Onkel und Neffe
„Joseph, hast Du den Brief zur Post besorgen lassen, den ich gestern Abend geschrieben habe?“
„Ja, Herr Consul; er ist diesen Morgen neun Uhr abgegangen.“
„Um neun Uhr – wie spät ist es jetzt?“
„Elf Uhr, Herr Consul. Wann wollen Sie frühstücken?“
„Glücklicher Mensch, der Du an Essen und Trinken denken kannst! Ach, ich fühle mich heute wieder so krank, daß ich an andere Dinge denken muß. Wenn mir morgen nicht besser ist, werde ich mein Testament machen.“
„O, Herr Consul!“
„Da hilft kein Ach und O, mein lieber Joseph; wenn die Natur ihre Rechte fordert, kann sich Niemand weigern, zu zahlen. Geh, und hole mir eine Tasse heißen Kaffee.“
„Sehr wohl, Herr Consul!“
Joseph, ein langer hagerer Mensch mit einer großen Glatze und in dunkelblauer Livree, verließ das Zimmer wie ein Automat, der einem Mechanismus gehorcht. Der Consul. der noch im Bette lag, richtete sich empor, schob das Kopfkissen hinter den Rücken, um bequem sitzen zu können, und wartete. Trotzdem er, wie er so eben gesagt, sich krank fühlte, so schien er sich doch der besten Gesundheit zu erfreuen; er hatte ein volles, rothes Gesicht, das Joseph Abends zuvor glatt rasirt hatte, und ein starkes, schwarzes Haar, das unter der weißseidenen Nachtmütze wie ein Kranz hervorsah. Seine breite Brust und die starken Arme bekleidete eine Jacke von fleischfarbener Seide. Das Schlafzimmer des Consuls war mit Eleganz und Luxus ausgestattet, und das Bett mit den schweren Vorhängen, die durch eine starke Schnur zurückgehalten wurden, war ein Meisterstück. Dicht neben dem Bette stand ein Tisch mit Cigarren und Feuerzeug. Die Rouleaux an den Fenstern waren herabgelassen; von der Decke herab hing eine Ampel, in der unter blauem Glase die Nachtlampe noch brannte. Während draußen die heitere Herbstsonne Glanz und Licht verbreitete, herrschte in dem Zimmer eine matte Dämmerung.
Joseph kam mit dem Kaffee zurück.
„Herr Consul.“ sagte er.
„Was gibt’s?“
„Der junge Herr, der gestern schon einmal hier war, fragt schon wieder nach Ihnen.“
„Man weise ihn ab.“
„Ich habe ihm gesagt, daß Sie krank wären; er besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen.“
„Hat er seinen Namen genannt?“ fragte der Kranke, ruhig den Kaffee trinkend.
„Alexander von Windheim.“
„Ein Edelmann!“
„Ja, Herr Consul!“ antwortete bestätigend der treue Diener.
„Joseph, einen Edelmann dürfen wir wohl nicht abweisen?“ fragte der Kranke, indem er die leere Tasse zurückgab.
„Wollen Sie aufstehen, Herr Consul?“
„Nein, ich werde den Besuch im Bette empfangen. Wenn der Edelmann sieht, daß ich krank bin, hält er sich nicht lange auf. Laß ihn eintreten.“
Zwei Minuten später führte der lange Joseph einen jungen Mann ein, dessen ganze Erscheinung den Edelmann verrieth. Er trug ein elegantes Reitcostüm und in der Hand eine Elfenbeinpeitsche. In seinem bleichen Gesicht prägte sich ein Ernst aus, der zu seinem Alter – er schien fünf bis sechsundzwanzig Jahre zu zählen – nicht paßte. Seine Toilette war elegant und nach dem neuesten Geschmacke; es war nicht zu verkennen, daß er große Sorgfalt darauf verwendete. Der Schnurrbart war zierlich gedreht, und das braune Haupthaar bildete ein gelungenes Toupet.
Der Consul saß aufgerichtet im Bette; sein volles Gesicht drückte Niedergeschlagenheit und Leiden aus.
„Verzeihung,“ murmelte er, „daß ich Sie in dieser Situation empfange; aber die traurige Verfassung meines Körpers macht es mir zur Pflicht, mich vor den Einflüssen der kalten Witterung zu wahren. Herr Alexander von Windheim ist mir willkommen. Ich bitte, nehmen Sie Platz und theilen Sie mir kurz und bündig den Grund Ihres Besuches mit.“
Joseph setzte einen Sessel neben das Bett und entfernte sich. Alexander von Windheim nahm Platz.
„Herr Consul,“ begann er, „zehn Minuten von hier, dort am Eingange des Waldes, liegt ein Gehöft –“
„Es ist das Forsthaus, das zu meiner Besitzung gehört.“
„Ein Forsthaus ohne Förster, unbewohnt, öde, dem Verfalle nahe!“ rief Alexander.
„Was geht Sie das an?“ murmelte der Consul, einen forschenden Blick auf den Besuch werfend.
„Das Forsthaus gefällt mir.“
„Mir nicht!“
„Ah, das trifft sich vortrefflich!“
„Warum?“
„Ich komme, Sie zu fragen, ob Sie das Haus, das Ihnen nicht gefällt, verkaufen wollen?“
[542] „Und wer ist der Käufer?“
„Sie sehen ihn vor sich!“ antwortete der Edelmann, sich verneigend.
Der Consul murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin. Dann schob er seine Schlafmütze ein wenig zurück, daß das kurze schwarze Haar sich empor sträubte, und sagte:
„Zu welchem Zwecke wollen Sie das Forsthaus kaufen?“
„Um allein zu wohnen, mein Herr! Um Sommer und Winter, so lange ich lebe, darin zu wohnen. Das verfallene Gebäude mit den knarrenden Fensterladen, der verwilderte Garten, der traurige Tannenwald, der es umgibt, die Entfernung von dem Verkehre der großen Welt – Alles reizt mich, mein Leben in dieser Gegend zu beschließen. Fordern Sie einen Preis, Herr Consul, ich zahle ihn – auf der Stelle!“
Der Kranke sah den seltsamen Käufer verwundert an. Er schien Mißtrauen in die redlichen Absichten desselben zu setzen, auch wohl zu glauben, daß man ein Spiel mit ihm triebe. Aber das bleiche Gesicht des Herrn von Windheim war so ernst, sein großes dunkles Auge so treuherzig, daß jeder Argwohn schwinden mußte.
„Lieber Herr,“ murmelte der Consul, „die Sache erfordert Ueberlegung.“
„Wozu überlegen, wenn ich jeden Preis zahle? Bei Abschlüssen von Käufen handelt es sich in der Hauptsache um den Preis – fordern Sie, fordern Sie! Was ist Ihnen das Grundstück werth?“
Der Consul dachte einen Augenblick nach. Plötzlich fragte er: „Haben Sie sich das Forsthaus angesehen?“
„Nur von außen; aber das genügt.“
„Ist Ihnen dabei Nichts aufgefallen?“
„Nichts weiter, mein Herr, als daß es leer steht, daß sich kein Bewohner dazu findet.“
„Hören Sie mich an, Herr von Windheim,“ sagte ernst der Consul. „Als ich vor zehn Jahren das Landhaus kaufte, in dem wir uns befinden, wollte ich mir einen hübschen Sommersitz erwerben, und ließ es prachtvoll einrichten.“
„Aber wir sprechen ja von dem Forsthause?“
„Warten Sie nur, ich komme gleich dahin. Damals dachte ich nicht daran, daß ich je in den Fall kommen könnte, mich von der Welt zurückzuziehen. Ich kaufte also dieses Landhaus und den zwei Quadratmeilen haltenden Forst sammt zwei großen Teichen, um der Gesellschaft, die ich empfangen wollte, auch die Freuden der Land- und Wasserjagd bieten zu können. Der Graf von Zehrfeld, der vorige Besitzer, war gestorben, und seine Erben veräußerten die Besitzungen, um sich zu theilen. In dem fraglichen Hause nun wohnte der alte Förster Sibold, der eigentlich Trunkenbold heißen sollte, denn er war von Morgens früh bis Abends spät seiner Sinne nicht mächtig. Und dabei hatte er nicht weniger als sieben Söhne, rohe, ungeschlachte Burschen, die sammt und sonders bei dem Vater lebten. Ich überließ dem alten Sibold die Verwaltung meines Forstes, bis ich vor zwei Jahren hier meinen Wohnsitz für immer wählte, um mit der Welt, die ich aus tiefster Seele hasse, nicht mehr in Berührung zu kommen. Meine Gesundheit war schwach, mein Kopf angegriffen, so daß ich eine Gehirnerweichung fürchtete. Ich wollte Ruhe, Grabesstille um mich her haben, und floh in diese Einsamkeit. Aber wie hatte ich mich getäuscht! Die Försterfamilie machte einen Höllenlärm. Der Arzt hatte mir Bewegung in freier Luft anbefohlen, viel Bewegung, mein lieber Herr; ging ich nun aus, so begegnete mir einer dieser wüsten Gesellen – ich ärgerte mich; blieb ich zu Hause, so hörte ich das Knallen ihrer Flinten, vor denen kein Hase und kein Vogel sicher war. Selbst Nachts trieben sie ihr Unwesen, wie das wilde Heer – kurz, mein Herr, ich konnte diese Wirthschaft nicht länger ertragen und ließ dem Förster durch das Gericht ankündigen, daß er mein Haus räumen möge. Darob gerieth der Alte dermaßen in Wuth, daß er sich im Garten hinter dem Hause erschoß. Jedem der Söhne gab ich zweihundert Thaler – sie sind nach Amerika ausgewandert. Sie sehen, wieviel Anstrengungen es gekostet hat, das Forsthaus in den Stand der Ruhe zu bringen, in dem es sich jetzt befindet.“
„Diese Ruhe ist es ja eben, die mir das Haus so werth macht!“ rief der Edelmann. „Das Leben in der Gesellschaft ekelt mich an; ich will allein, ganz allein sein, wie Sie! Es soll selbst nicht einmal ein Mensch wissen, daß ich in dem alten Hause wohne.“
„Sind Sie verheirathet?“ fragte der Consul mit einem vielsagenden Seitenblicke.
„Verheirathet? Gott soll mich davor bewahren!“ rief Alexander von Windheim erregt. „Nach den Erfahrungen, die ich mit den Frauen gemacht, bleibe ich Junggeselle, so lange mir die Augen offen stehen. Ich will keinen Mann, aber noch viel weniger eine Frau sehen, und wäre sie schön wie Venus und keusch wie die heilige Jungfrau. Ich verheirathet! Herr Consul, in Ihrer Frage liegt eine gräßliche Ironie! Müßte ich zwischen einer Heirath und dem Giftbecher wählen, ich würde heute noch zur Leiche werden.“
„Brav, brav!“ rief der Consul, indem er sich höher emporrichtete. „Das höre ich gern. Wie es scheint, treibt Sie die Liebe, sich in Einsamkeit zu vergraben?“
„Nein, der Haß, mein Herr!“ rief Alexander mit großer Bitterkeit. „Ich hasse und verachte mich selbst, weil ich so dumm gewesen bin, einem Weibe zu trauen.“
„Ja, ja, die Weiber!“ rief seufzend der Consul.
„Hat sich dieses fürchterliche Geschlecht auch an Ihnen versündigt?“
Der Consul bewegte schmerzlich den Kopf, als ob er sagen wollte: ich weiß ein trauriges Lied davon zu singen.
„Mein lieber Herr,“ murmelte er dann, „ich bin Philosoph geworden; ich hasse zwar die Frauen nicht, denn sie sind in der Welt eben so nöthig, wie wir Männer – aber ich bemitleide diese schwachen Geschöpfe. Lassen wir das!“ unterbrach er sich plötzlich.
„Schwache Geschöpfe, sagen Sie? Dann muß mir das besondere Unglück geworden sein, mit lauter bösartigen zu thun gehabt zu haben.“
„Der Ausdruck ist zu stark, Herr von Windheim!“ rief der Consul.
