Natur und Kunst beim Arzte

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Büchner
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Natur und Kunst beim Arzte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 686–687
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[686]

Natur und Kunst beim Arzte.

Von Prof. Dr. L. Büchner.


Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß ebenso oft, wie die Kultur oder die allgemeine Verfeinerung der Sitten und Lebensgewohnheiten einen starken Schritt nach vorwärts thut, sich eine Reaktion dagegen im Sinne einer sogenannten „Rückkehr zur Natur“ geltend macht – und zwar macht sich diese Reaktion auf fast allen Gebieten menschlichen Seins und Denkens mehr oder weniger bemerkbar. Im vorigen Jahrhundert war es Rousseau, welcher diesem Reaktionsstreben einen ebenso lebendigen wie nachhaltigen Ausdruck gab. Aber die Zeit ging über ihn und die ganze, von ihm angeregte Bewegung ebenso zur Tagesordnung über, wie sie über so vieles andere bereits zur Tagesordnung übergegangen ist – ohne daß das Thema selbst damit aus der Welt geschafft wäre. Sehen wir es doch in der Gegenwart selbst wieder seinen alten Rundgang antreten und unserer ganzen Kulturentwicklung eine Art von Krieg ansagen. Wir finden den Beweis dafür auf dem Gebiete der Philosophie in der Wiederheraufbeschwörung des wilden Animismus und Geisterglaubens, durch den immer mehr an Ausbreitung gewinnenden Spiritismus; ferner auf dem Felde von Kunst und Poesie in dem jetzt herrschenden und förmlich zur Modesache gewordenen Naturalismus; auf dem Boden der Medizin endlich, von welcher hier speciell die Rede sein soll, in der jetzt mit so großer Anmaßung auftretenden und so viele Geister gefangen nehmenden Naturheilkunde. Wenn es nach den Lobrednern dieser Richtung ginge, so müßte alles, was die medizinische Wissenschaft seit Jahrtausenden unter Mühen und Opfern aller Art zu Tage gebracht hat, ausgestrichen und die ganze Kunst des Heilens der Krankheiten von vorne an neu gelernt werden. Das ist freilich sehr bequem für solche, welche nicht, wie der gebildete Arzt, ihr halbes Leben dem eingehenden Studium der Natur des Menschen sowohl wie der Einflüsse seiner Umgebung gewidmet haben, sondern an dem speciellen Begriff der Natur, den sie sich selbst zurecht gemacht, genug zu haben glauben. Was kann aber derjenige von der Natur wissen, der sie nicht gründlich studiert hat? Es ist himmelschreiend, welcher Mißbrauch mit dem Achtung gebietenden Wort „Natur“ von solchen getrieben wird, welche diese „Natur“ entweder gar nicht oder nur vom Hörensagen kennen. Die Naturheilkünstler hoffen alles von der Allmacht des kalten Wassers, weil sie dasselbe für ein Naturprodukt halten, sie denken aber nicht daran, daß die Arzneien, welche sie mit so grimmigem Haß verfolgen, ebenfalls entweder selbst Naturprodukte oder aus solchen hergestellt sind. Warum sollte also dasjenige, was uns die Natur selbst darbietet, nicht zu unserem Nutzen verwendet werden. Wenn sie sich aber darauf berufen, daß sie neben den kalten auch das warme oder heiße Wasser benutzen, so verdient eine solche Anwendung gewiß mehr den Namen einer künstlichen als einer natürlichen Einwirkung.

