieber aufs Feld, hörte die Vögel singen oder sah die Fische den Fluß hinabgleiten; sprang lieber mit meinen Kameraden, als daß ich mich oben in der Dachkammer, die man zum Musensitz des künftigen Pastors eingerichtet hatte, mit meinem Bröder[6], Buttmann[7], Schröder[8], und wie die Schrecklichen alle heißen, die den Knaben mit harten Köpfen wie böse Geister erscheinen, abmarterte.
[319] Ich hatte überdies noch einen andern Hang, der mir viele Zeit raubte; es war die von früher Jugend an mit mir aufwachsende Neigung zu schönen Mädchen. Sommers war es in meiner Dachkammer so glühend heiß wie unter den Bleidächern des Palastes Sankt Marco in Venedig; wenn ich dann das kleine Schiebfenster öffnete, um den Kopf ein wenig in die frische Luft zu stecken, so fielen unwillkürlich meine Augen auf den schönen Garten unseres Nachbars, eines reichen Kaufmanns; dort unter den schönen Akazien auf der weichen Moosbank saß Amalie, sein Töchterlein, und ihre Gespielinnen und Vertraute. Unwiderstehliche Sehnsucht riß mich hin; ich fuhr schnell in meinen Sonntagsrock, frisierte das Haar mit den Fingern zurecht und war im Flug durch die Zaunlücke bei der Königin meines Herzens.
Denn diese Charge begleitete sie in meinem Herzen im vollsten Sinne des Wortes. Ich hatte in meinem eilften Jahre den größten Teil der Ritter- und Räuberromane meines Vaterlandes gelesen, Werke, von deren Vortrefflichkeit man in andern Ländern keinen Begriff hat, denn die erhabenen Namen Cramer[9] und Spieß[9] sind nie über den Rhein oder gar den Kanal gedrungen. Und doch, wieviel höher stehen diese Bücher alle als jene Ritter- und Räuberhistorien des Verfassers von „Waverley“[10], der kein anderes Verdienst hat, als auf Kosten seiner Leser recht breit zu sein. Hat der große Unbekannte solche vortreffliche Stellen wie die, welche mir noch aus den Tagen meiner Kindheit im Ohr liegen: ‚Mitternacht, dumpfes Grausen der Natur, Rüdengebell, Ritter Urian tritt auf.‘
Wem pocht nicht das Herz, wem sträubt sich nicht das Haar empor, wenn er nachts auf einer öden, verlassenen Dachkammer dieses liest? Wie fühlte ich da das ‚Grausen der Natur!‘ und wenn der Hofhund sein Rüdengebell heulte, so war die Täuschung so vollkommen, daß sich meine Blicke ängstlich an die schlecht [320] verriegelte Thüre hefteten, denn ich glaubte nicht anders, als ‚Ritter Urian trete auf!‘
Was war natürlicher, als daß bei so lebhafter Einbildungskraft auch mein Herz Feuer fing? Jede Bertha, die ihren Ritter die Feldbinde umhing, jede Ida, die sich auf den Söller begab, um dem den Schloßberg hinabdonnernden Liebsten noch einmal mit dem Schleier zuzuwedeln, jede Agnes, Hulda u. s. w. verwandelte sich unwillkürlich in Amalien.
Doch auch sie war diesem Tribut der Sterblichkeit unterworfen. Aus ihrer Sparbüchse nämlich wurden die Romane angeschafft. Wenn einer gelesen war, so empfing ich ihn, las ihn auch, trug ihn dann wieder in die Leihbibliothek und suchte dort immer die Bücher heraus, welche entweder keinen Rücken mehr hatten, oder vom Lesen so fett geworden waren, daß sie mich ordentlich anglänzten. Das sind so die echten nach unserem Geschmack, dachte ich, und sicher war es ein ‚Rinaldo Rinaldini‘[11], ein ‚Domschütz‘[12], ein alter ‚Überall und Nirgends‘[13], oder sonst einer unserer Lieblinge.