Herr von Windheim schien in Feuer zu gerathen.
„Zu stark!“ rief er. „Urtheilen Sie selbst! Ich kann mir wohl schmeicheln, eine Figur in der Welt zu spielen, denn mein Aeußeres ist gerade nicht unangenehm und mein Vermögen beträchtlich genug, um ein glänzendes Haus zu machen. Ich bin der einzige Sohn meines Vaters, des Generals von Windheim. Sie sehen in mir den Letzten dieser erlauchten Familie. Nachdem ich von allen Frauen verrathen war, denen ich mich genähert, hatte ich endlich das Glück eine zu finden, die ich liebte und die mich wieder liebte – wenigstens schien es so. Aber das Unglück wollte, daß sie einen Vater hatte.“
„O Himmel, sie hatte einen Vater!“ rief der Kranke. „Armer Herr von Windheim, ich bedauere Sie!“
„Bedauern? Das ist zu wenig – bejammern Sie mich, Herr Consul! Dieser Vater hatte meine Geliebte einem Andern versprochen.“
„Wie gewöhnlich! Das ist eine alte Geschichte!“ rief der Consul, der nun auch lebhaft wurde.
„Das ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu!“
„Und wem sie just passiret, dem bricht sie das Herz entzwei!“ fuhr der Kranke murmelnd fort, indem er seine seidene Schlafmütze abnahm und sich damit eine Thräne aus dem Auge trocknete. „Wenn Heinrich Heine Nichts weiter geschrieben hätte, dieser einzige Gedanke würde ihn unsterblich machen!“
„Ganz recht; aber hören Sie weiter. Das Versprechen des grausamen Vaters schreckte mich indeß nicht ab. Ich bat meine Geliebte um ein Rendez-vous und erhielt es. Ich sprang über einen Bach, stieg über eine Mauer und kam in eine Geißblattlaube, wo ich die Geliebte meiner harrend antraf. In dem Schweigen der Nacht, bei dem bleichen Schimmer der Sterne, unter dem göttlichen Gesange einer Nachtigall, die über uns auf einer mächtigen Buche saß, schworen wir uns ewige Liebe. Wir wollten dem tyrannischen Vater Muth, Ausdauer und, wenn es sein müßte, auch Gewalt entgegensetzen. Noch drei Mal hatte ich die unbeschreibliche Wonne, die Gebieterin meines Herzens heimlich zu sprechen, dann rief mich ein Brief nach Florenz, wo mein Vater, auf einer Reise in Italien begriffen, um seine Gesundheit herzustellen, plötzlich schwer erkrankt war. Ich kam an. Mein Vater lag im Bette. „Bleibe bei mir, mein Sohn, bis ich genesen oder gestorben bin!“ rief er aus. Ich mußte bleiben; aber auch die Krankheit blieb, wie sie war – es trat keine Veränderung ein. Ach, mein Herr, ich lebte ein fürchterliches Leben. Wohl fünfzig Mal schrieb [543] ich an die Herrscherin meiner Gedanken; auf keinen meiner glühenden Briefe erfolgte eine Antwort. Nach fünf Monaten begrub ich meinen Vater unter einer prachtvollen Thränenweide auf dem Friedhofe von Florenz. Der Schmerz um den Verstorbenen und die Sehnsucht nach der Geliebten nagten mit gleicher Bitterkeit an meinem Herzen. Auf den Flügeln der Liebe eile ich in meine Heimath zurück. Da erfahre ich, daß der Vater meiner Geliebten gestorben sei, daß sie selbst seit einiger Zeit die Besuche eines jungen Mannes angenommen und eines schönen Tages mit ihm die Stadt verlassen habe. So viel ich auch forschte – nirgends war eine Spur zu finden. Da stand ich nun allein, ganz allein in der Welt. Mein Vater war todt, und die, in deren Liebe ich Trost über den herben Verlust zu finden hoffte, war mit einem jungen Manne verschwunden, obgleich sie mir ewige Liebe geschworen hatte!“
„Das ist hart!“ murmelte der Consul. „Ja, das ist mehr als hart!“
„Ich verwünschte die Frauen, die Väter, die jungen Männer, die ganze Welt – Alles ekelte mich an, war mir lästig, verhaßt. Ich floh in diese Berge, um mir ein einsames Haus in einem einsamen Thale zu suchen. Da erblickte ich das öde Forsthaus – man nannte mir den Besitzer und ich säumte nicht, mich Ihnen vorzustellen. Mein Herr, verkaufen sie mir das Haus – Sie werden sich über mich nicht zu beklagen haben, ich lebe still wie ein Anachoret und werde mich nur damit beschäftigen, meine Erlebnisse zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzuzeichnen.“
„Herr von Windheim,“ sagte der Consul, indem er ihm gerührt die Hand reichte, „ich beklage Sie um so inniger, da ich mehr als jeder Andere Ihre Gemüthsverfassung beurtheilen kann. Nehmen Sie das Forsthaus und arbeiten Sie darin Ihre Memoiren.“
„Nennen Sie den Preis, Herr Consul!“
„Wir sprechen darüber später. Sind wir nicht Männer von gleichen Lebensanschauungen, von gleicher Gemüthsverfassung?“
„Ohne Zweifel!“
„Darum werden wir eine Beruhigung finden, wenn wir uns von Zeit zu Zeit sehen.“
Der Edelmann erhob sich.
„Halt!“ rief der Kranke. „Gehen Sie in das angrenzende Zimmer. Ich stehe auf; wir frühstücken zusammen, dann führe ich selbst Sie nach dem Forsthause.“
„Sie wollen mich führen?“ fragte der erstaunte Alexander.
„Eine Bewegung in freier Luft ist mir nützlich. Bleiben Sie, mein Herr, wir müssen heute noch eine nähere Bekanntschaft anknüpfen!“
Er ergriff die Glocke, die aus dem Tische stand, und klingelte lebhaft. Joseph erschien.
„Führe den Herrn in das Wohnzimmer! Bestelle in der Küche ein gutes Frühstück! Dann komm zurück und kleide mich an! Fort!“ Den langen Diener wunderte die Aufregung seines Herrn nicht; ruhig und gemessen öffnete er die Thür des Nebengemachs und ließ den Gast eintreten. Nachdem er in der Küche das Frühstück bestellt, half er seinen Herrn ankleiden. Eine Viertelstunde später saßen der Consul und Herr von Windheim beim Frühstück, und wiederum eine Viertelstunde später traten sie den Weg nach dem Forsthause an.
Eine kalte Herbstnacht lag über Bremen. Es war drei Uhr Morgens vorüber, als ein Briefträger rasch durch die stillen Straßen der freien Stadt ging, vor einem eleganten Hause am Walle stehen blieb und heftig die Klingel zog. Es dauerte lange, ehe eine Magd die Thür öffnete. Der Postmann fragte nach dem Particulier Wilhelm Dewald.
„Herr Dewald wohnt im ersten Stocke!“ war die Antwort.
„Ich muß ihn sprechen.“
„Gleich?“
„Auf der Stelle!“
Dir Magd führte den Briefträger die Treppe hinan und bezeichnete ihm die Wohnung des Gesuchten.
„Ist denn das so eilig?“ fragte die in ihrem Morgenschlummer Gestörte.
„Sehr eilig; lassen Sie die Hausthür offen, ich werde sogleich zurückkehren!“
Er zog die Glocke. Eine zweite Magd öffnete im nächsten Augenblicke; sie war noch völlig angekleidet und trug eine Kerze in der Hand.
„Ich suche Herrn Dewald!“
„Und ich erwarte ihn, er ist mit Madame auf einem Balle.“
In diesem Augenblicke ließen sich Schritte und fröhliche Stimmen auf der Treppe vernehmen.
„Da kommt meine Herrschaft!“ rief die Magd, indem sie mit dem Lichte an die oberste Stufe der Treppe trat.
Ein Herr und zwei Damen, tief in Mäntel gehüllt, erschienen. Sie waren erstaunt, den Briefträger um diese Zeit zu sehen.
„Herr Wilhelm Dewald?“
„Ich bin es.“
„Hier ist ein recommandirter, expresser Brief. Ich bitte, quittiren Sie!“
Die Ballgäste sahen sich verwundert an. Wilhelm Dewald ging rasch in sein Zimmer, quittirte den Empfang in einem Buche und sandte das Buch mit einem Trinkgelde für den Bringer zurück. Die Thür schloß sich, der Postbote verließ das Haus und die Ruhe der Nacht trat wieder ein. Der Particulier, ein junger Elegant von sechs bis siebenundzwanzig Jahren, warf rasch seinen Mantel ab, trat zu der Kerze, sah erschreckt das schwarze Siegel, riß das Couvert auf und begann begierig zu lesen. Das in seiner Hand zitternde Blatt enthielt folgende Zeilen:
„Mein lieber Neffe!
Ich fühle, daß mein letztes Stündlein naht. Gegenwärtigen Brief schreibe ich auf meinem Schmerzenslager. Du bist mir stets ein guter Neffe gewesen, darum darf ich hoffen, daß Du meinem letzten Befehle treulich nachkommst. Ich befehle Dir nämlich, Louise Bronner, für die Du stets eine innige Neigung gehegt, auf der Stelle zu heirathen, damit Du sie mir als Deine Gattin vorstellen kannst, ehe ich diese Welt für immer verlasse.
Louise ist ein schönes, gesittetes Mädchen, und ihr Vater, mein alter Geschäftsfreund, hat mir wichtige Dienste geleistet, ich kann wohl sagen, daß ich ihm die Grundlage zu meinem Vermögen verdanke. Der arme Mann hat viel Unglück gehabt, und als er vor drei Jahren starb, versprach ich ihm auf dem Todtenbette, für die Zukunft seiner einzigen Tochter zu sorgen. Freund Bronner hat sein Versprechen mit sich in das Grab genommen und ich muß es halten. In spätestens acht Tagen erwarte ich Dich mit Deiner Frau. Die gewöhnlichen Formalitäten einer Verheirathung kannst Du durch Geld beseitigen, darum beseitige sie, ich zahle alle Kosten. Jedenfalls gib mir sofort Nachricht von Deinem Entschlusse. Schließlich benachrichtige ich Dich, daß ich das Gericht bestellt habe, und daß die Fassung meines Testamentes von Deinem Entschlusse abhängt. Es erwartet Dich mit Sehnsucht
Leberecht Dewald, Consul.
Post scriptum:
„Sollte ich zufällig vor Deiner Ankunft schon gestorben sein, so beunruhige Dich nicht, ich habe an Alles gedacht, Alles vorgesehen. Du wirst mit mir zufrieden sein.“
Verwunderungsvoll lächelnd betrachtete der junge Mann noch das Blatt, als die beiden Damen in das Zimmer traten. Sie befanden sich in Balltoilette; die Ungeduld trieb sie, zu erfahren, was für Nachrichten der expresse Brief gebracht habe.
„Ein schwarzes Siegel!“ rief die Brünette, indem sie das Couvert ergriff.
„Wer ist gestorben?“ fragte die Blondine, ein reizendes junges Mädchen von zwanzig Jahren.
„Niemand!“ antwortete Wilhelm lächelnd. „Lies den Brief laut vor, liebe Albertine, damit Fräulein Louise den Inhalt, der auf sie Bezug hat, kennen lernt.“
Die junge Frau – Albertine war Dewald’s Gattin – las den Brief. Dann sah sie die Freundin an, die tief erröthete.
„Das ist ein origineller Onkel!“ rief Albertine.
„Ohne Widerrede!“ fügte Dewald hinzu. „Meine liebe Frau, wir befinden uns in einer sehr verhängnißvollen Lage. Der alte Onkel ist ein guter Mensch, aber er hat einen eigensinnigen, verschrobenen Kopf. Man muß ihn eigenthümlich behandeln.“
„Was ist zu thun?“ fragte die junge Frau.
„Ja, was ist zu thun?“ fragte auch Louise.
[544] Dewald ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und fragte:
„Sind die Damen müde?“
„Der Brief hat mir den Schlaf verscheucht!“ antwortete Albertine.
