Nach acht Jahren

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Autor: H. Black
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Titel: Nach acht Jahren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 550–554
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung: Nach 8 Jahren Anklage wegen schwerer Unzucht
Aus deutschen Gerichtssälen Nr. 3
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Aus deutschen Gerichtssälen.
3. Nach acht Jahren.


Die Gartenlaube, welche sich die Aufgabe gestellt hat, das gesammte Gebiet des Familien-, des öffentlichen und des Volkslebens in das Bereich ihrer Darstellungen und Belehrungen zu ziehen, hat die Pflicht, auch solchen Mittheilungen nicht aus dem Wege zu gehen, denen man vielleicht versucht sein könnte, ausschließlich in den Gerichtszeitungen ihren Platz anzuweisen. Dieses Motiv allein hat uns bestimmen können, im Verfolg unserer Veröffentlichungen „aus deutschen Gerichtssälen“ mit der nachstehenden Erzählung an eine allerdings sehr delicate Frage heranzutreten, weil uns bei der Wichtigkeit des Falles, bei seinem Eingreifen in die zartesten Beziehungen des Familienlebens, bei seiner Bedeutung für Glück oder Unglück weiterer Kreise zwingend geboten schien, jener höheren Pflicht die Rücksicht auf das von uns sonst mit emsiger Sorgfalt gewahrte conventionelle Herkommen einmal zum Opfer zu bringen. Wir sind keinen Augenblick in Zweifel, daß uns die gereifte Anschauung und das unbefangene Urtheil unserer Leser für die Mittheilung des höchst interessanten und ergreifenden Rechtsfalles, wie ihn ein höherer preußischer Justizbeamter aus seiner eigenen amtlichen Erfahrung aufzeichnet, nur Dank wissen, in keinem Falle aber der Gartenlaube die allen ihren Artikeln fernliegende Absicht beimessen werde, nur müßiger Neugier eine pikante Unterhaltung bereiten zu wollen.


Es war ein prächtiges Paar, Beide echte Kinder Schlesiens. Er, der Schulzensohn, ein stämmiger, dunkeläugiger Bursch von neunzehn Jahren mit Zügen, in denen Offenheit, Freundlichkeit und Intelligenz eine schöne Mischung bildeten; sie, des reichen Wassermüllers einzige Tochter, ein blondes herziges Mädchen, das, Jungfrau in seiner ganzen Erscheinung, mit seinen runden blauen Augen so kindlich-heiter in die Welt schaute, als gäbe es nichts Böses darin, und dessen Gesichtsausdruck durch den mit dem Auge contrastirenden schwermüthigen Zug um den feinen Mund einen eigenthümlichen Reiz erhielt.

Sie waren für einander bestimmt. Als dem Wassermüller nach mehrjähriger kinderloser Ehe das Töchterchen geboren und von dem bewährten Freunde, dem Schulzen, aus der Taufe gehoben worden war, trat der Müller noch in der Kirche an ihn heran und sagte, indem er auf den damals fünfjährigen Knaben des Schulzen hinwies:

„Höre, Nachbar, die Anna soll für den Joseph sein, wenn sie mir Gott am Leben läßt und sie ein schmuckes Mädchen wird. Schulzenhof und Mühle sollen dann ein Gut werden, wie es meilenweit in der Runde kein zweites giebt. Bist Du’s zufrieden, so schlag’ ein!“

Und der Schulze legte seine Hand gewichtig in die des Müllers und erwiderte:

„Der liebe Gott hat uns Beiden nur ein Kind geschenkt. Wenn es dabei bleibt und der Joseph und die Anna sich lieb gewinnen, so werde ich es mit Freuden sehen, wenn sie ein Paar werden und dereinst unsere Höfe vereinigen. Die Sache ist ein für allemal abgemacht.“

Die Voraussetzungen des Schulzen verwirklichten sich. Beide Kinder blieben ohne Geschwister und fingen um so eher an, sich bald als solche zu betrachten, als sie der sich immer herzlicher gestaltende Verkehr der Eltern häufig zusammen führte und nicht allein die exclusive Stellung der Letzteren als reichste Grundbesitzer im Orte, sondern auch die Entfernung der in diesem Landestheile weit von einander liegenden Bauerhöfe ihren Verkehr mit andern Kindern erschwerte. Sehr bald wurde die kleine Anna der Schützling ihres prädestinirten Gatten und dieser erfüllte in dem stolzen Gefühl seiner Superiorität treulich alle Pflichten des Ritters in schweren Kämpfen mit den bissigen Dorfhunden oder dem durch das rothe Kleidchen des Kindes zur Wuth gereizten Truthahn. Anna war aber auch ein dankbares Schwesterchen. Kein guter Bissen wurde im Mühlhofe gebacken oder gekocht, von dem sie nicht mit echt weiblicher Selbstverleugnung dem Joseph einen reichlichen Antheil überbrachte, und wenigstens einige auf dem Wege zum Schulzenhofe gepflückte Feldblumen mußten Zeugniß ablegen für die freundliche Gesinnung, die sie in ihrem kleinen Herzen für den lieben Gespielen hegte.

Die beiderseitigen Eltern freuten sich innig darüber, daß die Kinder ihren Absichten so zwanglos entgegen kamen und daß sich deren Zuneigung von Tag zu Tag steigerte. Auch die Zeit, in welcher beide Kinder die Schule besuchten und durch besonderen Unterricht bei dem schon erwähnten Geistlichen eine über ihre künftige Lebensstellung weit hinausreichende Ausbildung erhielten, störte ihren innigen Verkehr nicht. Sahen sie sich jetzt auch nicht so häufig, wie früher, und waren es nicht mehr die kindlichen Spiele allein, in denen die Regungen ihrer Herzen sich begegneten, so wurde es ihnen ein angenehmes Bedürfniß, ihre Kenntnisse durch gegenseitigen Austausch des Erlernten zu befestigen und zu erweitern. Beide lebten sich immer mehr Eins in das Andere hinein, und als am Tage, da Joseph confirmirt wurde, der Geistliche nicht blos ihm den Segen ertheilte, sondern – wie zufällig – die Hand auch auf das lockige Haupt des Mädchens legte, das sich, um jeden Moment der heiligen Handlung zu erfassen, dicht an den Jugendgespielen herangedrängt hatte, da erschien dieser Umstand den beiden Vätern wie eine höhere Bestätigung ihrer getroffenen Verabredung und sie bekräftigten diese auf’s Neue durch Wort und Handschlag.

