Offener Brief an Jean Jaurès

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Textdaten
Autor: Rosa Luxemburg
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Titel: Offener Brief an Jean Jaurès
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aus: Die Neue Zeit
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Entstehungsdatum: 1907
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Verlag: J.H.W.-Dietz-Verlag
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Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung: Heft 43, Commons
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[588]
Offener Brief an Jean Jaurès.
Von Rosa Luxemburg.

Werter Genosse!

Sie haben für gut befunden, im Berliner Organ des deutschen Freisinns Ihre Ansichten über die gegenwärtige politische Situation darzulegen und darin die Entente cordiale zwischen Frankreich, England und Rußland von dem Verdacht zu reinigen gesucht, als sei sie eine Kriegsgefahr. Im Gegenteil, Sie feiern diese Verständigung als einen Beweis, daß es keine unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten gebe, und als einen Ansatz zur Festigung des Friedens in Europa. Sie schreiben:

[589] „Eine Verständigung zwischen Frankreich, England und Rußland, eine ‚Triple-Entente‘ bedeutet an sich nicht eine Bedrohung des Friedens. Sie kann sogar friedliche Zwecke und friedliche Wirkungen haben. In jedem Falle beweist sie, daß viele als unvereinbar abgestempelte Gegensätze sich dennoch einen lassen. Zur Zeit von Faschoda schienen Frankreich und England am Vorabend eines Krieges zu stehen; jetzt haben sie die Entente cordiale geschlossen. Als ich noch ein Kind war, lernte ich in der Schule, daß England und Rußland vom Schicksal zur Gegnerschaft in Asien bestimmt seien. Jetzt haben wir die Zusammenkunft in Reval erlebt, die friedliche Abmachungen über die Verhältnisse in Asien ergab – vielleicht auch über die Verhältnisse in Europa.

„Weshalb solte sich der ausgesprochene Gegensatz zwischen Deutschland und England nicht ebenso ausgleichen lassen?

„Selbst eine neue Triple-Entente könnte zu einer solchen friedlichen Lösung helfen, wenn Frankreich seine Rolle richtig auffaßt, wenn es das Bewußtsein seiner Pflicht neben dem Bewußtsein seiner Macht besitzt.“

Nur einen Schatten finden Sie in diesen leuchtenden Perspektiven:

„Ein Unglück ist es freilich, daß Deutschland sich mit der Türkei zu solidarisieren scheint – nicht nur mit dem türkischen Reiche, auch mit den türkischen Mißbräuchen. Mir scheint, daß es der Türkei genügenden Schutz gegen gewaltsame Eingriffe geben könnte, ohne doch seine Unterstützung dem notwendigen Werke humaner Reformen zu weigern. Deutschland würde nur die Sache seiner Gegner fördern, wenn es ihnen die Möglichkeit zu der Behauptung gibt, daß es seinen Einfluß in der Türkei durch bedenkliche Gefälligkeiten zu erkaufen sucht. Natürlich hat die Türkei das größte Interesse daran, selbst die Reformen im Lande vorzunehmen; sie würde mit einem solchen Vorgehen den Staaten, die ihre Politik unter dem Mantel der Humanität verstecken, jeden Vorwand zur Einmischung in türkische Verhältnisse nehmen.

„Wenn Deutschland rechtzeitig in Konstantinopel die Stimme der Vernunft zu Gehör brächte, würde es den Freunden des Friedens die Aufgabe erleichtern, auch der Annäherung zwischen Frankreich, Rußland und England eine wahrhaft friedliche Bedeutung zu geben und so das Herannahen der Stunde zu beschleunigen, in der Triple-Alliance und Triple-Entente sich zu einer großen europäischen Verständigung einen könnten.

Ich darf fragen, daß an der Erreichung dieses Zieles die französischen Sozialisten nach Maßgabe ihrer Kräfte mit leidenschaftlichem Eifer arbeiten.

Es gibt manches in diesen Darlegungen, was mir mit der Auffassung der deutschen Sozialdemokratie von der auswärtigen Politik schwer vereinbar erscheint. Ich glaube zum Beispiel, daß die politischen Kombinationen, die von einem „Frankreich“, „Deutschland“, „Rußland“, „England“ und von den „Interessen“ dieser fraglichen Wesen handeln, der zünftigen Sprache der bürgerlichen Politiker wie ein Ei dem anderen gleichen. Ich glaube, daß die „Interessen“ der heutigen kapitalistischen Staaten auch in der auswärtigen Politik sehr verschieden, ja oft direkt entgegengesetzt sind, je nachdem man sie vom Standpunkt der harrschenden Klassen oder des Proletariats und seiner Klassenpolitik betrachtet, und daß es deshalb keineswegs im Interesse des [590] Sozialismus liegen kann, den Humbug der offiziellen bürgerlichen Politik, der von „Staatsinteressen“ und „Volksinteressen“ als einem homogenen Ganzen spricht, den Humbug der „Interessenharmonie“ aller Klassen auf dem Gebiet der auswärtigen Politik zu unterstützen.