„Und ich würde nicht schlafen können, auch wenn ich zu Bett ginge!“ sagte Louise.
„In diesem Falle schlage ich vor, daß wir auf der Stelle einen Rath abhalten. Nehmen Sie Platz und hören Sie mir zu, ich werde als Jurist alle Verhältnisse zusammenfassen, damit wir einen Schluß ziehen können.“
Die Damen setzten sich in den Sopha, und Wilhelm, dessen Humor durchaus nicht beeinträchtigt war, ließ sich vor ihnen auf einem Stuhle nieder.
„Fräulein Louise,“ begann er, „ist meiner Albertine eine so vertraute Freundin und dabei Interesentin bei vorliegender wichtiger Angelegenheit, daß ich offen mit der Sprache herausgehen kann. Mein verstorbener Vater, der Bruder des bizarren Consuls, hat mir ein kleines Vermögen hinterlassen, das bis auf einige Hundert Thaler aufgezehrt ist. Ich bekenne offen, daß ich bei meiner Verheirathung auf den kinderlosen Onkel gerechnet habe. Jetzt droht er mit Enterbung, wenn ich Louisen, die Tochter seines Geschäftsfreundes, nicht heirathe. So wie ich ihn kenne, hält er sein Wort. Seit drei Jahren lebt er auf seiner Villa, die er Solitüde nennt; er hat sich nicht um mich, ich habe mich nicht um ihn gekümmert, und so ist es gekommen, daß er von meiner vor sechs Wochen geschlossenen Heirath nichts weiß.“
„Hast Du denn das Heirathsproject Deines Onkels gekannt?“ fragte Albertine.
„Nein; er hat zwar oft mit großer Verehrung von seinem Freunde Bronner, aber nie von einer Verheirathung seiner liebenswürdigen Tochter gesprochen.“
„Ich begreife Ihren Onkel nicht,“ sagte Louise; „seit drei Jahren hat er sich nicht um mich gekümmert, und nun will er mich plötzlich verheirathen. Er muß doch wohl recht krank sein, da er sich so entschieden ausdrückt und große Eile empfiehlt.“
„Gewiß, gewiß!“ murmelte Dewald. „Er beschließt sein bizarres Leben mit einer großen Bizarrerie. Hätte er mich unter der Bedingung zu seinem Universalerben eingesetzt, daß ich Fräulein Bronner einen gewissen Theil des Vermögens abtrete, so würde ich Alles erklärlich gefunden haben – –“
Die blonde Louise ergriff die Hand der jungen Frau.
„Meine liebe Freundin,“ flüsterte sie bewegt, „Du hast Dich meiner, der armen Waise, so großmüthig angenommen, und nun muß ich, ohne es zu wollen, Deinem Glücke entgegentreten!“
„Messe ich Dir die Schuld bei, Louise?“
„Herr Dewald, was kann ich thun, um Ihnen nützlich zu sein?“ fragte Louise treuherzig.
Eine Pause trat ein.
„Mein Herr Onkel ist ein ausgemachter Narr,“ rief Dewald, „und als solchen müssen wir ihn behandeln! Ich glaube nicht daran, daß er schwer krank liegt. Fräulein Louise, mir ist ein kühner, aber ein praktischer Gedanke gekommen – wollen Sie mir in der Ausführung desselben behülflich sein?“
„Zählen Sie auf mich!“ rief eifrig die junge Dame.
„Niemand kennt den seltsamen Onkel besser, als ich, und darum weiß ich ihn zu nehmen. Wir müssen ihm einen kleinen Betrug spielen. Wie er auch ausfallen möge – mehr als eine Enterbung kann uns nicht treffen. Uebrigens geht meine Absicht nur dahin, Zeit zu gewinnen, daß der Consul meine Albertine kennen und lieben lernt.“
„Und wenn ihn der Tod daran hindert?“ fragte die junge Frau.
„Ich glaube weder an seine Krankheit noch an seinen Tod.“
„Aber wenn ich ihm mißfalle?“
„Das ist unmöglich!“ rief Louise.
„Aber nehmen wir den Fall an!“
„Dann werde auch ich ihm mißfallen!“ rief Louise entschlossen. „Herr Dewald, theilen Sie uns Ihren Plan mit.“
„Er ist einfach der, daß ich auf der Stelle schreibe: mein bester Onkel, ich bin glücklich, Ihrem Befehle zuvorgekommen zu sein – Louise Bronner ist bereits seit acht Tagen meine Frau.“
„O Himmel!“ riefen die beiden Damen.
„Morgen bereiten wir uns vor und übermorgen treten wir die Reise nach der Solitüde an.“
„Abgemacht!“ rief Louise. „Ich werde so lange Madame Dewald sein, als es nöthig ist.“
„Und welche Stelle hast Du Deiner Frau zugedacht?“ fragte Albertine.
„Du bist Albertine, die unzertrennliche Freundin meiner Frau.“
„Ich werde meine Rolle nach besten Kräften spielen!“ rief die heitere Louise. „Es sollen nicht vierundzwanzig Stunden verfließen, und der Onkel wird ein gründliches Mißfallen an Madame Dewald finden – nämlich an der falschen Madame Dewald!“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich werde alle Untugenden zur Schau tragen, die eine Frau unleidlich machen: Koketterie, Uebermuth, Stolz und Tollheit! Und Du, meine liebe Albertine, gibst Dich, wie Du bist, mehr bedarf es ja nicht, um einen Sieg zu erringen. Ist der Onkel nun zornig auf mich, dann können wir vielleicht ein Geständniß wagen, und wir sind am Ziele!“
„Wie gut bist Du, Louise!“
„Ich erfülle nur meine Pflicht. Mein Herr Gemahl,“ wandte sie sich zu Dewald, „Sie werden zuvorkommend, zärtlich und aufmerksam gegen Ihre Frau sein, ohne zu vergessen, daß Sie nur den Titel meines Gatten führen. Seien Sie galant, damit man keinen Verdacht schöpft. Und Du, Albertine, verbanne die Eifersucht, wenn Du die Zärtlichkeiten meines Mannes siehst! Du weißt ja, daß mein Herz nicht mehr frei ist.“
Die beiden Frauen zogen sich in ihr Schlafzimmer zurück. Wilhelm Dewald schrieb dem Onkel einen Brief, den er am nächsten Morgen früh zur Post sandte.
[557]
Die Solitüde, wie der Consul sein Landhaus nannte, lag in einer einsamen Gegend Westphalens. Von dort bis zur nächsten Eisenbahn hatte man einen Weg von fünf Meilen zurückzulegen, und bis zu den nächsten Dörfern wenigstens eine Stunde. Ein düsterer Tannenwald schloß die Besitzung ein, die mit Recht den Namen Solitüde verdiente, denn sie lag so still und einsam, daß der Bewohner sich rühmen konnte, allein zu sein, wenn er den langen Joseph nicht als einen Menschen, sondern als eine Maschine betrachtete. Frau Katharina, die Haushälterin, diente dem Consul schon seit fünfzehn Jahren; sie hatte mit ihrem Manne, von dem sie geschieden war, traurige Erfahrungen gemacht, und war, mit einer Art Männerhaß im Herzen, ihrem Herrn von Bremen aus gern in die Einsamkeit gefolgt. Joseph, der Kammerdiener, hatte das Glück der Ehe nie gekostet; er war in dem Waisenhause erzogen, und der Vater des Consuls, ein ehrbarer Cigarrenhändler, hatte den vierzehnjährigen Knaben nach der Confirmation zu sich genommen, um ein gottgefälliges Werk zu verrichten, und sich einen guten Laufburschen zu erziehen. Der arme Laufbursche bekam viel Rippenstöße, aber wenig zu essen. Die den Waisenknaben eigene Schüchternheit bildete sich durch die harte Behandlung zur Menschenscheu aus, und Joseph ward nach und nach die Maschine, die pünktlich auf den Befehl gehorcht, ohne sich eine Betrachtung zu erlauben. Dem Consul war so eine Maschine recht, und er behielt sie nach dem Tode des Vaters zur fernern Benutzung bei. Der Bediente war eben so alt, wie sein Herr, und hatte sich, man kann es wohl sagen, in die närrischen Gewohnheiten desselben eingelebt. Der gute Bursche war wohl der einzige in der Welt, der den Consul für wirklich krank hielt. Frau Katharina, welche die Küche besorgte, erlaubte sich einige Zweifel, denn der enorme Appetit des Hausherrn ließ auf eine vortreffliche Gesundheit schließen. Der Zufall hatte hier drei Menschen zusammengeführt, die vollständig zu einander paßten, und vielleicht ist hierin die Ursache mit zu suchen, daß sich die bizarren Charaktere so ungestört ausbildeten.
Woher kam es aber, daß der Consul bei allen seinen Eigenheiten für Louise Bronner ein so lebhaftes Interesse hegte? Sollte die Verpflichtung, deren er in dem Briefe an den Neffen erwähnte, allein der Grund sein? Der Verfasser kennt ein Geheimniß aus dem Leben des braven Mannes, das er den Lesern der Gartenlaube indiscret mittheilt, um seiner Erzählung innern Zusammenhang zu geben.
Herr Dewald war Kaufmann; er hatte von seinem Vater, dem Cigarrenhändler, ein hübsches Vermögen geerbt, mit dem er ein Handelshaus einrichtete. Leberecht Dewald hatte einen Bruder, den er veranlaßte, den größten Theil seines väterlichen Erbes mit in das Geschäft zu geben. Beide Brüder waren fromm und gottesfürchtig, sie gingen jeden Sonntag in die Domkirche, um für das Gedeihen ihres Handelshauses inbrünstige Gebete zum Himmel zu senden. Leberecht, der Firmaträger, hatte trotzdem kein Gluck, alle seine Spekulationen schlugen fehl, und er schloß einen Accord mit seinen Gläubigern. Auch der eigene Bruder ward mit einer geringen Summe abgespeist. Um diese Zeit bemächtigte sich die Liebe des frommen Jünglings von achtundzwanzig Jahren; er sah Meta Möller, die sittige Tochter eines Schiffsmaklers, von der man sagte, daß sie ein Vermögen von hunderttausend Thalern habe. Leberecht besuchte die Erbauungsstunden, die der überaus fromme Makler an drei Abenden der Woche in seinem Hause hielt, sang und betete brünstiger und lauter, als alle andern Glieder der Versammlung, und nistete sich in der Gunst des Vaters ein, während die schöne Meta nichts von ihm wissen wollte. Leberecht ward schwermüthig, und weinte oft heiße Thränen, natürlich nur in Gegenwart des Vaters. Zugleich aber brachte er in Erfahrung, daß Meta im Geheimen einen weltlich gesinnten jungen Kaufmann liebte, der bei einem Banquier arbeitete. Dieser Commis hieß Bronner. Leberecht verfehlte nicht, die saubere Entdeckung dem frommen Schiffsmakler mitzutheilen. Es fand eine heftige Scene zwischen Vater und Tochter statt. Die Tochter blieb fest in ihrer Liebe, und der Vater ward vor frommer Entrüstung krank. Leberecht wachte Tag und Nacht an dem Krankenbette, betete mit dem Makler, und machte auch mit ihm das Testament. Dieses Testament ward mit der ausdrücklichen Bestimmung bei dem Gerichte deponirt, daß es an dem Hochzeitstage Meta’s eröffnet werden sollte.
Der kranke Schiffsmakler starb, und ward mit großem Pompe begraben. Ein Jahr später heirathete Meta ihren Bronner. Der junge Gatte trug auf Eröffnung des Testamentes an. Der Erblasser bestimmte darin, daß Meta seine Universalerbin sein solle, wenn sie Leberecht Dewald ihre Hand gereicht habe, daß sie aber nur eine Ausstattung von fünftausend Thalern erhalten würde, wenn sie mit einem Andern zum Altare getreten sei. Bronner begann einen Proceß gegen den Universalerben, den er der Erbschleicherei bezichtigte; Dewald aber gewann diesen Proceß, weil er nachwies, daß Meta ein angenommenes Kind des Schiffsmaklers Möller sei, mithin keine legalen Ansprüche habe. Das Gerücht [558] sagte, Meta sei die Tochter eines Auswanderers, der in einer Herberge Bremens seinen Geist aufgegeben habe. Möller, der Schiffsmakler, habe sich großmüthig des vierjährigen Mädchens angenommen, da der Vater keine Papiere hinterlassen, aus denen seine Heimath zu ermitteln gewesen.