Anna entwickelte sich auffallend schnell. Sie hatte das dreizehnte Jahr kaum überschritten, als der Hauch der Jungfräulichkeit sich auf ihre anmuthigen Züge legte und die Beweglichkeit und Unbefangenheit des Kindes der Ruhe und dem sinnenden Ernst des Weibes wich. Ihr Verhalten gegen Joseph änderte sich, weil sie sich nach und nach eines andern, tieferen Gefühls, als das der Freundschaft, für ihn bewußt wurde. Ihre Liebe zu ihm ließ sie in seiner Gegenwart scheu und schweigsam erscheinen und eine geraume Zeit konnte man glauben, daß sie jedes Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden suche. Joseph empfand Aehnliches. Er, der offene, brave Junge, wurde ebenfalls schweigsam und verschlossen und fühlte sich in seinem achtzehnten Lebensjahre unbeholfener und gedrückter, als jemals, wenn er mit ihr verkehrte. Er fand niemals das richtige Wort, wenn er mit ihr sprach, und wenn er ihr gar einmal längere Zeit in die tiefblauen Augen sah, so schien es ihm immer, als ob alle Gegenstände eine kreisende Bewegung um ihn annähmen und sein Denkvermögen plötzlich paralysirt sei. Er ärgerte sich über sich selbst, er ärgerte sich aber auch über die Anna, weil sie ihm nicht mehr, wie früher, zu Hülfe kam. Nichtsdestoweniger zog es ihn immer und immer wieder zu ihr und im Geheimen befriedigte er mit innigem Behagen jeden Wunsch des Mädchens, der zu seiner Kenntniß gekommen war, oder suchte ihr unbemerkt jene kleinen Aufmerksamkeiten zu erweisen, die ein wesentliches Kennzeichen der Liebe bleiben, mag sie in der Hütte des Bauern oder in den Salons der Fürsten ihre duftenden Blüthen treiben.

„Wäre es nicht gut,“ sagte eines Tages die Schulzenfrau zu ihrem Manne, „wenn Du den Joseph jetzt zum Schwager schicktest, wie Du es beabsichtigst, und ihn zwei oder drei Jahre dort ließest, um sich so recht in der Landwirthschaft zu vervollkommnen?“

„Warum schon jetzt?“ fragte der Schulze, dem das veränderte Verhalten des Sohnes zwar nicht entgangen war, der sich aber über die Ursache nicht weiter Sorge gemacht hatte. „Joseph sollte ja bis zum zwanzigsten Jahre hier bleiben.“

„Weil’s nicht taugt, wenn ein neunzehnjähriger Bursche und ein Mädchen von vierzehn Jahren, das für achtzehn gelten kann, fast täglich mit einander verkehren. Die Gevatter Müllerin hält’s auch nicht für gut.“

„Unsinn!“ polterte der Schulze. „Ich hoffe doch nicht, daß die Frau Gevatterin an meines Jungen Rechtschaffenheit zweifelt?“

„So wenig als ich an dem tugendhaften und ehrbaren Sinn der Anna,“ erwiderte die Frau mit dem Gefühl begründeten Mutterstolzes. „Aber,“ fügte sie weich hinzu, „wie brav und rechtschaffen wir auch sein mögen, wir beten doch täglich: Führe uns nicht in Versuchung! und hoffen auf Erhörung. Und da dächte ich, wir müßten für unser eigen Fleisch und Blut die Versuchung zu allererst aus dem Wege räumen.“

Der Schulze sah sie einige Augenblicke nachdenklich an. Dann ging er auf sie zu, klopfte sie herzlich auf die Schulter und mit den Worten: „Du hast Recht, Alte!“ verließ er das Zimmer. Bald darauf sah man ihn im Sonntagsrock mit den silbernen [551] Knöpfen, – ein Zeichen, daß es sich um etwas Wichtiges handle, – dem Mühlhof zuschreiten, und als er nach einigen Stunden zurückkehrte, lächelte er so pfiffig, als ob er in irgend einer diplomatischen Mission die glänzendsten Erfolge davon getragen hätte.

„Vor Pfingsten,“ begann er zu seiner Frau, „kann der Schwager den Joseph nicht aufnehmen und bis dahin muß er also noch hier bleiben. Damit aber die Sache völlig in Ordnung gebracht wird, so habe ich mit dem Gevatter verabredet, daß wir, nachdem Anna am Palmsonntag eingesegnet ist, die Kinder zu Ostern feierlich zusammen geben. Am Pfingstmontag, dem vierzehnten Geburtstag der Anna, packst Du die Sachen des Jungen, und Tags darauf fahre ich selbst ihn zum Schwager, bei dem er drei Jahre bleibt. Nur zum Weihnachtsfest lasse ich ihn immer auf einige Wochen zurückkehren. Nach Ablauf der drei Jahre, – und bis dahin werden wir für ein kleines Besitzthum gesorgt haben – soll die Hochzeit sein. Ist’s so recht, Mütterchen?“

Die Schulzenfrau drückte ihrem Manne dankend die Hand, und der Abrede gemäß fand am Ostersonntag die Verlobung des jugendlichen Paares bei einem festlichen Mahle auf dem Mühlhofe statt. Joseph strahlte vor Glück und Wonne, als Anna in Gegenwart des würdigen Geistlichen seine Versicherung, daß er sie über Alles lieb habe, freudig erröthend erwiderte. Das Gefühl, daß nun ein zweites Wesen ihm für sein ganzes Leben anvertraut sei, ließ ihn in seiner Haltung alsbald einen Ernst und ein Selbstbewußtsein an den Tag legen, das einen fast komischen Gegensatz zu seiner bisherigen Befangenheit und Unsicherheit bildete. Anna dagegen, so innig sie auch den Jugendgespielen liebte, war um so reizender durch die jungfräuliche Schüchternheit, die sie ihm gegenüber auch jetzt noch bewahrte und mit der sie, wie mit einem rosigen Schleier, die Regungen ihres Herzens verhüllte.