Mit scheint ferner, daß wir – dank der wissenschaftlichen Basis unserer sozialistischen Weltanschauung – uns darüber klar sind, daß sowohl Krieg als Frieden in der modernen kapitalistischen Welt aus viel tieferen sozialen Ursachen entspringen, denn aus dem Willen und dem winzigen Intrigenspiel der „leitenden“ Staatsmänner, daß es, solange der Kapitalismus fortbesteht, zwischen den einzelnen Staaten tatsächlich unüberbrückbare Gegensätze gibt, die sich mit dem Fortschreiten der Welt- und Kolonialpolitik notwendig verschärfen und die kein Pflästerchen der „Allianzen“ beseitigen kann, ebenso daß alle „Allianzen“ und „Ententen“ der Militärstaaten selbst nur versteckte Mittel zu fortschreitenden Kriegsrüstungen und gegebenenfalls zur Verbreitung der Kriegsgefahr über ihren unmittelbaren Bereich hinaus darstellen. Mir scheint deshalb, daß es viel weniger Aufgabe der Sozialisten sein kann, die Illusionen des bürgerlichen Friedensapostel und ihre Hoffnungen auf Erhaltung des Friedens durch allerlei Kabinettstücke der Staatsdiplomatie zu nähren, als das lächerliche und klägliche Puppenspiel dieser Diplomatie in seiner Ohnmacht, Borniertheit und Verlogenheit auf Schritt und Tritt zu entlarven.

Doch das sind alles Sachen der Auffassung, und ich wage mir nicht zu schmeicheln, darüber mit Ihnen disputieren zu können.

Allein es gibt einen Punkt – und zwar ist es der Zentralpunkt Ihrer Darlegungen –, gegen den man, wie ich glaube, den schärfsten Protest einlegen muß.

Sie befürworten und verteidigen die jüngste Frucht der kapitalistischen diplomatischen Drahtzieherei: die anglo-russische „entente cordiale“, Sie preisen die Zusammenkunft König Eduards mit dem russischen Zaren in Reval und ihre segenbringenden Ergebnisse für – Asien. Es sei gestattet, Sie daran zu erinnern, daß es noch ein Land in Europa gibt, für dessen Schicksale die englisch-russische Verbrüderung nicht ohne Folgen bleibt, und das ist – Rußland.

Die Schicksale der russischen Revolution sind von Anfang an eng an die Geschehnisse der auswärtigen Politik gebunden. Es war ein unglücklicher Krieg, ein Zusammenbruch der auswärtigen Macht Rußlands, der das Präludium der Revolution im Innern Rußlands bildete. Nach den Niederlagen des Absolutismus bei Tsuschima und Mukden, wie nach seinen Niederlagen in Petersburg und Warschau, war das Prestige Rußlands in der internationalen Politik auf dem Tiefstand. Wären die europäischen Staaten und die bürgerlichen Klassen Deutschlands, Frankreichs, Englands Vertreter der bürgerlichen Freiheit und nicht das, was sie sind: brutale Verteter der gemeinsten Ausbeutungs- und Herrschaftsinteressen, so müßte Rußland, das offizielle absolutistische Rußland, nach jenen Niederlagen aus dem europäischen Konzert herausgeworfen, von der öffentlichen Meinung Europas mit Füßen getreten, von der europäischen Börse boykottiert werden. Das gerade Gegenteil ist naturgemäß eingetreten. Erschrocken durch die russische Revolution, eilte das Bürgertum Europas dem russischen Absolutismus zu Hilfe: mit Hilfe der deutschen und französischen Börse konnte der Zarismus den ersten siegreichen Ansturm der Revolution abwehren, und heute herrscht in Rußland die Konterrevolution, das heißt das Feldkriegsgericht und der Galgen.

[591] Nun sucht der Absolutismus den zeitweiligen Sieg über die Revolution zu einem definitiven zu machen, sich zu befestigen, und dazu versucht er vor allem das alte erprobte Mittel jeder erschütterten Despotie: die Erfolge der auswärtigen Politik.