Bronner hatte nun zwar eine arme, aber eine schöne, liebenswürdige Gattin, die ihm eine Tochter, jene Louise, gebar, die wir bei Wilhelm Dewald kennen gelernt haben. Bronner blieb Commis, ward aber nach zehn Jahren seiner Stelle verlustig, da der Banquier starb, und die Erben das Geschäft auflösten. Nun trat eine traurige Zeit für die arme Familie ein. Der alt gewordene Commis fand keine passende Stelle, es wollte ihn kein Chef fest engagiren, da er stets kränklich war. Meta starb bald darauf am Zehrfieber. Die Lage Bronner’s ward so traurig, daß er die Unterstützung seiner Mitmenschen in Anspruch nehmen mußte. Er wandte sich auch an Dewald, der ein großer Kaufmann geworden war. Leberecht unterstützte ihn wirklich mit kleinen Summen, bis der alte Commis starb. Louise fand Aufnahme bei ihrer Freundin Albertine, die später Wilhelm Dewald, den Neffen des Consuls, heirathete.
Seit Bronner’s Tode, der fünf Jahre vor dem Beginne unserer Erzählung erfolgt war, hatte sich Leberecht nur wenig in seiner Geburtsstadt aufgehalten. Er hatte mit dem langen Joseph große Reisen gemacht, bis er endlich seine Solitüde kaufte, um auszuruhen. Den Titel Consul hatte er erhalten, weil er früher einmal die Consulatsgeschäfte eines kleinen überseeischen Landes verwaltet hatte. In Bremen sprach man nur wenig noch von dem alten Leberecht Dewald, denn er hatte keine Freunde, die ihn liebten, und keine Feinde, die ihn haßten; er war mit der Zeit eine vergessene Person geworden.
Wie man sieht, hatte der Consul die Absicht, ein ähnliches, an Bedingungen geknüpftes Testament zu machen, wie der Schiffsmakler Möller. Sollte ihn dabei die Erinnerung an die schöne Meta leiten? Oder sollte er Bronner wirklich das Versprechen gegeben haben, für seine Tochter zu sorgen?
Beobachten wir den Sonderling.
Am Tage nach dem Besuche Alexanders von Windheim ging der Consul, in einen Pelz gehüllt, nach dem Forsthause. Der Herbsttag war klar und schön, wenn auch frisch. Das alte Gebäude in dem desolaten Zustande lag in der reinsten Sonnenbeleuchtung da. Der Consul hatte es lange nicht gesehen, er war erstaunt über die herabhängenden Fensterladen, das zerrissene Ziegeldach und die des Kalks beraubten Wände.
„Hier will der Edelmann wohnen?“ murmelte er vor sich hin. „Wahrlich, der arme Mensch muß vollständig mit der Welt zerfallen sein. Ach, und vielleicht ist er glücklicher, als ich!“
Er wollte die Thür öffnen; sie war verschlossen. Auf sein Klopfen öffnete sich ein Fenster im ersten Stocke, und das bärtige Gesicht eines Dieners guckte heraus.
„Ist Herr Alexander von Windheim zu Hause?“
„Ja, mein Herr!“
„Kann ich ihn sprechen?“
„Er liegt noch im Bette. Wen soll ich anmelden?“
„Den Consul Dewald.“
„Auf den Befehl meines Herrn soll ich den Herrn Consul einlassen, so oft er kommt. Ich bitte, warten Sie ein wenig.“
„Der Mann findet Gefallen an mir, wie ich an ihm!“ lachte Leberecht.
In dem Innern des Hauses ließen sich die Schritte des Dieners vernehmen, der die Treppe herabkam. Gleich darauf ward die Thür geöffnet, die fast zusammenbrach, als sie aus dem Schlosse glitt. Jene dumpfe Luft, die sich in lange verschlossenen Häusern bildet, quoll dem Eintretenden entgegen. Kopfschüttelnd stieg er die mit Schmutz bedeckte Treppe hinan.
„Wie heißt Er, mein Freund?“ fragte er den Diener.
„Tobias, Herr Consul!“
„Ein biblischer Name. Er gefällt mir.“
„Mir nicht, Herr Consul!“ brummte der alte grämliche Diener.
„Warum?“
„Weil mein alter Namensvetter blind war, und weil ich vielleicht dieses Schicksal mit ihm theile. Je älter ich werde, je schwächer wird mein Auge.“
„Füge Er sich dem Willen Gottes.“.
„Ich muß wohl, Herr Consul.“
„Und werde Er weise, wie Tobias.“
„Wollen einmal sehen, wie weit wir es hier bringen.“
Tobias öffnete eine Thür. Der Consul trat in ein Giebelzimmer, das noch ziemlich gut erhalten war. Die wenigen Möbel, die man Tags zuvor aus der Villa herübergeschafft hatte, machten es wohnlich. Alexander von Windheim hatte das Bett verlassen; er empfing den Gast im Schlafrocke, der, wie alle seine Kleider, höchst elegant war. Die Männer begrüßten sich wie alte Freunde, trotzdem sie sich nur erst einen Tag kannten.
„Hier also wollen Sie wohnen?“ fragte er.
„So lange ich kann, und wenn es möglich ist, so lange ich lebe!“ antwortete Alexander, indem er sich eine Cigarre anzündete, die er aus einem gefüllten Reisekoffer genommen hatte. „Des Lebens unter den Menschen bin ich so müde, daß mir diese Einsamkeit Erholung gewährt. Herr Consul, ich erlaube mir eine wichtige Frage an Sie zu richten.“
„Was wollen Sie wissen?“
„Gibt es Frauen in dieser Gegend?“
„Außer meiner Haushälterin, einem alten Weibe, keine.“
„Man kann also die nächsten Waldungen durchstreifen, ohne fürchten zu müssen, einem jener Geschöpfe zu begegnen, die zur Plage der Männer geschaffen sind?“
„Zuverlässig, mein Herr.“
„Gut; so ist eine Furcht beseitigt, die mich die ganze Nacht gequält hat.“
„Fürchten Sie denn die Frauen?“
„Wie Gespenster, wie Dämonen. Oft erscheinen sie mir im Traume, und ich wache erschreckt auf. Die eine streckt die Hand nach mir aus, die andere droht mit dem Finger, als ob ich sie beleidigt hätte; eine dritte grinst mich höhnend an, eine vierte will mich umarmen, eine fünfte lächelt wie eine Sirene, singt auch wohl dabei – Herr Consul, ich könnte Ihnen fünfzig solcher Traumgestalten nennen, und alle sind sie verführerisch schön. Ist das nicht seltsam? Aber je mehr mich diese Geschöpfe plagen, je mehr hasse und verachte ich sie. In zweiter Linie stehen die jungen Männer. Mein Gott, welche jammervolle Gesellschaft bilden diese Leute! Sie haben weder Sitten, noch Manieren; weder wissenschaftliche noch gesellige Bildung – und dabei sind sie falsch und treulos, wie die Frauen!“
Bei dem letzten Bekenntnisse lächelte der Consul still vor sich hin. Dann sagte er: „Ich freue mich, Sie so reden zu hören. Mein Herr, ich bin ein alter Felsen, an dem die Wogen des Lebens branden – das heißt, mein Geist ist durch die Philosophie zu einem Felsen geworden; mein armer Körper ist gebrechlich, wie ein Rohr, das ein Windhauch umknicken kann. In Bezug auf die Männer denke ich gerade wie Sie; aber die Frauen will ich doch nicht ganz verdammen, denn sie besitzen für mich ein gewisses Etwas – wie soll ich sagen? Die Frauen sind – nun Sie werden mich schon verstehen!“
„Vollkommen, vollkommen, Herr Consul! Ich bin ganz Ihrer Ansicht; es gibt keine Regel ohne Ausnahme, und mitunter findet man noch Tugend bei einer Frau. Aber das ganze Geschlecht ist schwach, es läßt sich leicht verführen.“
„Sprechen wir nicht mehr über dieses Capitel!“ sagte unruhig der Consul. „So viel steht fest, daß uns Beiden die Welt arg mitgespielt hat, und darum wollen wir uns von ihr zurückziehen. Ruft mich der Herr ab, so soll er mich bereit finden, seinem Rufe zu folgen.“
Alexander bot seinem Gaste eine Cigarre. Der Consul nahm sie, brannte sie an, und begann mit großem Wohlbehagen zu rauchen.
„Ich stehe auf dem Punkte, mein Testament zu machen,“ sagte er schmauchend. „Da ich wohl annehmen darf, daß Sie Ihren Entschluß festgestellt haben, so bitte ich Sie, mit mir den Kauf abzuschließen.“
Es war dies eine Vorsicht Leberecht’s, der wissen wollte, wie er eigentlich mit dem ihm fremden Edelmann daran sei. Der Geldpunkt ging ihm auch heute noch über Alles, die Casse war sein Barometer.
„Schließen wir ab,“ sagte Alexander fest. „Was fordern Sie für dieses Haus und den dazu gehörigen Garten?“
„Fünftausend Thaler.“
„Hier sind fünftausend Thäler!“
Der junge Mann holte ein Portefeuille aus einem zierlichen [559] Reisekoffer, nahm die Summe in Banknoten heraus, und legte sie auf den Tisch.
„Gut, Herr von Windheim.“
„Morgen hole ich mir von Ihnen Quittung und Kaufcontract.“
Beide reichten sich die Hand, als Zeichen des Abschlusses.
„Ich erwarte Sie zum Frühstücke, mein Herr; nach dem Frühstücke werden wir auf die Jagd gehen! Gute Gewehre finden Sie vor.“
Der Consul steckte das Geld ein, nahm Abschied und ging nach Hause.
„Dieser Edelmann hegt Ansichten von der Welt, die mich trösten!“ murmelte er vor sich hin. „Die Menschen sind schlecht, grundschlecht, und vorzüglich die Männer. Wahrhaftig, diese Uebereinstimmung unserer Ansichten macht mir den Mann lieb und werth.“
Denselben Abend brachte der Landpostbote Wilhelm Dewald’s Brief. Der Consul las ihn mit großer Genugthuung.
„Er hat die Tochter Meta’s und Bronner’s schon geheirathet!“ sagte er im Selbstgespräche. „Ich habe es mir gedacht, denn Wilhelm hatte das schöne Mädchen immer sehr gern. Das ist gut, recht gut! Ach, wäre ich nur nicht so krank, dann würden sich meine alten Tage vielleicht noch freundlich gestalten.“
Nachdenkend ging er eine Viertelstunde im Zimmer auf und ab. Sein Gesicht verfinsterte sich und mehr als einmal kniff er die Lippen zusammen, als ob er einen geheimen Groll unterdrücken wollte.
„Nein, es ist gut so, recht gut!“ rief er aus. „Der Teufel soll mich nicht wieder beim Schopfe packen, um mich von dem betretenen Wege zurückzuziehen. Was nützt mir denn das große Vermögen, wenn ich Nachts nicht schlafen kann? Dem Edelmanne erscheinen die Frauen, um ihn an seine unglückliche Liebe zu mahnen, und mir erscheinen sie, um – –“
Er nahm die Bibel von dem Tische, schlug eine bezeichnete Stelle auf und las mit lauter Stimme:
„Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir [b]ei Gott haben sollten!“
Dann setzte er sich zu Tische und nahm ein kräftiges Mittagsessen ein. Nach Tische warf er ein Gewehr über die Schulter, pfiff einem großen Jagdhunde und ging in den Forst. Der Consul hatte heute Glück auf der Jagd: nach einer Stunde schon barg seine Tasche einen Hasen und zwei Hühner. So beladen schritt er rüstig einem Dorfe zu, dessen kleine ärmliche Häuser zerstreut am Walde lagen. Eine Brücke, welche die niedern Ufer eines Baches verband, führte ihn auf den Gottesacker. Rasch, als ob er den stillen Ort der Todten fürchtete, ging er um das Kirchlein, dessen weiße Mauern freundlich von der Nachmittagssonne beleuchtet wurden; dann eilte er der Pfarrwohnung zu, die hundert Schritte von der Kirche entfernt lag. Der Pfarrer, ein freundlicher Greis, empfing ihn in seinem Studierstübchen.