So kam der Pfingstsonntag heran, der vorletzte Tag, welchen das junge Paar vor seiner dreijährigen Trennung gemeinsam verleben durfte. Schon am Morgen war Joseph in den Mühlhof geeilt und hatte seiner Braut, die, ein überaus liebliches Bild im Doppelschmuck des Festes und der Jugend, ihm entgegen kam, als vorläufige Geburtstagsgabe ein kleines goldenes Kreuz um den Hals gelegt, damit sie in ihrem Gebete immer seiner gedenke. Natürlich blieben Beide beisammen. Sie besuchten gemeinschaftlich den Gottesdienst, gingen dann in den Schulzenhof, unterstützten Joseph’s Mutter in den Vorbereitungen zur Reise und kehrten erst Nachmittags, gefolgt von dem Schulzenpaar, in den Mühlhof zurück, um bei einem solennen Mahle im Kreise der Familie, das am nächsten Tage im Schulzenhofe wiederholt werden sollte, ebenso sehr Anna’s Geburtstag vorzufeiern wie den Schmerz über die bevorstehende Trennung zu lindern. Die Müllerin schien anzunehmen, daß dieser Doppelzweck am besten durch eine überreich besetzte Tafel erreicht werde, und ihr anderes Ich, offenbar von gleicher Ueberzeugung durchdrungen, hatte nicht nur für das gewöhnliche Getränk an Festtagen, einen etwas säuerlichen Landwein, ausreichend gesorgt, sondern sogar mehrere Flaschen spanischen Weins, das bis dahin sorgfältig aufbewahrte Geschenk eines Verwandten, freigebig zum Opfer gebracht.

Der Abend dämmerte, als Joseph und Anna das Zimmer verließen, in welchem die Alten heiter plaudernd zurückblieben. Hand in Hand gingen sie, während die Sonne den fernen Bergen zueilte und die wunderbarsten Farbentöne hervorrief, auf einem Feldrain einem Buchengehölz zu, das, in einiger Entfernung auf einer Anhöhe gelegen, eine weite und herrliche Rundschau gestattete. Beide waren erregt; der feurige Südwein hatte seine Wirkung nicht verfehlt. In dem sonst so ruhigen und besonnenen jungen Manne hatte er eine leidenschaftliche Stimmung erzeugt, und auch Anna fühlte sich heute zum ersten Male dem Geliebten gegenüber weniger schüchtern, als bisher. Mit jedem Schritte, den sie weiter hineinthaten in die in vollstem Frühlingsschmucke prangende Natur, klopften ihre Herzen ungestümer. Immer stürmischer preßte Joseph die Geliebte an die Brust und als sie, auf der Anhöhe angelangt, sich an einem Hage wilder Rosen niedergelassen hatten, drückte er glühende Küsse auf Anna’s Mund, die endlich ebenso heiße Erwiderung fanden. In ihrem Liebesrausche entschwand den Beiden die Wirklichkeit um sie her … und, eine Thräne im Auge, verhüllte der Engel der Unschuld sein Antlitz und trug die Sünde in das große Schuldbuch ein, das uns einst vorgelegt werden wird an dem Tage, da wir gewogen werden mit der Wage der Gerechtigkeit. –


Etwa acht Jahre waren vergangen, als eines Montags die Stadt .……hausen in ungewöhnlichem Maße von Landleuten besucht war, welche das Gerichtsgebäude umstanden und dem Verlauf der bei verschlossenen Thüren geführten schwurgerichtlichen Verhandlung mit einer fast fieberhaften Spannung entgegen sahen. Es waren sämmtliche Bewohner des Dorfes, in welchem Joseph seit zwei Jahren das Schulzenamt bekleidete, nachdem sein Vater plötzlich gestorben und ihm, als dem begütertsten, rechtschaffensten und intelligentesten Hofbesitzer, durch einstimmigen Beschluß der Gemeine der Schulzenstab übergeben worden war. Die Ortschaft hatte ihre Wahl nicht zu bereuen. Der junge Schulze zeigte in seinem Amte dieselbe Umsicht und Energie wie sein Vater, aber die ihm eigenthümliche Milde und Freundlichkeit gewannen ihm in noch höherem Grade die Herzen Aller. Dazu kam, daß Anna, mit der er seit vier Jahren in der glücklichsten und durch zwei prächtige Kinder gesegneten Ehe lebte, als Schulzenfrau sich für die Freundin und Helferin aller Leidenden und Bedrängten im Orte ansah und bald nach dem Amtsantritt ihres Gatten auf dem Mühlhofe unter besonderer Obhut ihrer dort von einem reichlichen Altentheile zehrenden Eltern ein kleines Wohlthätigkeitsinstitut errichtete, das Hospital, Apotheke, Garküche und eine in Nothständen immer offene Darlehenscasse in sich vereinigte. Es war ein rührendes Bild, die junge hübsche Frau dort in ihrer sanften und bescheidenen Weise die Werke der Barmherzigkeit üben zu sehen, und es konnte nicht fehlen, daß die fast an Verehrung grenzende Liebe, mit welcher die ganze Gemeine ihr zugethan war, auf Joseph, der sie übrigens nach Kräften in ihrem menschenfreundlichen Wirken unterstützte, übertragen wurde.