Zu Hause band ich ihn dann in alte lateinische Schriften ein, denn Amalie war sehr reinlich erzogen und hätte, wenn auch das Innere des Romans nicht immer sehr rein war, doch nie mit bloßen Fingern den fetten Glanz ihrer Lieblinge betastet. Ehrerbietig trug ich ihn dann in den Garten hinüber und überreichte ihn; und nie empfing ich ihn zurück, ohne daß mir Amalie die schönsten Stellen mit Strickgarn oder einer Stecknadel bezeichnet hätte. So lasen und liebten wir; unsere Liebe richtete sich nach dem Vorbild, das wir gerade lasen: bald war sie zärtlich und verschämt, bald feurig und stürmisch, ja, wenn Eifersuchten vorkamen, so gaben wir uns alle mögliche Mühe, einen Gegenstand, eine Ursache für unser namenloses Unglück zu ersinnen.
Mein gewöhnliches Verhältnis zu der reichen Kaufmannstochter war übrigens das eines Edelknaben von dunkler Geburt, [321] der an dem Hof eines großen Grafen oder Fürsten lebt, eine unglückliche Leidenschaft zu der schönen Tochter des Hauses bekommt, und endlich von ihr heimliche, aber innige Gegenliebe empfängt. Und wie lebhaft wußte Amalie ihre Rolle zu geben; wie gütig, wie herablassend war sie gegen mich! Wie liebte sie den schönen, ritterlichen Edelknaben, dem kein Hindernis zu schwer war, zu ihr zu gelangen, der den breiten Burggraben (die Entenpfütze in unserm Hof) durchwatet, der die Zinnen des Walles (den Gartenzaun) erstiegen, um in ihr Gartengemach (die Moosbank unter den Akazien) sich zu schleichen. Tausend Dolche (die Nägel auf dem Zaun, die meinen Beinkleidern sehr gefährlich waren), tausend Dolche lauern auf ihn, aber die Liebe führt ihn unbeschädigt zu den Füßen seiner Herrin.
Das einzige Unglück bei unserer Liebe war, daß wir eigentlich gar kein Unglück hatten. Zwar gab es hie und da Grenzstreitigkeiten zwischen dem armen Ritter (meinem Vater) und dem reichen Fürsten (dem Kaufmann), wenn nämlich eines unserer Hühner in seinen Garten hinübergeflogen war und auf seinen Mistbeeten spazieren ging; oder es kam sogar zu wirklicher Fehde, wenn der Fürst einen Herold (seinen Ladendiener) zu uns herüberschickte und um den Tribut mahnen ließ (weil mein Vater eine sehr große Rechnung in dem Kontobuch des Fürsten hatte). Aber dies alles war leider kein nötigendes Unglück für unsere Liebe, und diente nicht dazu, unsere Situationen noch romantischer zu machen.
Die einzige Folge, die aus meinem Lesen und meiner Liebe entstand, war mein hartes Unglück, immer unter den letzten meiner Klasse zu sein und von dem alten Rektor tüchtig Schläge zu bekommen; doch auch darüber belehrte und tröstete mich meine ‚Herrin‘. Sie entdeckte mir nämlich, daß des Herzogs (des Rektors) ältester Prinz um ihre Liebe gebuhlt und sie aus Liebe zu mir den Jüngling abgewiesen habe; er aber habe gewiß unsere Liebe und den Grund seiner Abweisung entdeckt und sie dem alten Vater, dem Rektor, beigebracht, der sich dafür auf eine so unwürdige Art an mir räche. Ich ließ die Gute auf ihrem Glauben, wußte aber wohl, woher die Schläge kamen; der alte Herzog [322] wußte, daß ich die unregelmäßigen griechischen Verba nicht lernte, und dafür bekam ich Schläge.
So war ich fünfzehn und meine Dame vierzehn Jahre alt geworden; ungetrübt war bis jetzt der Himmel unserer Liebe gewesen, da ereigneten sich mit einemmal zwei Unglücksfälle, wovon schon einer für sich hinreichend gewesen wäre, mich aus meinen Höhen herabzuschmettern.
Es war die Zeit, wo nach dem Frieden von Paris die Fouquéschen[14] Romane anfingen, in meinem Vaterlande Mode zu werden …“
„Was ist das, Fouquésche Romane?“ fragte der Lord.