„Herr Pastor,“ sagte der Consul, „ehe ich mich setze, erlauben Sie mir, daß ich in die Küche gehe und Mutter Helenen den Inhalt meiner Jagdtasche abliefere. Uebermorgen ist’s Sonntag, die gute Wirthschafterin kann einen Hasen gebrauchen.“
„Sie sind sehr freundlich, Herr Consul,“ antwortete schmerzlich der Pastrr; „aber Helene wird mir wohl keinen Hasen wieder braten.“
„Warum? Warum?“
„Sie ist sehr krank.“
„Die arme Frau!“
„Der Arzt, der mich so eben verließ, meint, daß sie den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben wird.“
Erschüttert stellte Leberecht sein Gewehr in eine Ecke.
„Vielleicht folge ich ihr bald nach!“ murmelte er. „Ja, ja, Herr Pastor, mit meiner Gesundheit steht es schlecht, ich kann Ihnen das nicht oft genug wiederholen. Man hält mich für stark; aber ich bin schwach, sehr schwach!“
Der Pastor schüttelte sein greises Haupt.
„Wie dem auch sei, Herr Consul,“ antwortete er, „dieser Gedanke hat sein Gutes.“
„Wie so, Herr Pastor, wie so?“ fragte Leberecht rasch.
„Wer sich für krank hält, wird stets sein Ende vor Augen haben, und wer sein Ende vor Augen hat, handelt als ein guter Mensch. Ach, wie Wenige gibt es, die an den Tod denken! Dächte Jeder an den Tod, der doch sicher nicht ausbleibt, wir würden nicht so viel schlechte Menschen haben.“
„Sie haben recht, Herr Pastor, ganz recht; die Welt ist durch und durch verderbt, Alles lebt in den Tag hinein. Einer zwickt, zwackt, plagt und betrügt den Andern, ohne zu bedenken –“
„Daß dort oben der höchste Richter einst fragen wird: Mensch, wie hast Du auf der Erde gelebt? Warum hast Du das, das und das gethan? Du kennst meine Gebote und hast sie nicht befolgt.“
„Herr Pastor,“ sagte Leberecht, als ob er dieses Gespräch abbrechen wollte, „Mutter Helene ist also gefährlich krank?“
„Schon seit drei Wochen. Sie haben uns länger als einen Monat nicht besucht.“
„Weil ich krank, sehr krank war! Auch ich stehe im Begriffe, mein Testament zu machen, und Sie, mein würdiger Freund, sollen darin bedacht werden. Ich weiß, Ihre Pfarre trägt wenig ein, an Ersparnisse haben Sie nicht denken können, die Pension, deren Sie bedürfen, wird gering ausfallen – ich denke an Sie, Herr Pastor!“
„Ach, Herr Consul, wie gut sind Sie! Es ist ein Glück, daß der Himmel Sie mit irdischen Gütern so reichlich gesegnet hat, Sie, der Sie einen so guten Gebrauch davon machen. Wie wird sich Helene freuen, wenn ich ihr diese Nachricht mittheile!“
„Führen Sie mich zu ihr, ich werde sie ihr selbst mittheilen.“
„Kommen Sie, kommen Sie, Herr Consul, die Kranke hat oft nach Ihnen gefragt!“
Der Pfarrer führte den Gast in ein Giebelstübchen, dessen Fenster nach dem Friedhofe hinausgingen. Eine alte Bäuerin saß am Tische und strickte.
„Sie schläft!“ flüsterte sie den Eintretenden entgegen, indem sie auf die geschlossenen Gardinen eines großen Himmelbettes deutete – „schon eine Viertelstunde.“
„Stören wir sie nicht!“ murmelte der Consul. „Ich komme in einigen Tagen wieder.“
„Nur einen Blick!“ flüsterte der Pfarrer, indem er leise die Vorhänge auseinanderzog.
Der Consul faltete unwillkürlich die Hände, als er das freundliche Gesicht eines alten Mütterchens in den schneeweißen Kissen sah. Tausend Furchen, vielleicht mehr von Gram als von Alter erzeugt, durchzogen dieses bleiche Gesicht mit den schmalen Lippen. Eine weiße Nachthaube mit feinen Spitzen bedeckte den Kopf, in dessen Schläfen sich einige weiße Löckchen zeigten. Ruhig und mild, wie die herbstlose Abendsonne, die vor dem Fenster in dem gelben Weinlaube webte, waren die Züge der regungslos Schlummernden. Die magern Hände lagen gefaltet, als ob die Kranke gebetet, auf der Brust, die von keinem Athemzuge gehoben ward. Die Augenlider mit den langen weißen Wimpern waren halb geschlossen, und das starre Auge sah auf die Brust herab.
„Mein Gott, mein Gott,“ flüsterte der Pastor, der die Kranke scharf angesehen hatte, „das ist nicht die Ruhe des Schlafes – nein, wahrlich nicht – sehen Sie das gebrochene Auge, die starren Lippen –!“
Bestürzt schwieg er einige Augenblicke. Dann ergriff er die Hand Mutter Helenen’s. Thränen rannen über die gefurchten Wangen des Greises, indem er mit bebender Stimme sagte: „Sie schläft den ewigen Schlaf – ihre Hand ist starr und kalt, die Hand, die zwanzig Jahre für mich gearbeitet hat! Helene, Helene, treue Seele! Ja, sie antwortet nicht mehr! Ihr Auge ist gebrochen, ihre Lippen sind stumm! Helene, Du hast einen sanften Tod gehabt, den Tod der Gerechten!“
Weinend neigte sich der greise Pfarrer, küßte die starre Hand und legte sie auf die Brust zurück. Dann blieb er ruhig stehen und ließ seinen Thränen freien Lauf, die wie Perlen auf die schwarze Tuchweste rannen. Das Antlitz Mutter Helenen’s, von der Abendsonne beleuchtet, schien dem Trauernden Trost zuzulächeln. Das waren wirklich die Züge eines Menschen, der ohne Kampf und in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus dieser Welt verschieden ist.
Dem Consul ward seltsam zu Muthe; zitternd wandte er sich ab und trat zu dem Fenster. Da sah er die Gräber, Leichensteine und Kreuze des Friedhofes. Er verließ das Sterbegemach und flüchtete sich in das Zimmer des Pastors, das die Aussicht in den Garten bot. Bald erschien auch der Greis, der seine Fassung wiedererlangt hatte.
„Nun stehe ich allein in der Welt,“ sagte er; „die letzte treue Seele hat mich verlassen. Mein Haus wird öde und leer sein, [560] da die schaffende Hand der guten Helene fehlt. So schwindet Alles nach und nach hin, bis auch die Reihe an mich kommt.“
„Herr Pastor, ich weiß Ihren Schmerz zu würdigen, da ich die Verstorbene gekannt habe. Wissen Sie, daß ich mir vorgenommen hatte, ihr ein Legat auszusetzen? Schade, daß sie gestorben ist.“
„Sie hat stets mit großer Liebe von Ihnen gesprochen, Herr Consul, und wenn Sie kamen, freuete sie sich wie ein Kind.“
„War Helene mit Ihnen verwandt, Herr Pastor?“
Der Pfarrer schien Trost darin zu finden, von der Verstorbenen zu sprechen; er ward redselig.
„Nein, sie war nicht mit mir verwandt, ich kenne nicht einmal ihre Familie.“
„Aber, wie ist sie denn zu Ihnen gekommen?“ fragte der Consul.
„Ihnen, lieber Herr, kann ich es erzählen; es weiß es bis jetzt kein Mensch. Nehmen Sie Platz, mir wird die Brust leichter, wenn ich mich aussprechen kann. Es sind diesen Herbst zwanzig Jahre, als ich eines Abends von meinem Filialdorfe zurückkehrte, wo ich mich länger, als ich eigentlich sollte, bei einem fröhlichen Kindtaufsschmause aufgehalten hatte. Mein Weg führte mich an dem Posthause vorbei, das dort unten an der Chaussee liegt. Als der Posthalter mich sieht, ruft er mich an. „Herr Pastor,“ sagt er, „in meinem Hause liegt eine fremde Dame schwer krank; sie hat ihre Reise unterbrechen und hier bleiben müssen. Der Arzt erklärt ihre Krankheit für bedenklich, und auch die Dame muß ihr nahes Ende fühlen, denn sie verlangt einen Geistlichen. Ich wußte, daß Sie zurückkehren würden, und habe Sie erwartet.“ Ohne Zögern ließ ich mich zu der Kranken führen; sie war eine Dame von vielleicht dreißig Jahren, aber trotz ihrer Blässe schön. Lächelnd streckte sie mir ihre vor Fieberhitze brennende Hand entgegen und sagte:
„Ich fühle, daß ich sterben muß, darum ersuche ich Sie, mir in meinem letzten Stündlein beizustehen und ein Geheimniß zu empfangen, das ich nicht mit mir aus der Welt nehmen möchte. Zuvor aber muß ich Ihnen, da Sie ein protestantischer Pfarrer zu sein scheinen, das Bekenntniß ablegen, daß ich eine Katholikin bin.“
„Madame,“ antwortete ich, „wir haben hier weit und breit keinen katholischen Geistlichen, darum erachte ich es um so mehr für Christenpflicht, Ihnen die Segnungen der Religion angedeihen zu lassen, die unser Herr für Alle gestiftet hat. Ich bin der Diener des Gottes, den alle Christen, ohne Unterschied der Confession, verehren. Wollen Sie sich mir anvertrauen, so werde ich mein Amt redlich verwalten.“
„Ich bin eine arme, unglückliche Frau!“ begann sie schluchzend. „Ein gewissenloser Mann hat mich meines Vermögens und meines Kindes beraubt. Vielleicht habe ich dieses Unglück verdient, aber Gott bestraft mich doch zu hart.“
„Haben Sie sich eines Vergehens wegen Vorwürfe zu machen?“ fragte ich.