So durfte es nicht befremden, daß von allen Seiten der lebhafteste Antheil genommen wurde, als etwa drei Monate vor der heutigen Gerichtsverhandlung eine Allen unbegreifliche Aenderung in dem Wesen des Schulzen sich bemerkbar machte. Sie fiel zusammen mit der mehrtägigen Anwesenheit eines jener nichtsnutzigen Winkelschreiber, die das Land häufig durchzogen, um in der Verhetzung der ärmern und namentlich auch der dienenden Classe gegen die Begüterten ihren unsaubern Gewinn zu suchen, und mit dem plötzlichen Verschwinden eines Knechts vom Schulzenhofe, der als Waise von Joseph’s Vater auf das Gut genommen und dort dreißig Jahre lang mit Wohlthaten überhäuft worden war, obwohl sein Verhalten oft ernstliche Rügen und Strafen nothwendig gemacht hatte. Man hatte den Knecht in häufigem Verkehr mit dem Winkelconsulenten gesehen und es war auch nicht unbemerkt geblieben, daß er diesen, als ihn der Schulze unter Androhung sofortiger Einsperrung aus dem Orte verwies, bis in’s Buchenwäldchen begleitet hatte und dort längere Zeit mit ihm zusammen geblieben war. Wie mit Einem Schlage war kurze Zeit darauf nach dem Eintreffen einer gerichtlichen Vorladung aus dem frohen, glücklichen Joseph ein verschlossener und unzugänglicher Mensch geworden, dessen Lebenskraft versiecht zu sein schien und der finster vor sich hinbrütend die Tage in seinem Zimmer zubrachte. Alle Ansprache naher Freunde, die dringenden Bitten seiner Angehörigen und selbst die heißen Thränen Anna’s vermochten ihn ebenso wenig seiner trübsinnigen Stimmung zu entreißen, als ihm die Ursache derselben zu entlocken. „Laßt mich, laßt mich,“ war seine einzige Antwort, „Gott wird noch Alles zum Besten wenden!“ Weder seine Wirthschaft noch sein Amt interessirten ihn mehr. Zuweilen fuhr er in die Stadt, aber während Anna hoffte, daß er erheitert oder wenigstens freundlicher von dort zurückkehren würde, zeigte er sich nach der Heimkehr noch finsterer und einsilbiger. Der ganze Hof schien nach und nach wie unter einem schweren Banne zu liegen. Anna’s Züge wurden täglich kummervoller, das frische Roth ihrer Wangen schwand dahin und das fröhliche Lachen und Jauchzen der Kinder verstummte endlich auch, als sie die Augen der Mutter immer von Thränen umflort sahen.

Am Tage vor der Gerichtssitzung traf ein berühmter Advocat im Dorfe ein und stieg beim Schulzen ab. Beide schlossen sich ein und conferirten mehrere Stunden lang. Anna, deren Kräfte die andauernde Spannung kaum noch ertrugen, horchte athemlos an der Thür, aber die Unterredung wurde so leise geführt, daß sie nur dann und wann ein heftig gesprochenes Wort ihres Gatten erhaschte, ohne in den Zusammenhang eindringen zu können. Nachmittags sah man Joseph am Arme des Rechtsgelehrten dem Buchengehölz zuschreiten und längere Zeit an dem inzwischen üppig fortgewucherten Rosenhag verweilen. Als sie zurückkehrten und Joseph [552] den Befehl zum Anspannen gab, war er noch blasser als bisher. Er küßte Weib und Kinder innig, als ob es sich um ein Lebewohl für ewig handle, allein vergeblich erwartete Anna ein Wort von ihm zu hören. Er vermochte nicht zu sprechen, die Erregung seiner Seele war zu mächtig. Er vergaß selbst zu sagen, daß er über Nacht fortbleiben werde. Noch ein wehmüthiger Blick auf das geliebte Weib – dann bestieg er mit seinem Rechtsbeistande den Wagen, drückte das Gesicht in beide Hände, und einige Augenblicke später sah ihn Anna in dem nahen Hohlwege verschwinden. –

„Gerichtsdiener, rufen Sie den Schulzen Joseph .… aus ..…dorf auf und führen Sie ihn auf die Anklagebank!“ befahl am nächsten Morgen der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes, ein würdiger Herr mit grauem Haar und wohlwollenden Zügen, nachdem die Geschworenen sich versammelt hatten und durch eine ernste Ansprache auf die Pflichten ihres Berufes hingewiesen worden waren.

Fast wankenden Schrittes erschien Joseph, geführt von dem Advocaten, der sich dem Gerichtshofe als Vertheidiger vorstellte, in dem einfach und angemessen decorirten Gerichtssaal. „Muth, Muth, junger Freund!“ flüsterte ihm sein Begleiter zu, als Joseph unwillkürlich vor dem Eintritt in das Gitter, welches die Anklagebank einschließt, zurückschreckte. „Der Platz auf dieser Bank schändet nicht, es hat schon mancher brave Mann darauf gesessen.“

Joseph sammelte seine Kräfte energisch und von diesem Augenblicke an, wo das furchtbare Geschick, das so lange auf ihm gelastet und jede Lebensregung seiner Brust erstickt hatte, der Katastrophe zueilte, gewann er, wie es eine Eigenthümlichkeit starker Naturen im Moment der äußersten Gefahr ist, seine volle männliche Festigkeit wieder. Er trat ohne Weiteres in den ihm angewiesenen Raum, bezeigte dem Gerichtshofe durch eine Verbeugung seine Ehrerbietung und erwartete ruhig die nächsten Vorgänge. Nur als sein Blick auf den Zuhörerraum fiel und er diesen dicht gefüllt und Aller Augen auf sich gerichtet sah, überzog ein dunkles Roth seine bleiche Stirn und unwillig wandte er sich mit der Frage an seinen Vertheidiger, ob die Leute nicht würden entfernt werden.