„Das sind lichtbraune, fromme Geschichten; doch durch diese Definition werden Sie nicht mehr wissen als vorher. Herr von Fouqué ist ein frommer Rittersmann, der, weil es nicht mehr an der Zeit ist, mit Schwert und Lanze zu turnieren, mit der Feder in die Schranken reitet und kämpft wie der gewaltigen Wäringer[15] einer. Er hat das ein wenig rohe und gemeine Mittelalter modernisiert oder vielmehr unsere heutige modische Welt in einigen frommen Mystizismus einbalsamiert und um fünfhundert Jahre zurückgeschoben. Da schmeckt nun alles ganz süßlich und sieht recht anmutig, lichtdunkel aus; die Ritter, von denen man vorher nichts anders wußte, als sie seien derbe Landjunker gewesen, die sich aus Religion und feiner Sitte so wenig machten als der Großtürke aus dem sechsten Gebot, treten hier mit einer bezaubernden Kourtoisie auf, sprechen in feinen Redensarten, sind hauptsächlich fromm und kreuzgläubig.
Die Damen sind moderne Schwärmerinnen, nur keuscher, reiner, mit steifen Krägen angethan und überhaupt etwas ritterlich aufgeputzt. Selbst die edlen Rosse sind glänzender als heutzutage und haben ordentlich Verstand, wie auch die Wolfshunde und andere solche Getiere.“
[323] „Mon dieu! solchen Unsinn liest man in Deutschland?“ rief der Franzose und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen.
„O ja, meine Herren, man liest und bewundert. Es gab eine Zeit bei uns, wo wir davon zurückgekommen waren, alles an fremden Nationen zu bewundern; da wir nun, auf unsere eigenen Herrlichkeiten beschränkt, nichts an uns fanden, das wir bewundern konnten, als die tempi passati – so warfen wir uns mit unserem gewöhnlichen Nachahmungseifer auf diese und wurden allesamt altdeutsch.
Mancher hatte aber nicht Phantasie genug, um sich ganz in jene herrliche vergangene Zeiten hineinzudenken, man fühlte allgemein das Bedürfnis von Handbüchern, die wie Modejournale neuerer Zeit über Sitten und Gebräuche bei unseren Vorfahren uns belehrt hätten, da trat jener fromme Ritter auf, ein zweiter Orpheus, griff er in die Saiten, und es entstand ein neu Geschlecht; die Mädchen, die bei den französischen Garnisonen etwas frivol geworden waren, wurden sittige, keusche, fromme Fräulein, die jungen Herren zogen die modischen Fracks aus, ließen Haar und Bart wachsen, an die Hemder eine halbe Elle Leinwand setzen, und ‚Kleider machen Leute‘ sagt ein Sprichwort, probatum est, auch sie waren tugendlich, tapfer und fromm.“
„God damn! Sie haben recht, ich habe solche Figuren gesehen“, unterbrach ihn der Engländer, „vor acht Jahren machte ich die große Tour und kam auch nach der Schweiz. Am Vierwaldstätter See ließ ich mir den Ort zeigen, wo die Schweizer ihre Republiken gestiftet haben. Ich traf auf der Wiese eine Gesellschaft, die wunderlich, halb modern, halb aus den Garderoben früherer Jahrhunderte sich gekleidet zu haben schien. Fünf bis sechs junge Männer saßen und standen auf der Wiese und blickten mit glänzenden Augen über den See hin. Sie hatten wunderbare Mützen auf dem Kopf, die fast anzusehen waren wie Pfannkuchen. Lange, wallende Haare fielen in malerischer Unordnung auf den Rücken und die Schultern; den Hals trugen sie frei und hatten breite, zierlich gestickte Krägen, wie heutzutage die Damen tragen, herausgelegt.
Ein Rock, der offenbar von einem heutigen Meister, aber nach antiker Form gemacht war, kleidete sie nicht übel; er schloß [324] sich eng um den Leib und zeigte überall den schönen Wuchs der jungen Männer. In sonderbarem Kontrast damit standen weite Pluderhosen von grober Leinwand. Aus ihren Röcken sahen drohende Dolchgriffe hervor, und in der Hand trugen sie Beilstöcke, ungefähr wie die römischen Liktoren. Gar nicht recht wollte aber zu diesem Kostüm passen, daß sie Brillen auf der Nase hatten und gewaltig Tabak rauchten.