„Hören Sie mich an, ob ich schuldig bin. Nach dem Tode meines ersten Mannes, mit dem ich zwar nur zwei Jahre, aber sehr unglücklich verheirathet war, zog ich mit meiner zweijährigen Tochter nach Köln, wo ich ruhig von dem Ertrage eines Gutes leben wollte, das mir mein Vater als Erbtheil hinterlassen hatte. Da lernte ich einen jungen Mann, einen Maler kennen, der mich und mein Kind portraitirte. Die heftigste Leidenschaft erfaßte mich für den Künstler, ich nahm seine Bewerbungen an und ward seine Frau, in der Hoffnung, nun das Glück zu finden, das mir in meiner ersten Ehe versagt gewesen war. Ein Jahr verfloß und ich hatte allen Grund, mich glücklich zu preisen. Da plötzlich bemächtigt sich meines Mannes eine Schwermuth, die mich tief bekümmerte. Ich dringe in ihn und er gesteht mir endlich, daß er leichtsinnig eine Heirath mit einer Schweizerin geschlossen habe, die er nicht lieben könne. Diese seine erste Frau befinde sich in Köln und scheine ihn zu suchen. Von ihrem heftigen, rohen Charakter wäre Alles zu fürchten. Er bat mich um Verzeihung, daß er mir dieses Geheimniß verschwiegen habe, aus Furcht, ich möchte ihm meine Liebe und meine Hand entziehen; er schwor, daß er nur aus Leidenschaft zu mir gesündigt habe. Ich verzieh um so leichter, da auch ich ihn leidenschaftlich liebte. Wir verließen Köln und wohnten still und eingezogen. Aber auch hier fand mein Mann keine Ruhe; er sagte mir, daß er die Papiere nachgemacht habe, die zu unserer Trauung erforderlich gewesen. Es bot sich mir eine günstige Gelegenheit, mein Gut zu verkaufen, und wir beschlossen, mit den erlösten hunderttausend Thalern nach Amerika auszuwandern. Mein Mann reist mit dem Kinde nach Bremen voraus und nimmt unser Vermögen mit sich, während ich in Köln die letzten Geschäfte besorge. In dem Augenblicke, als ich in die Post steigen will, verhaftet man mich; ich soll aussagen, wo sich mein Mann befindet, der wegen Bigamie und Fälschung von Papieren angeklagt ist. In dem Verhöre stand mir seine erste Frau gegenüber, eine derbe, rohe Schweizerin, mit der ein gebildeter Mann unmöglich leben konnte, obgleich sie hübsch von Gesicht war und einen schönen Körper hatte. Ich begriff die Gefahr meines armen Mannes und beschloß, ihn dadurch zu retten, daß ich aussagte, er wäre mit meinem Vermögen davongegangen, wohin könnte ich nicht sagen. Dadurch vermehrte ich zwar seine Schuld, aber ich rettete ihn, den ich für schuldlos hielt, vom Verderben. Was er gethan, hatte er ja aus Liebe zu mir gethan. Nachdem ich beschworen, daß ich um seine erste Liebe nicht gewußt, als ich ihm die Hand reichte, entließ man mich. Sechs Wochen waren darüber vergangen. Ich reiste nach Bremen, fand aber weder meinen Mann, noch mein Kind. Mit einer Summe von dreitausend Thalern, wegen der ich in Köln zurückgeblieben war, schiffte ich mich nach New-Nork ein, dem verabredeten Ziele. Ich kam an. Ein Jahr lang suchte ich in der großen Stadt – Alles war vergebens. Mein Geld war zu Ende und ich ging mit kummervollem Herzen nach Europa zurück. Jetzt bin ich auf der Reise nach meiner Heimath begriffen, die ich wohl nicht wiedersehen werde. Das ist die Geschichte meines Lebens. Herr Pastor, nehmen Sie dieses Taschenbuch, es enthält die Namen meiner Familie und meines Mannes. Oeffnen Sie es, wenn ich todt bin, damit Sie wissen, wer die Unglückliche war, deren Sie sich angenommen. Ich schwöre im Angesichte Gottes, daß ich die Wahrheit gesagt habe!“
„Nachdem ich ihr die Tröstungen der Religion ertheilt, trat eine heftige Krisis ein; ich übergab sie dem Arzte, der zurückgekehrt war, und ging nach Hause. Damals lebte meine Gattin noch; ich theilte ihr den Vorfall mit. Wir empfanden das innigste Mitleiden mit der armen Frau, deren Lebensglück durch so seltsame Umstände vernichtet war. Am nächsten Morgen machte ich mit meiner Gattin einen Spaziergang nach dem Posthause; der Postmeister sagte uns, daß die Kranke die Krisis überstanden habe und wahrscheinlich genesen werde, sie habe schon nach mir gefragt. Wir gingen zu ihr; schmerzlich lächelnd empfing sie uns. Meine Therese nahm sich ihrer freundlich an. Als die Kranke das Bett verlassen konnte, hatte sich zwischen den beiden Frauen ein Freundschaftsband geknüpft, das ich nicht zerreißen mochte. Der erste Gang der Fremden war der in unsere Pfarre. Ich ließ mich gern bereit finden, sie so lange in meinem Hause aufzunehmen, bis sie völlig zur Weiterreise gestärkt sei. Es verflossen Wochen, Monate – die Fremde, die sich Helene nannte, blieb. Da trat die langwierige Krankheit meiner armen Frau ein, und Helene war ihr sieben Jahre die treueste Pflegerin; sie allein leitete die Wirthschaft, sie allein wachte bei der Kranken, bis der Tod den furchtbaren Leiden derselben ein Ende machte. Von da an blieb Helene meine treue Wirthschafterin, und ich muß ihr heute nachsagen, daß sie eine treue Seele war, die ihr Leiden mit Muth und Ergebung getragen hat.“
Der Consul hatte mit ernstem Gesichte zugehört; es standen große Schweißtropfen auf seiner hohen Stirn, als der Pfarrer seine Erzählung schloß. Er schien unschlüssig zu sein, ob er gehen oder bleiben sollte.
„Die arme Frau!“ murmelte er.
Der Pfarrer trocknete seine Thränen.
„Herr Pastor,“ fragte der Consul mit Anstrengung, „warum haben Sie mir den Familiennamen Helenens und den ihres zweiten Mannes nicht genannt?“
„Weil ich ihn nicht weiß!“ antwortete treuherzig der alte Pfarrer.
„Sie wissen ihn nicht?“
„Nein, denn ich habe das Portefeuille noch nicht geöffnet. Und wozu auch war es nöthig? Bedurfte es eines Namens, um die arme Frau mehr zu lieben? Sollte ich sie durch Mißtrauen kränken? Ich erfülle treulich ihren Wunsch; nun ist sie todt, sobald ich ihre Hülle der Erde übergeben habe, werde ich das Portefeuille öffnen.“
[561] „Die Sache interessirt mich,“ sagte der Consul, indem er hastig aufstand. „In einigen Tagen sehen Sie mich wieder –“
„Dann werde ich Ihnen den Namen unserer unglücklichen Freundin nennen.“
Leberecht verließ das Pfarrhaus und eilte nach seiner Villa, die er, in Schweiß gebadet, erreichte, als der letzte Sonnenstrahl verschwunden war. Joseph empfing ihn und half ihm beim Auskleiden.
„Wann wollen der Herr Consul zur Nacht speisen?“
„Ich bin krank, Joseph!“
„Man sieht es Ihnen an, lieber Herr.“
„Nicht wahr, mein Gesicht ist bleich, mein Auge matt, meine Lippen beben vor Frost?“
„Ja, Herr Consul.“
„Bringe mich zu Bett!“
„Soll ich den Arzt holen?“
„Nein! Hu, wie mich friert!“
Leberecht schauderte wirklich wie ein Fieberkranker zusammen. Er legte sich zu Bett.
„Joseph, lies mir aus der Bibel vor.“
„Ja, Herr Consul!“
Der lange Diener setzte sich neben das Bett, befestigte eine Hornbrille auf seiner Nase und begann in einem feierlichen Tone zu lesen. Nach einer Viertelstunde verrieth ein lautes Schnarchen, daß der Kranke eingeschlafen war. Joseph erhob sich, legte die Bibel bei Seite und ging in ein freundliches Zimmer neben der Küche, um mit der Haushälterin ein gutes Abendessen zu genießen. Von dem kranken Herrn war keine Rede, die Domestiken wußten, daß er am nächsten Morgen wieder genesen sein würde. Und so kam es. Um neun Uhr erschien Alexander von Windheim zum Frühstück und um zehn Uhr ging er mit dem Consul auf die Jagd. Das Hauptthema ihres Gesprächs war die Verderbtheit der Welt.
[569]
Um ein Uhr Mittags fuhr ein Reisewagen in den Hof der Solitüde. Wilhelm Dewald stieg mit seinen beiden Damen aus.
Der lange Joseph erschien auf dem Perron des freundlichen Landhauses; er erkannte den Neffen seines Herrn, und begrüßte ihn ehrfurchtsvoll, wenn auch ein wenig verdrießlich. Er führte die Gäste in den Saal des Erdgeschosses. Die Damen sahen den Diener, der sich so gemessen, fast feierlich bewegte, erstaunt an. Wilhelm fragte ängstlich: „Kann ich meinen Onkel sprechen?“
„Nein, mein Herr!“
„Großer Gott!“ riefen erschreckt die Damen.
„Warum? Ist er gefährlich krank?“ fragte der junge Mann.
„Nein, mein Herr!“
„Ist er todt?“
„Nein, mein Herr!“
„Was ist mit ihm?“
„Er befindet sich auf der Jagd!“ antwortete Joseph mit der Ruhe, die ihm eigen war.
„Auf der Jagd?“
„Ja, Herr Dewald!“
„Erwartet er mich?“
„Ich weiß es nicht, Herr Dewald.“
„Wann kehrt er zurück?“
„Das ist unbestimmt.“
„Besorge uns ein Frühstück.“
Joseph verließ den Saal. Die Gäste sahen sich einander fragend an.
„Es bleibt bei dem, was wir verabredet haben,“ sagte Wilhelm. „Erscheint später eine Aenderung unseres Planes nöthig, so können wir sie immer noch eintreten lassen.“
Wilhelm ließ das Gepäck in ein Zimmer bringen, das an den Saal grenzte.
Nach dem Frühstücke zogen sich die Damen in dieses Zimmer zurück, um Toilette zu machen. Wilhelm stand am Fenster, und beobachtete das Gitterthor. Da plötzlich schritt der Onkel, ein rüstiger Jäger, über den Hof. An seiner schweren Jagdtasche hingen fünf oder sechs Hühner. Verwundert blieb er stehen, und sah einen Augenblick den Reisewagen an, den man halb in die Remise geschoben hatte. Dann eilte er die Treppe hinan, und verschwand in dem Hause.
„Das ist seltsam!“ murmelte der unruhige Neffe. „Der Herr Consul sieht wahrlich nicht aus, als ob er an das Sterben dächte. Zu welchem Zwecke mag er den traurigen Brief an mich geschrieben haben? Sollte er ein Erguß seiner Hypochondrie oder wohl gar eine List sein?“
Der rasch eintretende Consul unterbrach diese Reflexionen.
„Onkel, theurer Onkel!“ rief Wilhelm ihm entgegen.
Der Consul umarmte ihn mit einer Zärtlichkeit, die an Rührung grenzte.
„Willkommen, Wilhelm!“ rief er aus. „Wo ist Deine Frau? Bist Du allein gekommen?“
„Nein, sie befindet sich in jenem Zimmer, um Toilette zu machen. Wir sind während der Nacht gereist, und eben erst aus dem Wagen gestiegen.“
„Mein Gott, über diese Ceremonien! Ich sehe wohl, daß man mich nicht kennt; wir sind ja hier nicht in der Stadt. Ich hasse die Umstände, und will, daß man sich zwanglos bewege. O, Ihr eiteln jungen Leute!“
„Albertine, die Freundin, von der ich in meinem Briefe gesprochen, ist mit uns gekommen!“ sagte der Neffe, indem er den Onkel fixirte.
„Desto bester! Desto bester!“ rief der Consul mit einem Anfluge von Heiterkeit. „Die Freundin unserer guten Louise ist herzlich willkommen, denn ich weiß, daß sie ihren Umgang mit Vorsicht wählt.“
„Gewiß, lieber Onkel!“
„Du stellst mir die Freundin Deiner Frau vor, ich mache Dich mit dem neuen Eigenthümer des Forsthauses bekannt, einem jungen Manne, der mich diesen Morgen auf der Jagd begleitet hat. Er ist zwar nur erst fünfundzwanzig Jahre alt – aber ein Philosoph, der seines Gleichen sucht. Die Menschen sind ihm verächtlich, und die Frauen haßt er wie die Sünde. Der Mann gefällt mir. Während wir den Wald durchstreichen, moralisiren wir.“
„Demnach, mein Onkel, befinden Sie sich –“
„Schlecht, schlecht, sehr schlecht!“ sagte der Consul, ein saueres Gesicht machend. „Ich fühle, daß ich langsam vergehe. Mein Körper ist so schwach, so abgemattet – – “
„Wenn Sie den Wald durchstreift haben –“
„Nein, nein, davon kommt es nicht; es ist die Folge meiner schlechten Gesundheit.“
„So fehlt Ihnen wohl der Appetit?“
„Auch der Appetit fehlt nicht; ich esse und trinke gut, aber ich schlafe schlecht. Die Nacht, die Nacht ist mir eine furchtbare [570] Zeit!“ rief seufzend der Consul. „Und dann habe ich Krankheitsanfälle, die wahrhaft erschrecklich sind! Dem letzten dieser Anfälle verdanke ich, daß Du jetzt verheirathet bist,“ fügte Leberecht mit einem schmerzlich freundlichen Lächeln hinzu.