Ehe Letzterer noch antworten konnte, eröffnete der Präsident die Verhandlung mit dem Namensaufruf der Geschwornen und belehrte Joseph, nachdem die Namen der Anwesenden in die Urne gelegt worden waren, über das ihm zustehende Ablehnungsrecht bei der nun beginnenden und, da weder von der Staatsanwaltschaft noch von der Vertheidigung von diesem Recht Gebrauch gemacht wurde, sehr schnell beendeten Bildung des Schwurgerichts. Die Geschwornen nahmen in der Reihenfolge, wie sie das Loos aus der Urne hatte hervorgehen lassen, ihre Sitze ein und Joseph bemerkte mit Befriedigung, daß mehr als die Hälfte unter ihnen Männer waren, welche ihn seit seiner Jugend kannten und mit denen sowohl sein verstorbener Vater als er selbst in mannigfachem Verkehr gestanden hatte. Als nach ihrer Vereidung auf den von Joseph’s Vertheidiger lebhaft unterstützten Antrag des Staatsanwalts der Gerichtshof die Ausschließung der Oeffentlichkeit während der Verhandlung beschlossen, der Zuhörerraum sich geleert und der Gerichtsdiener die Eingangsthüren verschlossen hatte, befahl der Präsident nach einigen Joseph’s persönliche Verhältnisse betreffenden Fragen die Vorlesung der Anklageschrift.

Die Aufregung, mit welcher die Mitglieder des Gerichtshofes und die Geschwornen dem Inhalt des Schriftstücks folgten, bezeugte ebenso sehr das Interesse, das sie an der Person des Angeklagten nahmen, wie den Abscheu, welchen die von der Staatsanwaltschaft selbst mit größtem Widerwillen veranlaßte, durch die bestehenden Gesetze aber gebotene strafrechtliche Verfolgung der Sache überhaupt in ihnen erregte. Es war ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit, dessen Joseph angeklagt war. Es war jene unglückselige Stunde am Rosenhag, die in Verbindung mit dem Umstande, daß Anna damals das vierzehnte Lebensjahr noch nicht zurückgelegt hatte, die thatsächliche Grundlage der Anklage bildete, einer Anklage, deren auf mehrjährige Zuchthausstrafe hinweisender Schluß für einen vor acht Jahren begangenen Fehltritt nicht blos den einen Mann auf der Anklagebank, sondern eine ganze Familie der Vernichtung preiszugeben drohte!

Eine tiefe Stille trat ein, als der Gerichtsschreiber dem Präsidenten die Acten zurückreichte und dieser, sichtbar bewegt, das Wort ergriff:

„Ehe ich die im Gesetz vorgeschriebene Frage an Sie richte, Angeklagter, kann ich es mir nicht versagen, einem Gefühl Ausdruck zu geben, von dem Niemand in diesem Saale unberührt geblieben ist, dem Gefühl der aufrichtigsten Theilnahme an dem schweren Geschick, welches Sie betroffen hat. Wir werden Ihnen dasselbe, unbeschadet der getreuen Erfüllung unserer Pflicht und der Heilighaltung unseres Eides, soviel wie möglich zu erleichtern suchen. Fassen Sie Vertrauen zu dem Gerichtshofe und sehen Sie der Gefahr mit Mannesmuth in’s Auge. Können Sie sich dazu entschließen, die reine und volle Wahrheit zu sagen, so dürfen Sie sich rühmen, das Sittengesetz unter den schwierigsten Verhältnissen erfüllt zu haben; ich halte es indeß für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sorgfältig jede Ihrer Antworten erwägen mögen, damit Sie sich nicht selbst schädigen und Ihrem Herrn Vertheidiger sein Amt erschweren. Hoffen Sie endlich – ich glaube Ihnen das mit Sicherheit in Aussicht stellen zu können – im schlimmsten Falle auf die Gnade des Königs. Und nun frage ich Sie: Bekennen Sie sich schuldig oder nicht?“

Trotz aller Selbstbeherrschung vermochte Joseph den schweren Kampf nicht zu verbergen, den diese Frage, so lange er auch schon von seinem Vertheidiger auf sie vorbereitet war, in seinem Innern erregte. Bis zu diesem Tage war noch niemals eine Lüge über seine Lippen gegangen, sein offener und ehrenhafter Charakter duldete nicht einmal Hinterhalt oder Zweideutigkeit. Wenn er der Stimme seines Herzens hätte folgen dürfen, so wäre seine Antwort ein kurzes Bekenntniß seiner Schuld gewesen. Aber – sowie die gestellte Frage über seine Person hinausreichte, so konnte auch seine Antwort eine Beziehung auf sein geliebtes Weib nicht umgehen. Es schien ihm, als müsse er sie selbst preisgeben, wenn er auf den Inhalt der Anklage näher einginge. Diese Rücksicht überwog auch jetzt, ungeachtet des tiefen Eindrucks, den die herzlichen Worte des Vorsitzenden auf sein empfängliches Gemüth gemacht hatten, jede andere Erwägung und ließ ihn bei seinem von dem Vertheidiger durchaus gebilligten Entschluß beharren, jede Auslassung auf die Anklage zu verweigern.

„Ich bitte es zu entschuldigen,“ erwiderte er nach einer Pause, in welcher ein eigenthümlicher Ton, ähnlich einem unterdrückten Schluchzen, auf einer Galerie des Saales gehört worden war, „wenn ich die Beantwortung dieser Frage und überhaupt jede weitere Erklärung über das mir zur Last gelegte Verbrechen ablehne. Ich bin überzeugt, der Gerichtshof wird die Gründe meines Verhaltens zu würdigen wissen und vor Allem nicht annehmen, daß Mangel an Ehrerbietung vor ihm meine augenblicklich vielleicht seltsam scheinende Handlungsweise bestimmt.“

„Bedenken Sie aber wohl,“ unterbrach ihn der Vorsitzende, „daß die Anklage gerade dies Verhalten, das Sie sich schon in der Voruntersuchung haben zur Richtschnur dienen lassen, als ein Sie in hohem Grade belastendes Moment hervorhebt, daß sie es als die Folge Ihres Schuldbewußtseins auffaßt und daß es allerdings auch von diesem Gesichtspunkt aufgefaßt werden kann.“