Ich fragte meinen Führer, was das für eine sonderbare Armatur und Uniform wäre, und ob sie vielleicht eine Besatzung der Grütliwiese vorstellen sollten? Er aber belehrte mich, daß es fahrende Schüler aus Deutschland wären. Unwillkürlich drängte sich mir der Gedanke an den fahrenden Ritter Don Quichotte auf, ich stieg lachend in meinen Kahn und pries mein Glück, auf einem Platz, der durch die erhabenen Erinnerungen, die er erweckt, nur zu leicht zu träumerischen Vergleichungen führt, eine so groteske Erscheinung aus dem Leben gehabt zu haben. Die jungen Deutschen söhnten mich aber wieder mit sich aus, denn als mein Kahn über den See hingleitete, erhoben sie einen vierstimmigen Gesang in so erhabener Melodie, mit so würdigen, ergreifenden Wendungen, daß ich ihnen in Gedanken das Vorurteil abbat, welches ihr Kostüm in mir erweckt hatte.“
„Nun ja, da haben wir’s“, fuhr der Baron von Garnmacher fort, „so sah es damals unter alt und jung in Deutschland aus; auch ich hatte Fouquésche Romane gelesen, wurde ein frommer Knabe, trug mich wie alle meine Kameraden altdeutsch und war meiner Herrin, der ‚wunnigen Maid‘, mit einer keuschen, inniglichen Minne zugethan. Auf Amalie machte übrigens der ‚Zauberring‘, die ‚Fahrten Thiodolfs‘[16] etc. nicht den gewünschten Eindruck; sie verlachte die sittigen, lichtbraunen, blauäugigen Damen, besonders die Bertha von Lichtenrieth, und pries mir Lafontaine[17] und Langbein[18], schlüpfrige Geschichten, welche ihr eine ihrer Freundinnen zugesteckt hatte.
[325] Ich war zu erfüllt von dem deutschen Wesen, das in mir aufging, als daß ich ihr Gehör gegeben hätte, aber der lüsterne Brennstoff jener Romane brannte fort in dem Mädchen, das sich, weil sie für ihr Alter schon ziemlich groß war, für eine angehende Jungfrau hielt, und kurz – es gab eine Josephsszene zwischen uns; ich hüllte mich in meinen altdeutschen Rock und meine Fouquésche Tugend ein und floh vor den Lockungen der Sirene wie mein Held Thiodolf vor der herrlichen Zoe.
Die Folge davon war, daß sie mich als einen Unwürdigen verachtete und dem Prinzen, des Rektors Sohn, ihre Liebe schenkte. Ob er mit ihr Lafontaine und Langbein studierte, weiß ich nicht zu sagen, nur so viel ist mir bekannt, daß ihn der Fürst, Amaliens Vater, einige Wochen nachher eigenhändig aus dem Garten gepeitscht hat.
Ich saß jetzt wieder auf meinem Dachkämmerlein, hatte die hebräische Bibel und die griechischen Unregelmäßigen vor mir liegen und auf ihnen meine Romane. An manchem Abend habe ich dort heiße Thränen geweint und durch die Jalousien in den Garten hinabgeschaut, denn die zuchtlose Jungfrau sollte meinen Jammer nicht erschauen, sie sollte den Kampf zwischen Haß und Liebe nicht auf meinem Antlitz lesen. Ich war fest überzeugt, daß so unglücklich wie ich kein Mensch mehr sein könne, und höchstens der unglückliche Otto von Trautwangen[19], als er in Frankreich mit seinem vernünftigen, lichtbraunen Rößlein eine Höhle bewohnte, konnte vielleicht so kummervoll gewesen sein wie ich.
Aber das Maß meiner Leiden war nicht voll; hören Sie, wie ‚aus entwölkter Höhe‘ mich ein zweiter Donner traf.