„Onkel,“ stammelte Wilhelm erröthend.
„Ah, Du Libertiner, das Junggesellenleben ist wohl sehr angenehm? Warte, ich werde Deine Anwesenheit in meinem Landhause benutzen, um Dich die Annehmlichkeiten eines zurückgezogenen häuslichen Lebens kennen zu lehren. Die Welt ist nichts, gar nichts – Thorheit, Nichtigkeit, Nichtswürdigkeit – ein Mensch betrügt und plagt den andern – der eine kommt empor, der andere geht zu Grunde – Du sollst den Herrn von Windheim über dieses Capitel sprechen hören – es ist ein wahrer Genuß! Und siehst Du, Wilhelm, weil ich fürchte, daß ich einmal Morgens mein Bett nicht verlasse –“
„O, verbannen Sie doch diese Grabesgedanken!“
„Daß ich schnell vergehe, wie alles Irdische, so habe ich daran gedacht, meine letzten Bestimmungen zu treffen. Ich freue mich, daß Du meine Lieblingsidee verwirklicht hast. Du weißt, ich bin ein guter Mensch, der kein Unrecht leidet, geschweige denn thut – aber hättest Du nicht die Tochter meines alten Freundes geheirathet, ich würde ihr allein mein ganzes Vermögen vermacht haben. So ist es mir lieb, denn auch der Sohn meines einzigen Bruders wird durch mich glücklich werden.“
„Onkel, Sie sind die Güte und Liebe selbst!“
„Findest Du das?“ fragte lächelnd der Consul.
„Darum werden Sie mir auch eine Bitte gewähren.“
„Bitte, lieber Neffe, bitte!“
„Der Mann muß stets das Oberhaupt im Hause sein.“
„Von Rechtswegen.“
„Meine Louise würde aber gewaltig den Pantoffel schwingen, wenn sie erführe, daß ich ihr das Glück verdanke, von Ihnen bedacht zu sein.“
„Und nun meinst Du, daß ihr der wahre Grund meiner Güte unbekannt bliebe?“
„Ja! Onkel, Sie kennen die Frauen nicht!“
„Ich kenne sie, und weil ich sie kenne, soll Louise nichts erfahren.“
Die eintretenden Damen unterbrachen das Gespräch. Beide hatten reizende Toilette gemacht. Wilhelm stellte keck Louisen als seine Frau vor. Gerührt betrachtete der Consul das schöne Mädchen.
„Das sind die Züge ihrer Mutter,“ murmelte er; „das ist ihr Lächeln, ihr blondes Haar, ihre Nase, ihre ganze Gestalt! Louise,“ rief er laut, „umarmen Sie Ihren zweiten Vater!“
Leberecht küßte die weiße Stirn Louise’s.
„Gut, gut,“ murmelte er; „nun habe ich eine Tochter und einen Sohn!“
Wilhelm ergriff Albertine’s Hand, und stellte sie dem Consul mit den Worten vor:
„Fräulein Albertine Möller, die intime Freundin meiner Gattin.
„Möller?“ stammelte verwirrt der Consul, denn der Name erinnerte ihn an den Schiffsmakler, dem er sein großes Vermögen verdankte.
Albertine, die, wie sich denken läßt, sehr befangen war, verneigte sich tief erröthend.
Der Consul faßte sich rasch; er sprach einige Höflichkeitsphrasen aus, und bat die Dame, das Landhaus als das ihrige zu betrachten. Joseph meldete, daß das Mittagsessen aufgetragen sei. Leberecht führte Louisen, seine vermeintliche Nichte, Wilhelm Albertinen, die vermeintliche Freundin, zu Tische.
„Wie wird das enden?“ flüsterte die ängstliche junge Frau ihrem Manne zu.
„Du siehst, mein Onkel ist ein überspannter Kopf.“
„Ich fürchte mich vor dem seltsamen Manne.“
„Spiele Deine Rolle gut; das Uebrige überlaß mir und dem guten Glücke, das dem Kecken stets hold gewesen ist.“
Onkel Leberecht war bei Tische so heiter, daß der lange Joseph mehr als einmal den eckigen Kopf schüttelte und in der Küche sein Mißfallen aussprach, wenn er eine Schüssel holte.
„Diese Stadtmenschen stören die Ruhe unseres Hauses,“ murmelte auch Frau Katharina, die Haushälterin, mit verdrießlichem Gesichte. „Ich wollte, sie wären, wo der Pfeffer wächst!“
Die Damen zogen sich zeitig in ihr Zimmer zurück, um von der anstrengenden Nachtreise auszuruhen. Onkel und Neffe gingen in der Dämmerung nach dem Forsthause, um dem Herrn von Windheim einen Besuch abzustatten. Alexander empfing die Gäste mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit, Wilhelm Dewald unterdrückte seine Verwunderung über den sonderbaren Elegant, der sich entschließen konnte, in dieser traurigen Einöde zu leben. Der Consul wußte dem Gespräche bald die Wendung zu geben, die den Edelmann auf sein Lieblingscapitel brachte. Alexander ermangelte nicht, seine Ansichten über die Welt und vorzüglich über die Frauen auszusprechen; er versicherte, daß er nie daran denken würde, sich je mit einem solchen Wesen zu verbinden.
„Dieser Edelmann ist auf dem besten Wege, ein Hypochonder wie mein Onkel zu werden!“ dachte Wilhelm. „Uebrigens traue ich dem Burschen nicht, wer kann wissen, ob er dem reichen Consul nicht eine Komödie spielt, wie ich sie ihm spiele. Man muß auf seiner Hut sein.“
„Womit beschäftigen Sie sich jetzt?“ fragte Leberecht.
Alexander deutete auf den Tisch.
„Ich schreibe meine Memoiren, die ich zur Belehrung der jungen Männer drucken lassen will! Das Werk soll den Titel führen: „Ueber die Treue der Frauen.“ O, es gibt viel Stoff zum Nachdenken; auch fehlt die Sentimentalität nicht, die jetzt allgemein beliebt ist.“
Hätte der Consul nicht nach der Uhr gesehen, und zum Aufbruche gemahnt, Alexander würde das erste Capitel seiner Memoiren vorgelesen haben. Man verabredete zum nächsten Morgen eine Jagdpartie, und trennte sich.
„Wie gefällt Dir Windheim?“ fragte der Onkel unterwegs.
„Ich bin verheirathet, und kann seine Ansichten nicht theilen.“
„Du hast Recht, und kannst zufrieden sein; man trifft nicht immer eine so liebenswürdige Frau, wie Louise ist.“
„Gefällt Ihnen Albertine?“ fragte Wilhelm.
„Sie ist schön, aber ein wenig zu still. Man pflegt zu sagen: stille Wasser sind tief! Ja, die stillen Wasser haben schon manches Opfer verschlungen. Ich liebe das freie, offene Wesen, das Louisen eigen ist. Louise ist eine Frau, die ich selbst hätte heirathen mögen, wenn ich nicht zu alt wäre.“
„Onkel, Sie müssen Albertinen näher kennen lernen – die junge Dame besitzt einen Schatz von Gemüth und Geist, der sie Jedem werth machen muß. Und dabei ist sie schön, wirklich schön!“
„Hollah,“ rief der Consul, indem er stehen blieb. „Was ist das? Du bist kaum mit Louisen verheirathet, und schon findest Du die Freundin gemüthvoll, geistreich und wirklich schön? Ist Albertine vielleicht auf Deinen Antrieb Louisen gefolgt? Mensch, wenn Du Deine Frau hintergehen könntest!“
Wilhelm erschrak, er hatte seine Rolle vergessen.
„Onkel,“ rief er, „halten Sie mich nicht für schlecht! Ich schwöre Ihnen, daß ich meiner Frau treu wie Gold bin. Aber darf ich deshalb nicht die Vorzüge anderer Frauen anerkennen? Wäre Albertine nicht die, die sie ist, ich gestattete ihren Umgang mit Louisen nicht. Geben Sie sich, in unserem Interesse, die Mühe, die junge Dame zu sondiren, und Sie werden mir beipflichten.“
„Das will ich mir merken,“ dachte der Onkel, „das braune Mädchen ist wirklich schön!“
„Bald hätte ich mich verrathen,“ dachte der Neffe: „der Alte ist schlau wie ein Zollvisitator!“
Leberecht beschloß, Albertinen zu beobachten, und Wilhelm nahm sich vor, den verdächtigen Edelmann scharf in’s Auge zu fassen.
Schon früh am nächsten Morgen brachen die Männer zur Jagd auf. Alexander zeigte sich als ein so liebenswürdiger Gesellschafter, daß Wilhelm die Sonderbarkeit desselben bedauerte, die ihn von der Welt ausschloß. Er ist ein liebenswürdiger Mann! war sein Urtheil über ihn. Alexander bat sich die Ehre aus, den Neffen des Consuls Freund nennen zu dürfen. In heiterer Stimmung kehrte die Jagdgesellschaft zurück. An dem Thore des Landhauses nahm Alexander Abschied und schlug den Fußweg, der durch den Tannenwald führte, nach dem Forsthause ein. Nicht lange war er gegangen, als ihm in der Biegung des Weges eine Dame entgegentrat. Es war Albertine. Ihr liebliches Gesicht unter dem weißen Atlashute war von der frischen Herbstluft sanft geröthet. [571] Ein Oberrock von dunkelgrüner Seide schloß den schönen, üppigen Körper eng ein. In der kleinen, mit gelbem Handschuh bekleideten Hand trug sie das weiße Battisttuch.
Alexander blieb überrascht stehen, als er diese seltene Erscheinung sah.
„Eine Dame, und eine reizende Dame in dieser Einöde!“ dachte er.
Um seine frauenfeindlichen Grundsätze war es geschehen – der romantische Elegant erwachte wieder. Höflich grüßend zog er seine grüne Jagdmütze. Seine Verwirrung erreichte den höchsten Gipfel, als die Dame ihn anredete.
„Verzeihung, mein Herr – führt dieser Weg nach der Solitüde?“
Das Lächeln der schönen Frau und ihre weiche, wohlklingende Stimme machten Alexander, der lange keine Dame gesehen und gehört hatte, zur Bildsäule erstarren.
„Nach der Solitüde wollen Sie?“ fragte er, die Mütze in der Hand haltend.
Schweigend verneigte sich Albertine, welche die Bestürzung des fremden jungen Mannes nicht begreifen konnte.
„Nach dem Landhause des Consuls Dewald?“ wiederholte Alexander.
„Ja, mein Herr!“
„In fünf Minuten werden Sie es sehen, wenn Sie diesen Weg verfolgen.“
„Ich danke, mein Herr!“
Albertine ging vorüber. Die Falten ihres Kleides berührten Alexander in dem schmalen Waldwege. Ein feines Parfüm drang in seine Nase. Wonneschaudernd sah er der junonischen Gestalt nach, die leicht durch den Wald schwebte und nach einer Minute verschwand.
„Auf Ehre, das war ein Engel!“ flüsterte er. „Pah, ein Weib, eine Schlange – der Teufel traue diesen Sirenen! Aber wie kommt sie in diese Gegend? Was will sie bei dem menschenfeindlichen Consul?“
Alexander kam nach Hause und nahm das Mittagsmahl ein, das der alte Tobias, der frühere Koch des Generals von Windheim, bereitet hatte. Es wollte ihm nicht schmecken. Das einfache, fast unfreundliche Zimmer ekelte ihn an. Um drei Uhr machte er eine sorgfältige Toilette, bei der Tobias als Kammerdiener behülflich war. Während er vor dem Spiegel stand und die elegante Cravatte anlegte, fragte er:
„Tobias!“
„Gnädiger Herr?“
„Sind Menschen in der Nähe unseres Hauses gewesen?“
„Ja!“
„Wen hast Du gesehen?“
„Ich glaube, es waren zwei Frauen.“
„Zwei Frauen?“ fragte Alexander überrascht.