Joseph blickte fragend auf seinen Vertheidiger, als dieser sich erhob und erwiderte: „Wir müssen uns die Schlußfolgerungen der Staatsanwaltschaft gefallen lassen und es abwarten, welchen Eindruck sie auf die bewährte Einsicht der Herren Geschwornen machen werden. Vorläufig wolle der hohe Gerichtshof berücksichtigen, daß wir uns in einer außerordentlichen Lage befinden, und von diesem Gesichtspunkt aus unser außergewöhnliches Verhalten beurtheilen.“

„So schreiten wir zur Beweisaufnahme,“ fuhr der Präsident fort. „Gerichtsdiener, führen Sie die Zeugen ein!“

Nach kurzer Abwesenheit kehrte der Gerichtsdiener mit drei Personen in den Saal zurück. Es waren zwei Männer und eine ältere Frau, welche, als sie Joseph auf der Anklagebank erblickte, die heißesten Thränen vergoß. Unter den Männern ging der vom Schulzenhofe entlaufene Knecht voran, sichtlich bemüht, eine freie Haltung zu bewahren, und doch nicht fähig, den Blick vom Boden zu erheben. Sein Begleiter war ein in der Nähe des Buchenwäldchens wohnender Holzschläger, dessen kolossaler Körperbau nicht minder die allgemeine Aufmerksamkeit erregte, als seine treuen, von weißen Locken umrahmten Gesichtszüge für ihn einnahmen. Als er des Schulzen ansichtig wurde, schritt er, den Gerichtsdiener wie ein Kind zur Seite schiebend, auf ihn zu, drückte ihm kräftig die Hand und mit einer Stimme, die, so rauh sie war, das tiefste Mitgefühl durchtönen ließ, redete er ihn tröstend an: „Gott segne Euch, Schulze, in dieser schweren Stunde. Laßt nur den Muth [553] nicht sinken, mein lieber Sohn! der alte Herrgott da oben läßt einen braven Mann nicht zu Schanden werden.“

Der Gerichtsdiener schnitt die weiteren Herzensergüsse des Mannes ab, und der Vorsitzende ermahnte in eindringlichster Weise die in der Voruntersuchung schon vernommenen und vereideten Zeugen, hier nochmals vor versammeltem Gericht die lautere Wahrheit zu sagen. Der Holzschläger und die alte Frau sollten nur über einige Nebenumstände vernommen werden, deren Feststellung weniger für den Sachverhalt selbst, als für die Beurtheilung der Glaubwürdigkeit des Hauptzeugen von Erheblichkeit war. Dieser – der entlaufene Knecht – war der zufällige und unfreiwillige Augenzeuge der Vorgänge am Rosenhag gewesen. Sein Zeugniß bildete die Hauptstütze der Anklage und mit seiner Vernehmung wurde daher begonnen.

Das Auftreten des Mannes machte zur Bestürzung des Vertheidigers, der jedes Wort und jede seiner Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte, nicht den ungünstigen Eindruck, welchen er erwartet hatte. Man merkte allerdings sehr bald, daß man es mit einem leichtsinnigen Subject zu thun habe, allein sein Benehmen ließ eben so wenig wie seine Aussage Bosheit, Rachsucht oder Herzenshärte erkennen. Ohne Rückhalt, aber auch ohne Uebertreibung erzählte er ruhig und mit dem Gepräge der Wahrheit Alles, was er aus nächster Nähe beobachtet hatte, und nicht ohne den Ausdruck der Beschämung und Reue erklärte er auf Befragen des Vorsitzenden, daß es ihm niemals in den Sinn gekommen wäre, zu einem Verfahren gegen seinen Herrn die Hand zu bieten, wenn er nicht durch den Winkelschreiber dazu verleitet worden wäre. Gereizt durch einen ihm von Joseph ertheilten und nach seiner Ansicht nicht verdienten Verweis habe er sich bei dem Schreiber über seine Behandlung beklagt. Sie seien vertrauter mit einander geworden und in weiterem Verkehr habe er ihm auch die Wahrnehmungen mitgetheilt, denen er sich an jenem Pfingstsonntag und am Abend vor der im Schulzenhofe festlich begangenen Geburtstagsfeier Anna’s nicht habe entziehen können. Der Winkelschreiber, ein wegen Unterschlagung aus dem Justizdienst entlassener Actuar, habe dies aufgefaßt. Es sei ihm gelungen, zu ermitteln, daß Anna erst am Pfingstmontage vierzehn Jahre alt geworden sei, und hierauf habe er den Plan gebaut, durch Drohungen mit einer Denunciation eine bedeutende Geldsumme von dem Schulzen zu erpressen. Als der Versuch erfolglos geblieben sei und Joseph sein Andringen mit seiner Ausweisung beantwortet habe, sei die Denunciation abgefaßt, bei der Staatsanwaltschaft eingereicht und darin er und die beiden andern anwesenden Personen als Zeugen benannt worden.

Der Zeuge versicherte die Wahrheit seiner Deposition auf den schon von ihm geleisteten Eid und es sollte die Vernehmung des Holzschlägers erfolgen, als der Advocat doch noch einen Versuch machen zu müssen glaubte, die Aussage des Mannes wenigstens in einigen Punkten zu erschüttern. Mit Genehmigung des Vorsitzenden richtete er zunächst an den Zeugen die Frage, ob er sich wirklich noch heute – nach Verlauf von acht Jahren – eines jeden von ihm bekundeten Umstandes mit solcher Sicherheit erinnere, daß er nicht befürchten dürfe, sich durch sein Zeugniß des Verbrechens des Meineides schuldig zu machen.

Der Knecht bejahte die Frage mit dem Ausdruck innerster Ueberzeugung.