Der alte Rektor hatte seinen Schülern ein Thema zu einem Aufsatz gegeben, worin wir die Frage beantworten sollten, wen wir für den größten Mann Deutschlands halten. Es sollte sein Wert geschichtlich nachgewiesen, Gründe für und wider angegeben und überhaupt alles recht gelehrt abgemacht werden. Ich hatte, wie ich Ihnen schon bemerkt habe, meine Herren, immer einen harten Kopf, und Aufsätze mit Gründen waren mir [326] von jeher zuwider gewesen, ich hatte also auch immer mittelmäßige oder schlechte Arbeit geliefert. Aber für diese Arbeit war ich ganz begeistert, ich fühlte eine hohe Freude in mir, meine Gedanken über die großen Männer meines Vaterlandes zu sagen und meine Ideale (und wer hat in diesen Jahren nicht solche) in gehöriges Licht setzen zu können.
Geschichtlich sollte das Ding abgefaßt werden. Was war leichter für mich als dies? Jetzt erst fühlte ich den Nutzen meines eifrigen Lesens; wo war einer, der so viele Geschichten gelesen hatte als ich? Und wer, der irgend einmal diese Bücher der Geschichten in die Hand nahm, wer konnte in Zweifel sein, wer die größten Männer meines Vaterlandes seien? Zwar war ich noch nicht ganz mit mir selbst im reinen, wem ich die Krone zuerkennen sollte; Hasper a Spada?[20] Es ist wahr, es war ein Tapferer, der Schrecken seiner Feinde, die Liebe seiner Freunde. Aber, wie die Geschichte sagt, war er sehr stark dem Trinken ergeben, und dies war doch schon eine Schlacke in seinem fürtrefflichen Charakter. Adolph der Kühne, Raugraf von Dassel?[20] Er hat schon etwas mehr von einem großen Mann; wie schrecklich züchtigt er die Pfaffen! Wenn er nur nicht in der Historie nach Rom wandeln und Buße thun müßte, aber dies schwächt doch sein majestätisches Bild. Es ist wahr, Otto von Trautwangen glänzt als ein Stern erster Größe in der deutschen Geschichte, dachte ich weiter, aber auch er scheint doch nicht der größte gewesen zu sein, wiewohl seine Frömmigkeit, die sehr in Anschlag zu bringen ist, jeden Zauber überwand.
Island gehörte wohl auch zum Deutschen Reich; wahrhaftig, unter allen deutschen Helden ist doch keiner, der dem Thiodolf das Wasser reicht. Stark wie Simson, ohne Falsch wie eine Taube, fromm wie ein Lamm, im Zorn ein Berserker, es kann nicht fehlen, er ist der größte Deutsche.
Ich setzte mich hin und schrieb voll Begeisterung diese Rangordnung nieder; wohl zehnmal sprang ich auf, meine Brust war zu voll, ich konnte nicht alles sagen, die Feder, die Worte versagten [327] mir, wohl zehnmal las ich mir mit lauter Stimme die gelungensten Stellen vor. Wie erhaben lautete es, wenn ich von der Stärke des Isländers sprach, wie er einen Wolf zähmte, wie er in Konstantinopel ein Pferd nur ein wenig auf die Stirne klopfte, daß es auf der Stelle tot war; wie großmütig verschmäht er alle Belohnung; ja, er schlägt einen Kaiserthron aus, um seiner Liebe treu zu bleiben; wie kindlich fromm ist er, obgleich er die christliche Religion nicht recht kannte; wie schön beschrieb ich das alles; ja! es mußte das harte Herz des alten Rektors rühren!
Ich konnte mir denken, wie er meine Arbeit mit steigendem Beifall lesen, wie er morgens in die Klasse kommen würde, um unsere Aufsätze zu zensieren; dann sendet er gewiß einen milden, freundlichen Blick nach dem letzten Platze, wohin er sonst nur wie ein brüllender Löwe schaute, dann liest er meine Arbeit laut vor und spricht: ‚Kann man etwas Gelungeneres lesen als dies? Und ratet, wer es gemacht hat? Die letzten sollen die ersten werden; der Stein, den die Bauleute verworfen haben, soll zum Eckstein werden; tritt hervor, mein Sohn, Garnmachere! Ich habe immer gesagt, du seiest ein bête, konnte ich ahnen, daß du mit so vielem Eifer Geschichten studierst? Nimm hin den Preis, der dir gebührt.‘
So mußte er sagen, er konnte nicht anders, ohne das schreiendste Unrecht zu thun. Eifrig schrieb ich jetzt meinen Aufsatz ins Reine, und um zu zeigen, daß ich auch in den neueren Geschichten nicht unbewandert sei, sagte ich am Schluß, daß ich nach Erfindung des Pulvers den deutschen Alcibiades und nächst ihm Hermann von Nordenschild für die größten Männer halte. Man könne ihnen den Ritter Euros, welcher nachher als Domschütz mit seinen Gesellen[AU 1] so großes Aufsehen gemacht habe, was die Tapferkeit betreffe, vielleicht an die Seite stellen, doch stehen jene beiden auf einem viel höheren Standpunkt.