Daß wir überdem die Natur durch die Kunst zu verbessern, zu veredlen und unsern Zwecken besser dienstbar zu machen imstande sind, ist eine Sache so alltäglicher Erfahrung und Erkenntniß, daß jedes weitere Wort darüber als überflüssig erscheint. Haben ja doch wir Menschen selbst uns nach und nach im Laufe langer Zeiten und zahlloser Geschlechter aus rohen, schmutzigen Wilden langsam und mühselig zu der Stufe des civilisierten Menschen emporgearbeitet und sind auf diese Weise zu ganz anderen und anders gearteten Wesen geworden, als diejenigen waren, welche ursprünglich aus den Händen der Natur hervorgegangen sind! Daher haben wir auch unsere Lebensgewohnheiten und Lebensbedürfnisse ganz anders einzurichten als der rohe Naturmensch. Der Standpunkt, auf dem sich die Naturheilkunde theoretisch bewegt, könnte nur dann Berechtigung haben, wenn es der Forschung gelungen wäre, das ehemalige Dasein des „adamitischen“ Menschen nachzuweisen, d. h. eines Menschen, welcher als vollkommenes und vollkommen mit der Natur im Einklang besindliches Geschöpf in das Leben getreten und von diesem erhabenen Standpunkt später herabgestürzt worden wäre, um in verkünstelten oder unnatürlichen Zuständen weiter zu leben. In einem solchen Falle könnte [687] von einer Rückkehr zu dieser ursprünglichen Natur gesprochen und von einer solchen Rückkehr etwas Gutes erwartet werden. Nun hat aber die Forschung von allem diesem das gerade Gegentheil bewiesen. Wir sind nicht rückwärts, sondern vorwärts geschritten und müssen auf diesem Wege immer weiter schreiten, wenn wir nicht unserer eigentlichen Bestimmung auf Erden untreu werden wollen. Wenn daher die sogenannte „Naturheilkunde“ behauptet, daß sie den eigentlichen Fortschritt bedeute, während die wissenschaftliche Medizin konservativ und reaktionär sei, so liegt darin ebensoviel Falschheit wie ungerechtfertigte Ueberhebung. Ihre Anhänger berauben sich willkürlich und ohne jeden vernünftigen Grund einer großen Menge von erprobten Hilfsmitteln der medizinischen Kunst, während sie selbst mit der Dürftigkeit und Einförmigkeit ihres Heilapparats in den Augen des gebildeten Arztes ein therapeutisches Jammerbild darbietet. Von einer überlegten Auswahl unter den verschiedenen zu Gebote stehenden Heilmitteln ist da keine Rede; ebensowenig von dem sogenannten „Individualisieren“, d. h. von dem Bestreben, jeden einzelnen Fall nach seiner besonderen Beschaffenheit zu beurtheilen, worin ja eine Hauptkunst des tüchtigen Arztes besteht. Alles wird mehr oder weniger über einen Kamm geschoren.

Auch mit der Diagnose, der Erkennung des Sitzes und des Wesens der Krankheit, ohne welche eine richtige Krankenbehandlung gar nicht denkbar ist, wird es nicht genau genommen, da ja das Heilverfahren bei den verschiedensten Zuständen im wesentlichen stets das gleiche und einfache ist. Daß das kalte Wasser, welches die „Panacee“, das Allheilmittel der Naturärzte bildet, ein vorzügliches Heilmittel ist, war und ist den wissenschaftlichen Aerzten seit Menschengedenken bekannt. Sie wenden es überall an, wo es nach rationellen Grundsätzen angezeigt ist, aber nicht dort, wo es mehr Schaden als Nutzen stiften kann, oder nicht in irrationaler Weise. Der rationelle Arzt sucht die Natur nicht zu übermeistern oder zu zwingen, weil er weiß, daß sie sich nicht zwingen läßt, sondern er sucht sie einfach in ihren Heilbestrebungen zu stützen, zu lenken und zu leiten oder da, wo er dieses nicht vermag, dem Kranken sein Leiden möglichst zu erleichtern. Ein wirklicher Gegensatz zwischen Naturarzt und Berufsarzt, oder, um es ganz allgemein auszudrücken, zwischen Natur und Kunst in ärztlicher Beziehung besteht daher gar nicht. Jeder Berufsarzt ist zugleich Naturarzt, und jeder Naturarzt sollte zugleich wissenschaftlich gebildeter Berufsarzt sein. Wer einem wissenschaftlich nicht gebildeten Laien oder Pfuscher, wie es deren leider jetzt so viele giebt, das kostbare Gut seiner Gesundheit anvertraut, wird es in der Regel nur zu seinem eignen Schaden thun. Und wer mit nackten Füßen im nassen Grase oder in Schnee und Eis umherläuft, wird von Glück sagen können, wenn er ohne Erkältung oder sonstigen Schaden davonkommt. Die Natur hat die Thiere mit Pelz und Federn versehen, um sie gegen die Unbilden des Klimas und der Witterung zu schützen. Dem Menschen hat sie seinen Verstand gegeben, welcher ihn lehrt, Nützliches unb Schädliches zu unterscheiden und mit Hilfe der Kunst in Klimaten und unter Verhältnissen auszudauern, welche ihm sonst durch die Ungunst der Natur verschlossen bleiben müßten. Wer sich dem nicht fügen und lieber wie ein Wilder leben will, begebe sich nach jenen tropischen Gegenden, in denen einstmals die Wiege des Menschengeschlechtes gestanden haben mag, und lasse dort seinen natürlichen oder urgeschichtlichen Neigungen die Zügel schießen. Ob er sich dabei glücklicher oder wohler fühlen wird als im Schoße der Civilisation und künstlich geregelter Lebensumstände, mag er an sich selbst erfahren!