In diesem Sinne wird in der russischen Reptilpresse seit geraumer Zeit eine wüste Kriegshetze gegen das Ausland angezettelt, aus dieser Tendenz ist der von der Stolypinschen Regierung veranstaltete panslawistische Rummel geboren, und diesen Zwecken dient der jüngste eklatante Erfolg der russischen Diplomatie, die „herzliche Verständigung“ mit England. Der „Herzensbund“ Englands mit Rußland sowie das Bündnis Frankreichs mit Rußland bedeuten die Befestigung der Heiligen Allianz der Bourgeoisie Westeuropas mit der russischen Konterrevolution, mit den Würgern und Henkern der russischen und polnischen Freiheitskämpfer. Sie bedeuten die Festigung und Unterstützung der blutigsten Reaktion nicht nur im Innern Rußlands, sondern auch in den internationalen Beziehungen. Der denkbar drastischste Beleg dazu ist die Tendenz der russisch-englischen Abmachungen in einer orgiastischen Niedermetzelung der persischen Aufständischen zur Wiederherstellung des Absolutismus auch in Persien Ausdruck findet.

Es ist klar, daß angesichts dessen die elementarste Pflicht der Sozialisten und Proletarier aller Länder darin besteht, mit aller Macht den Bündnissen mit dem konterrevolutionären Rußland entgegenzuarbeiten, das Prestige, den Einfluß, die internationale Position des heutigen Stolypinschen Rußlands nach Kräften zu untergraben, die reaktionäre, freiheitsmordende Tendenz dieser Bündnisse in Rußland wie im internationalen Leben unermüdlich und laut zu denunzieren.

Es ist klar, daß umgekehrt, die Unterstützung der Bündnisse mit dem heutigen Rußland durch die moralische Autorität der Sozialisten Westeuropas, der Bündnisse über die Leichen der Hingerichteten und Niedergemetzelten, über die eisernen Ketten der im Zuchthaus schmachtenden sozialdemokratischen Dumafraktion, über die Qualen der Zehntausende eingekerkerter Revolutionäre hinweg, daß diese Unterstützung ein Verrat an der Sache der Revolution ist.

Wie soll man also Ihre Befürwortung der franko-russischen und der anglo-russischen Herzensbündnisse verstehen, Genosse Jaurès?

Wie soll man sich erklären, daß Sie „mit leidenschaftlichem Eifer“ daran arbeiten, die Regierung des blutigen Henkers der russischen Revolution und des persischen Aufstandes zum einflußreichen Faktor der europäischen Politik, den russischen Galgen zum Pfeiler des internationalen Friedens zu machen – Sie, der Sie seinerzeit die glänzendsten Reden gegen die Anleihe an Rußland in der französischen Kammer gehalten, der Sie erst vor wenigen Wochen den erschütternden Appell an die öffentliche Meinung gegen die blutige Arbeit der Feldkriegsgerichte in Russisch-Polen in Ihrer „Humanité“ veröffentlicht haben? Wie soll man Ihre Friedenspläne, die auf dem franko-russischen und anglo-russischen Bündnis beruhen, mit dem jüngsten Protest der französischen sozialistischen Kammerfraktion wie der Administrativen Kommission des Nationalrats der sozialistischen Partei gegen die Reise Fallières nach Rußland in Einklang bringen, dem Protest, unter dem auch Ihre Unterschrift steht und der die Interessen der russischen Revolution mit ergreifenden Worten in Schutz nimmt? Kann der Präsident der französischen Republik sich nicht auf Ihre [592] eigenen Darlegungen über die internationale Lage berufen, und wird die Konsequenz nicht auf seiner Seite sein, wenn er Ihrem Protest gegenüber erklärt: Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen, wer das Bündnis mit dem zaritischen Rußland als eine Garantie des internationalen Friedens betrachtet, der muß auch alles akzeptieren, was dieses Bündnis befestigt und die Freundschaft pflegt.

Was würde Sie dazu sagen, wenn sich ehemals in Deutschland, in Rußland, in England Sozialisten und Revolutionäre gefunden hätten, die „im Interesse des Friedens“ eine Allianz mit der Regierung der Restauration oder mit der Regierung Cavaignacs oder mit der Regierung Thiers’ und Jules Favres befürwortet und mit ihrer moralischen Autorität gedeckt haben würden?

Nimmermehr kann ich glauben, daß Sie, wie Sie behaupten, in dieser Politik alle französischen Sozialisten hinter sich haben. Zum mindesten kann ich dies nicht von unserem alten Freunde Jules Guesde und ebensowenig von unserem Freunde Vaillant glauben, der eben erst in der französischen Kammer durch das Wutgeheul der ganzen bürgerlichen Meute hindurch mit Donnerstimme den Herzensverbündeten Englands und Frankreichs, den Zaren, mit dem Namen genannt hat, der ihm gebührt!