Ich brachte dem Rektor triumphierend den Aufsatz und mußte ihm beinahe ins Gesicht lachen, als er mürrisch sagte: ‚Er wird wieder ein schönes Geschmier haben, Garnmacher!‘
[328] ‚Lesen Sie, und dann – richten Sie‘, gab ich ihm stolz zur Antwort und verließ ihn.
Wenn in Ihrem Vaterlande, Mylord, eine Preisfrage gestellt würde über den würdigsten englischen Theologen, und es würden in einer gelehrten, mit Phrasen wohldurchspickten Antwort die Vorzüge des Vicar of Wakefield[21] dargethan, wer würde da nicht lachen? Wenn Sie, werter Marquis, nach der würdigsten Dame zu den Zeiten Louis’ XIV. gefragt würden und Sie priesen die ‚Neue Heloise‘[22], würde man Sie nicht für einen Rasenden halten? Hören Sie, welche Thorheit ich begangen hatte!
Der Samstag, an welchem man unsere Arbeiten gewöhnlich zensierte, erschien endlich. So oft dieser Tag sonst erschienen war, war er mir immer ein Tag des Unglücks gewesen; gewöhnlich schlich ich da mit Herzklopfen zur Schule, denn ich durfte gewiß sein, wegen schlechter Arbeit getadelt, öffentlich geschmäht zu werden. Aber wieviel stolzer trat ich heute auf; ich hatte meinen besten Rock angezogen, den schönsten, feingestickten Hemdkragen angelegt, mein wallendes Haar war zierlich gescheitelt und gelockt, ich sah stattlich aus und gestand mir, ich sei auch im Äußeren des Preises nicht unwürdig, welcher mir heute zu teil werden sollte.
Der Rektor fing an, die Aufsätze zu zensieren; wie ärmliche, obskure Helden hatten sich meine Mitschüler gewählt: Hermann, Karl den Großen, Kaiser Heinrich, Luther und dergleichen – er ging viele durch, immer kam er noch nicht an meine Arbeit; ja es war offenbar, meine Helden hatte er auf die Letzt aufgespart – als die besten!
Endlich ruhte er einige Augenblicke, räusperte sich und nahm ein Heft mit rosenfarbener Überdecke, das meinige, zur Hand; mein Herz pochte laut vor Freude, ich fühlte, wie sich mein Mund zu einem triumphierenden Lächeln verziehen wollte, aber ich gab mir Mühe, bescheiden bei dem Lob auszusehen; der Rektor begann:
‚Und nun komme ich an eine Arbeit, welche ihresgleichen nicht hat auf der Erde (heart). Ich will einige Stellen daraus vorlesen!‘ [329] Er deklamierte mit ungemeinem Pathos gerade jene Kraftstellen, welche ich mit so großer Begeisterung niedergeschrieben hatte. Ein schallendes Gelächter aus mehr als vierzig Kehlen unterbrach jeden Satz, und als er endlich an den Schluß gelangte, wo ich mit einer kühnen Wendung dem furchtbaren Domschützen noch einige Blümchen gestreut hatte, erscholl Bravo! Ancora![23] und die Tische krachten unter den beifalltrommelnden Fäusten meiner Mitschüler. Der Rektor winkte Stille und fuhr fort: ‚Es wäre dies eine gelungene Satire auf die Herren Spieß und Konsorten, wenn nicht der Verfasser selbst eine Satire auf die Menschheit wäre. Es ist unser lieber Garnmacher. Tritt hervor, du dedecus naturae, hieher zu mir!‘
Zitternd folgte ich dem fürchterlichen Wink. Das erste war, als ich vor ihm stand, daß er mir das rosenfarbene Heft einmal rechts und einmal links um die Ohren schlug; und jetzt donnerte eine Strafpredigt über mich herab, von der ich nur so viel verstand, daß ich ein bête war, und nicht wußte, was Geschichte sei.