Denken Sie an Ihre Verantwortlichkeit vor Gott dem Allwissenden!“ rief ihm der Vertheidiger aufgeregt zu. „Denken Sie daran, daß Ihre Aussage einen Mann, dessen Ehrenhaftigkeit bis zu dieser Stunde über jeden Zweifel erhaben war und dem Sie persönlich für die Ihnen erwiesenen Wohlthaten zum Dank verpflichtet sind, möglicher Weise in’s Zuchthaus führt! Denken Sie daran, daß das unglückliche Weib des Angeklagten …“

Derselbe klagende Ton, wie der Schmerzensseufzer einer geängsteten Seele schwach und doch durchdringend, der schon einmal von der nur selten dem Publicum geöffneten und fast immer verschlossenen Galerie gehört worden war, klang wieder durch den Saal und ließ, als der Vertheidiger plötzlich inne hielt, eine tiefe Stille in dem weiten Raume eintreten. Aller Augen richteten sich auf den Ort, wo man ihn gehört zu haben glaubte, aber – so hell das Licht der hohen Bogenfenster auch auf die Galerie fiel – man konnte Niemand dort entdecken. Und doch wußte Jeder, daß er sich nicht getäuscht hatte. Der Präsident wollte eben dem Gerichtsdiener den Befehl geben, sich an Ort und Stelle zu begeben und die räthselhafte Störung aufzuklären und zu beseitigen, als ein anderer Vorgang die Aufmerksamkeit auf die unteren Räume des Saales zurückführte.

Die Worte des Vertheidigers „in’s Zuchthaus“ waren wie ein Donnerschlag auf den Knecht niedergefahren. Daß es ihm leid that, seinen früheren Herrn und langjährigen Wohlthäter der gerichtlichen Verfolgung ausgesetzt zu haben, konnte keinem Zweifel unterliegen, und wenn er ihn nichtsdestoweniger durch sein Zeugniß schwer belastete, so war es offenbar nur der Hinblick auf seinen Eid gewesen, welcher ihn von einer Aenderung seiner Aussage zu Gunsten Joseph’s zurückgehalten hatte. Das Bewußtsein, die reine Wahrheit sagen zu müssen und gesagt zu haben, und die Unkenntniß der Folgen, die sich an seine Aussage knüpfen konnten, hatten auch allein im Laufe der Verhandlung ihn die anfänglich vergeblich gesuchte Sicherheit seiner Haltung wieder gewinnen und nur noch dann sich ängstlich und befangen zeigen lassen, wenn sein Auge zufällig den Blicken Joseph’s begegnete. Kaum war aber das furchtbare Wort „in’s Zuchthaus“ ausgesprochen, kaum hatte er von einer Strafe gehört, die nach seinen Rechtsbegriffen nur dem Abschaum der menschlichen Gesellschaft zu Theil werden durfte, als sein ganzes Wesen von dem Sturm seiner Empfindungen erschüttert wurde. Seine Gesichtszüge wurden starr, wie die eines Todten, die Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen, sein ganzer Körper streckte sich krampfhaft, und taumelnd sah man ihn einige Augenblicke später auf Joseph zustürzen, sich vor dem Gitter ihm zu Füßen werfen und seine Hände mit einem Schrei der Verzweiflung flehend zu ihm emporheben. „Vergebung, lieber, lieber Herr, – ich habe gelogen, ich war nicht im Wäldchen, ich habe nichts gesehen!“ Mehr konnte er nicht sprechen. Ein heftiges Weinen erstickte seine Stimme und wie gebrochen blieb er händeringend am Gitter liegen.

Der Präsident bewahrte einige Minuten tiefes Schweigen, um sich und allen Anwesenden Zeit zur Sammlung und Beruhigung zu gewähren. Auch Joseph, der schon, als der Vertheidiger wider die ausdrückliche Verabredung seines Weibes Erwähnung gethan hatte, heftig erregt worden war und dessen Blicke seit diesem Augenblick fest auf einem Punkt der Galerie hafteten, als ob sie ihre hölzerne Brüstung durchdringen wollten, bedurfte nothwendig der Schonung. Er schien durch die unerwartete Wendung der Sache alle Fassung und selbst sein Bewußtsein verloren zu haben, wenigstens hörte er auch nicht ein Wort von dem, was sein Vertheidiger ihm mit leidenschaftlicher Geberde in’s Ohr flüsterte, bis der Präsident die Verhandlung wieder aufnahm.

„Treten Sie jetzt nochmals vor, Zeuge, und überlegen Sie wohl, was Sie thun! Sie haben ein eidliches Zeugniß abgegeben und widerufen es jetzt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich selbst des Verbrechens des Meineids anklagen, wenn Sie auf diesem Widerruf beharren, und daß Sie der Strafe des Verbrechens – mehrjähriger Zuchthausstrafe! – nicht entgehen, wenn auch der Beweggrund Ihres Widerrufs ein edler und achtungswerther ist. Bei der Hoffnung, die Sie einst auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit setzen, frage ich Sie: Haben Sie bei Ihrer Vernehmung die Wahrheit gesagt oder haben Sie wirklich nichts gesehen und also bisher gelogen?“

Der Knecht schwankte mit augenscheinlicher Mühe dicht an den Richtertisch, auf welchem das Kreuz des Erlösers, das Symbol der ewigen Gottesliebe und Vergebung, ihm gegenüber stand. Er faßte es fest in’s Auge und es war, als erwarte er eine höhere Eingebung. Dann sagte er mit fester Stimme: „Ich war nicht im Buchenwäldchen, ich habe nichts gesehen, – mein Zeugniß war falsch. Der Schreiber hat Alles erfunden und mir gesagt, wie ich aussagen solle. Nach seiner Vorschrift habe ich gehandelt.“

„Sie müssen jenem Elenden aber doch Thatsachen an die Hand gegeben haben, die er benutzen konnte? Er war ja mit den Verhältnissen und Personen völlig unbekannt.“