Es begegnet zuweilen, daß man im Traum von einer schönen, blumigen Sonnenhöhe in einen tiefen Abgrund herabfällt; man schwindelt, indem man die unermeßlichen Höhen herabfliegt, man fühlt die unsanfte Erschütterung, wenn man am Boden zu liegen glaubt, man erwacht und sieht sich mit Staunen auf dem alten Boden wieder; die Höhe, von der man herabstürzte, ist mit all ihren Blütengärten verschwunden, ach, sie war ja nur ein Traum!
So war mir damals, als mich der Rektor aus meinem Schlummer aufschüttelte, ein tiefer Seufzer war die einzige Antwort, die ich ihm geben konnte, ich war arm wie jener Krösus, als er vor seinem Sieger Cyrus stand, auch ich hatte ja alle meine Reiche verloren!
Ich sollte bekennen, woher ich die Romane bekommen, wer mir das Geld dazu gegeben habe. Konnte, durfte ich sie, die ich einst liebte, verraten? Ich leugnete, ich hielt den ganzen Sturm des alten Mannes auf, ich stand wie Mucius Scävola.
Der langen Rede kurzer Sinn war übrigens der, daß ich von meinem Vater ein Attestat darüber bringen müsse, daß ich [330] das Geld zu solchen Allotriis von ihm habe, und überdies habe ich am nächsten Montag vier Tage Karzer anzutreten. Verhöhnt von meinen Mitschülern, die mir Thiodolf, deutscher Alcibiades und dergleichen nachriefen; in dumpfer Verzweiflung ging ich nach Hause. Es war gar kein Zweifel, daß mich mein Vater, wenn er diese Geschichte erfuhr, entweder sogleich totschlagen oder wenigstens zum Schneidersjungen machen würde. Vor beidem war mir gleich bange; ich besann mich also nicht lange, band etwas Weißzeug und einige seltene Dukaten und andere Münzen, welche mir meine Paten geschenkt hatten, in ein Tuch, warf noch einen Kuß und den letzten Blick nach des Nachbars Garten, sagte meinem Dachstübchen lebewohl, und eine Viertelstunde nachher wanderte ich schon auf der Straße nach Berlin, wo mir ein Oheim lebte, an welchen ich mich vors erste zu wenden gedachte.
In meinem Herzen war es öde und leer, als ich so meine Straße zog; meine Ideale waren zerronnen. Sie hatten also nicht gelebt, diese tapferen, frommen, liebevollen, biederen Männer, sie hatten nicht geatmet, jene lieblichen Bilder holder Frauen; jene bunte Welt voll Putz und Glanz, alle jene Stimmen, die aus fernen Jahrhunderten zu mir herübertönten, die mutigen Töne der Trompete, Rüdengebell, Waffengeklirr, Sporenklang, süße Akkorde der Laute – alles, alles dahin, alles nichts als eine löschpapierene Geschichte, im Hirn eines Poeten gehegt, in einer schmutzigen Druckpresse zur Welt gebracht!
Ich sah mich noch einmal nach der Gegend um, die ich verlassen hatte; die Sonne war gesunken, die Nebel der Elbe verhüllten das liebe Dresden, nur die Spitzen der Türme ragten vergoldet vom Abendrot über dem Dunstmeer.