„Ich habe ihm einmal,“ erwiderte der Knecht, „als wir über die Jugend der Schulzenfrau sprachen, erzählt, daß sie noch nicht vierzehn Jahre alt gewesen sei, als sie sich mit dem Herrn versprochen habe. Im Laufe des Gesprächs kamen wir dann auch auf den Pfingstsonntag, und ich theilte ihm mit, wie ich gesehen, daß der Schulze damals seine Braut auf dem Wege in’s Buchenwäldchen mehrmals geküßt habe. Weiter habe ich nichts erzählt und mehr habe ich auch nicht gesehen. Alles Uebrige hat der [554] Schreiber hinzugesetzt, der sich noch längere Zeit im Dorfe herumtrieb und auch die beiden andern Zeugen ermittelte, die ebenfalls den Schulzen und seine Braut in’s Buchenwäldchen und an den Rosenhag gehen sahen.“

„Und welchen Zweck verfolgten Sie bei der wahrheitswidrigen Bezichtigung Ihres früheren Brodherrn?“ fragte der Präsident weiter.

„Der Schreiber hatte mir gesagt, der Schulze werde in eine große Geldstrafe verurtheilt und ein Theil davon ihm als Angeber und mir als Hauptzeugen zugesprochen werden. Dann aber wollte ich mich auch an meinem Herrn rächen, weil er mich häufig gestraft und hinter andere Dienstleute zurückgesetzt hat.“

Der Staatsanwalt, der mit dem lebhaftesten Interesse dem Verhör gefolgt war, erhob sich. „Nach diesen wiederholten, bestimmten und motivirten Erklärungen,“ begann er, „beantrage ich die sofortige Verhaftung des Zeugen wegen Meineids. Die weiteren Anträge in Bezug auf die Sache selbst behalte ich mir vor, bis der Beschluß publicirt ist.“

„Der Zeuge ist sofort zu verhaften,“ verfügte der Präsident, nachdem die beisitzenden Richter ihre volle Zustimmung zu dem Antrage der Staatsanwaltschaft zu erkennen gegeben hatten. „Führen Sie den Mann in’s Gefängniß, Gerichtsdiener, – der Haftbefehl wird ihm eingehändigt werden.“

Der Diener war eben im Begriff, sich des Menschen, der, ohne eine Bewegung zu verrathen, den Beschluß des Gerichts gehört hatte, zu bemächtigen und ihn einem Gefängnißbeamten zuzuführen, als das Wort „Nimmermehr!“ von der Anklagebank gehört wurde. Joseph, der während der letzten Vorgänge anscheinend theilnahmlos geblieben war, hatte sich plötzlich erhoben und war dicht an die Brüstung getreten. Obgleich jede Muskel seines kräftigen Körpers unter dem Druck dieses Moments zu erbeben schien, sprach er doch mit fester, im ganzen Saale widerhallender Stimme: „Lassen Sie den Mann in Frieden ziehen, – er hat die Wahrheit gesprochen bis zu dem Augenblick, als er sich selbst des Meineids anklagte. Die Reue dieses Unglücklichen fällt schwerer auf mein Haupt, als sein Leichtsinn, aber um so weniger kann ich sein Opfer annehmen. Ich darf jetzt keine Rücksichten mehr nehmen; jetzt – Herr Präsident – beantworte ich die erste Frage, die Sie an mich stellten. Ich bekenne mich schuldig! Schicken Sie mich nun in’s Zuchthaus, wie es Ihnen das Gesetz vorschreibt!“

Man erzählt von einem Ton, der zuweilen in der Wüste gehört werden soll, einem Ton – so markdurchdringend und erschütternd, als ob sich die Verzweiflungsqual aller Creatur in ihm ausdrücke. Ein solcher Ton, der Klageruf eines gebrochenen Herzens, hallte jetzt durch den Saal und über der Brüstung der Galerie wurde das blonde Haupt eines jungen Weibes sichtbar, dessen gramerfüllte Züge auf die Anklagebank herunterstarrten. „Joseph, mein geliebter Mann, ich sehe Dich niemals wieder!“ Dann – ein dumpfer Fall auf den Boden und Alles war still, wie das Grab.

Die Verhandlung wurde geschlossen und das Verfahren niemals wieder aufgenommen. Joseph folgte nach einigen Tagen dem Sarge seiner Gattin, aber er wußte nicht, welch’ kostbarer Schatz in die kühle Erde gesenkt und mit Rosen überschüttet wurde. Ueber seinen Geist war eine ewige Nacht eingebrochen. Sie allein bewahrte ihn vor der Verurtheilung in Gemäßheit eines Gesetzes, das, so gerechtfertigt seine Strenge in den Fällen ist, welche dem Gesetzgeber vorgeschwebt haben mögen, in anderen Fällen dem Rechtsbewußtsein tiefe Wunden schlägt. Die Keuschheit eines Kindes ist etwas Heiliges und muß dem gewissenlosen Wüstling und Verführer gegenüber energisch geschützt werden. Ein Mord kann entschuldbarer sein und eine mildere Beurtheilung beanspruchen, als die Vergiftung der reinen Seele eines Kindes. Aber die Entscheidung der Frage, ob ein solcher Fall vorliegt, sollte nicht abhängig gemacht werden von Tag und Stunde,[1] sondern – ebenso wie Strafart und Strafmaß – von der Individualität der Person und von den der freien Würdigung des Richters unterliegenden anderweitigen Thatumständen. Andererseits hätte man überall die weise Bestimmung der Carolina und des älteren preußischen Rechts, wonach die strafrechtliche Verfolgung nur auf Antrag der Verletzten oder ihrer Angehörigen eintreten durfte, mindestens in dem Falle aufrecht halten sollen, wenn das öffentliche Interesse nicht durch die Erregung eines öffentlichen Aergernisses tangirt wird.

H. Black.




  1. So die meisten deutschen Strafrechte in Nachahmung des französischen Rechts. Vergl. auch § 144, Nr. 3 des preuß. Strafgesetzbuchs.