So lag auch mein Träumen, mein Hoffen, Vergangenheit und Zukunft in Nebel gehüllt, nur einzelne hohe Gestalten standen hell beleuchtet wie jene Türme vor meiner Seele; wohlan! sprach ich bei mir selbst:
O fortes, peioraque passi
Mecum saepe viri, nunc cantu pellite curas
Cras ingens iterabimus aequor.[24]
[331] Noch einmal breitete ich die Arme nach der Vaterstadt aus, da fühlte ich einen leichten Schlag auf die Schulter und wandte mich um.“
Der Herausgeber ist in der größten Verlegenheit; er hat bis auf den Tag, an welchem er dies schreibt, dem Verleger das Manuskript zum ersten Teil versprochen, und doch fehlt noch ein großer Teil des letzten Abschnittes; er ist noch nicht geweiht, die Messe ist schon vorüber und eine eigene über die paar Bogen lesen zu lassen, findet sich weder ein gehöriger Vorwand, noch würde das Werkchen diese bedeutende Ausgabe wert sein. Wir versparen daher die Fortsetzung des Festtages in der Hölle auf den zweiten Teil.
- ↑ Vgl. S. 248.
- ↑ Die Rue de la Chaussée d’Antin im Norden von Paris führt von der Kirche la Trinité nach dem Boulevard des Capucines.
- ↑ Charles Ferd., Herzog von Berri (1778–1820), Sohn des Grafen von Artois, heiratete 1816 eine Tochter des Königs Franz I., die Prinzessin Karoline Ferdinande Luise von Sizilien, wodurch er den Fortbestand des ältern Zweigs der Bourbonen sicherte. Er wurde deshalb 1820 ermordet.
- ↑ τύπτω, d. h. schlagen, hauen.
- ↑ Soll wohl pakad heißen, d. h. er hat heimgesucht; ein Paradigma der hebräischen Grammatik.
- ↑ Christian Gottlob Bröder (1745–1819), Pastor und Superintendent, ist der Verfasser einer „Prakt. Grammatik der lat. Sprache“ und einer „Kleinen lat. Grammatik“, die lange Zeit beim Unterricht an den Schulen gebraucht wurden.
- ↑ Phil. Karl Buttmann (1764–1829), Gymnasialprofessor, gab eine „Griech. Grammatik“ heraus.
- ↑ J. F. Schröder gab ein hebräisches Übungsbuch, die evangel. Perikopen, zum Übersetzen aus dem Deutschen ins Hebräische heraus. – Nik. Wilh. Schröder (gest. 1789), Verfasser einer hebräischen Grammatik.
- ↑ a b Karl Gottlob Cramer (1758–1817) und Christian Heinrich Spieß (1755–99) sind Verfasser zahlreicher elender, aber ihrerzeit vielgelesener Ritterromane, wie sie dem Erscheinen von Goethes „Götz von Berlichingen“ in trauriger Nachahmung folgten.
- ↑ Walter Scott.
- ↑ Titel eines 1799 erschienenen Räuberromans von Christian August Vulpius (1762–1827).
- ↑ Roman von K. G. Cramer.
- ↑ Roman von Chr. H. Spieß.
- ↑ Freiherr Friedr. Heinr. Karl de la Motte-Fouqué (1777–1843) ist der Verfasser des Märchens „Undine“ und zahlreicher überspannter Ritterromane.
- ↑ Wäringer oder Waräger, d. h. Gefährten, Eidgenossen, wurden die Bewohner der Skandinavischen Halbinsel genannt, die vom 9. bis 11. Jahrhundert gewaltige Raubzüge an der Küste der Ost- und Nordsee unternahmen.
- ↑ Romane de la Motte-Fouqués.
- ↑ Aug. Heinr. Jul. Lafontaine (1759–1831), bekannt als Verfasser schwacher, empfindsamer Romane.
- ↑ Aug. Friedr. Ernst Langbein (1757–1835), Dichter launiger Schwänke und Erzählungen, die manche schlüpfrige Stellen enthalten.
- ↑ Der Held in Fouqués Ritterroman „Der Zauberring“; vgl. daraus den 2. Teil, 1. Kapitel.
- ↑ a b Romane von K. G. Cramer (1792).
- ↑ Bekannter Roman des engl. Dichters Oliver Goldsmith (1728–1774).
- ↑ „La Nouvelle Héloïse“, berühmter Roman Jean Jacques Rousseaus (1712–78).
- ↑ D. h. noch einmal (ital).
- ↑ Q. Horatii Flacci Carmina. Liber I, Nr. 7, Schlußstrophe.
Anmerkungen des Autors
- ↑ Romane von Cramer. (Der Herausgeber.)
Anmerkungen (Wikisource)
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