„Ja, gnädiger Herr. Ich sah aus dem Fenster, als sie dort am Zaune vorübergingen und im Walde verschwanden.“
„Du hast doppelt gesehen, alter Freund!“
„Wohl möglich; mein Gesicht wird täglich schlechter.“
Alexander ging nach der Solitüde. Als er in den Hof trat, kam ihm Wilhelm aus dem Garten entgegen. Beide grüßten sich wie alte Bekannte. Indem sie dem Perron zugingen, nickte Wilhelm einer Dame zu, die an einem Fenster der Zimmer des Erdgeschosses stand. Alexander sah auf – er erkannte die schöne Unbekannte aus dem Tannenwalds.
„Mein Freund,“ flüsterte er wie berauscht, „wer ist diese reizende Dame?“
„Welche Dame?“
„Die am Fenster stand – Sie grüßten sie.“
„Ah so! Diese Dame ist – –“
„Ihre Frau?“
„Nein!“
Dem armen Alexander schien eine Centnerlast vom Herzen genommen zu sein.
„Wer ist sie?“ fragte er aufathmend.
„Fräulein Albertine Möller ist die Freundin meiner Frau.“
„Also nicht verheirathet? Fräulein?“
„Beides, Herr von Windheim!“ sagte Wilhelm. „Der arme Mensch ist verrückt, folglich nicht gefährlich,“ dachte er, indem er mit dem Jagdfreunde die Hausflur betrat.
„Herr Dewald, ich bitte Sie um eine Gefälligkeit.“
„Sprechen Sie, Herr von Windheim.“
„Sie kennen diese Dame?“
„Ja.“
„Stellen Sie mich ihr vor.“
„Mit Vergnügen.“
Er öffnete die Saalthür und ließ den Besuch eintreten. Albertine, die sich allein in dem Saale befand, trat den Ankommenden entgegen. Sie war im bloßen Kopfe; ihr braunes Haar bildete einen einfachen, glänzenden Scheitel. Den schönen Flechtenkranz hielt ein goldener Pfeil zusammen. Statt des Oberrocks trug sie ein Kleid von brauner Seide, das ihre harmonischen Körperformen deutlich abzeichnete. Den vollen Busen schmückte eine dunkelrothe Bandschleife.
Wilhelm Dewald gab seiner Frau ein bedeutungsvolles Zeichen mit den Blicken, während Alexander sich tief verneigte.
„Mein Fräulein,“ sagte er, „ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Alexander von Windheim vorzustellen, den liebenswürdigen Jagdgenossen, von dem mein Onkel erzählt, daß er alle Frauen verabscheut.“
„Verabscheut!“ stammelte Alexander bestürzt. „Glauben Sie es nicht, mein Fräulein. Ich habe nie eine solche Lästerung ausgesprochen.“
Albertine verneigte sich und sagte mit einem reizenden Lächeln: „Es bedarf nur des Anblicks des Herrn von Windheim und man muß die Ueberzeugung gewinnen, daß er nie Grund gehabt, sich über die Frauen zu beklagen.“
„Teufel,“ dachte Alexander, „sie besitzt Geist!“
Während Alexander zu einem Pfeilertische trat, den Hut ablegte und die braunen Glacehandschuhe auszog, flüsterte Dewald seiner Frau zu: „Sei auf Deiner Hut, dieser Mensch ist ein Narr, ein Schwätzer! Unser Geheimniß ist verloren, wenn er es erfährt.“
Alexander kam zurück.
„Ich hatte das Glück, Fräulein Möller diesen Morgen zu sehen,“ sagte er.
„Und ich hatte das Unglück, von meiner Freundin getrennt zu werden, die muthwillig einen andern Weg einschlug, um rascher nach dem Landhause zu kommen.“
„Wie gern hätte ich Sie geführt –“
„Ich würde Sie darum ersucht haben, wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Freund des Herrn Consuls sind.“
„Wo ist der Onkel?“
„Bei Ihrer Frau, Herr Dewald!“ antwortete Albertine, indem sie nach dem Seitenzimmer deutete. „Er hat sie um eine geheime Unterredung gebeten.“
„Der gute Onkel könnte mich eifersüchtig machen.“
„Beruhigen Sie sich, mein Herr, die Unterredung ist zu Ende – dort kommt der Herr Consul.“
Leberecht trat ein.
„Ah, Herr von Windheim!“ rief er heiter. „Willkommen, Frauenhasser! Ich benutze diese Gelegenheit, um Ihnen meine kleine Nichte vorzustellen. Kommen Sie, Louise, kommen Sie!“
Louise erschien in der Thür. Alexander starrte sie zitternd an wie eine gespenstige Erscheinung.
Der Consul, den das Gespräch mit Louisen in eine heitere Stimmung versetzt hatte, bemerkte eben so wenig wie Wilhelm die plötzliche Umwandlung Louise’s; sie hatten nur den Gast im Auge, der bald blaß bald roth wurde.
„Ihre Gattin?“ stammelte Alexander, indem er sich zu dem Neffen wandte.
Wilhelm verneigte sich zustimmend.
„Ich wette,“ sagte der Consul, „daß die Damen den Grund der zornigen Aufwallung unseres Gastes nicht kennen. Doch entschuldigen Sie ihn, er hat vor nicht langer Zeit eine arge Täuschung erfahren – wenigstens glaubt er es!“
Alexander hatte die Hand in die Oeffnung seiner Atlasweste gesteckt, sah zur Decke empor und sagte mit bebenden Lippen: „Wenn ich es bisher glaubte, so habe ich jetzt unumstößliche Beweise!“
„Vielleicht täuschen Sie sich, mein Herr!“ antwortete ihm Louise so unbefangen, als ob sie ihn trösten oder die Gewissenhaftigkeit der Frauen vertheidigen wollte.“
„Die Treulose!“ murmelte Alexander.
[572] „Haben Sie Nachrichten von ihr?“ fragte der Consul.
„Ja, mein Herr, die neuesten Nachrichten!“
„Also ist sie Ihnen wirklich untreu geworden? Element, Herr von Windheim, ein Mann in Ihren Jahren muß sich über so etwas hinwegsetzen. Vergessen Sie die Ungetreue und lieben Sie eine andere. So würde ich mich rächen, wenn ich, wie Sie, fünfundzwanzig Jahre alt wäre!“
„Onkel,“ rief Louise laut auflachend, „Sie geben dem Herrn einen schönen Rath!“
Alexander zerdrückte wie krampfhaft die Schleifen seiner Cravatte.
„Der Rath ist vortrefflich, Madame,“ rief er aus; „so vortrefflich, daß ich ihn sicher befolgen werde!“
Leberecht hatte seit Jahren eine so gute Laune nicht gehabt.
„Brechen wir ab von dem Unangenehmen, wenden wir uns zu dem Angenehmen!“ rief er aus, denn er hatte Mitleiden mit dem armen Alexander. „Sie sind so kurze Zeit verheirathet, Louise; aber nicht wahr, die Ehe ist doch schön? Bleibt bei mir, Kinder, ich will von jetzt an ein ganz anderes Leben führen, um die wenigen Tage zu genießen, die mir der Himmel noch schenkt. Es soll Euch an Nichts fehlen. Ihr bewohnt den linken Flügel meines Landhauses, damit Ihr vollkommen ungestört seid, und Fräulein Albertine bezieht ein Zimmer im ersten Stocke. Dann mag der Winter kommen, ich fürchte ihn nicht!“
Wilhelm sandte seiner Frau einen besorgten Blick zu. Louise hatte diesen Blick bemerkt.
„Onkel,“ sagte sie rasch, „ich werde mich von meiner Freundin nicht trennen!“
„Ich dulde keinen Widerspruch; die jungen Gatten sollen nicht genirt, sie sollen völlig frei sein.“
„Sie haben Recht!“ rief der Elegant, der wie auf Kohlen stand.
„Aber, Herr von Windheim, Sie sehen ja meine Nichte mit wahrhaft erschrecklichen Blicken an; man möchte glauben, Sie wollten sie mit Ihrem Hasse vernichten.“
„Wahrhaftig nein!“ rief bitter lachend der junge Mann. „Ich bin ihr im Gegentheil sehr gewogen!“
„Gut, gut, er denkt schon milder von den Frauen!“ rief der Consul, Albertinen scharf ansehend. „Sie müssen sich mit dem schönen Geschlechte vollkommen aussöhnen, es ist nicht so bösartig, wie Sie wähnen. Sehen Sie nur meinen Neffen, den jungen Ehemann, an, er glüht vor Freude und Glück. Ich stoße Ihre Grundsätze um, wie diese kleine Schlange die meinigen umgestoßen hat, denn ich habe Sie lieb gewonnen. Fräulein Albertine, ich rechne dabei auf Ihre Hülfe!“
„Auf meine Hülfe?“ rief erschreckt die junge Frau.
Alexander näherte sich Albertinen, küßte ehrerbietig ihre Hand, ergriff seinen Hut und verließ hastig den Saal, nachdem er die übrigen Personen leicht gegrüßt hatte. Man sah ihn rasch über den Hof eilen und zwischen den Bäumen verschwinden.
„Was ist das?“ fragte der Consul.
„Mein Gott,“ flüsterte erschreckt Louise, „wenn er nur keine Thorheit begeht.“
„Es ist wahr,“ meinte Leberecht; „der junge Mensch ist ein excentrischer Kopf.“
„Mein Freund,“ wandte sich Louise an Wilhelm, „eile ihm nach und suche ihn zu beruhigen, denn wir haben ihm arg mitgespielt.“
„O,“ murmelte Leberecht, „die junge Frau hat ein mitleidiges Herz! Schickt sie ihren Gatten einem jungen Elegant nach, der – –“
„Verzeihung, Onkel, ich kenne meine Frau und habe durchaus keinen Grund zur Eifersucht. Um ihr mein Vertrauen zu beweisen, gehe ich nach dem Forsthause. Unterhalten Sie die Damen.“
„Komm bald zurück!“ rief der Consul dem Davoneilenden nach.
Kaum hatte Alexander sein Zimmer betreten, als er den alten Tobias rief. Der Diener erschien mit der Pünktlichkeit der Soldaten.
„Tobias, packe die Sachen und bestelle Extrapost, wir reisen morgen ab!“
„Wohin, gnädiger Herr?“ fragte Tobias verwundert.
„Wohin Du willst, alter Freund. Aber wähle eine große Stadt für den Winter, wir wollen uns zerstreuen. Die Gegend hier ist zu traurig, ich halte es nicht länger aus.“
„Mir hat sie vom ersten Augenblicke an nicht gefallen, lieber Herr!“ rief Tobias mit freudestrahlendem Gesichte. „Also ich soll gleich packen?“
„Auf der Stelle! Zuvor jedoch bringe mir Licht, ich will einen Brief schreiben.“
Die Abenddämmerung war angebrochen. Als Tobias über die dunkele Hausflur ging, hörte er ein hastiges Klopfen an der Thür.
„Wer ist da?“
„Aufgemacht, aufgemacht, oder ich zertrümmere die Thür!“
„Dazu gehört nicht viel!“ murmelte Tobias. „Nur Geduld! Wer ist denn der stürmische Besuch?“
„Oeffne nicht, Tobias!“ rief Alexander von der Treppe herab. „Ich will keinen Menschen hören und sehen!“
„Gut, gnädiger Herr!“
In diesem Augenblicke drückte Wilhelm Dewald die wankende Thür ein und ging an dem erstaunten Tobias vorüber die Treppe hinauf. Oben stieß er auf den Edelmann.
„Ich muß Sie sprechen, mein Herr!“
„Verzeihung, mein Herr, ich nehme keine Besuche an, wenigstens von Ihnen nicht!“
Alexander wandte ihm den Rücken, und ging in das Zimmer. Dewald ließ sich nicht abhalten, er folgte ihm auf dem Fuße.
„Das ist zu kühn!“ rief Alexander entrüstet. „Wollen Sie mich zwingen, mein Hausrecht mit Gewalt zu wahren?“
„Nein, aber ich halte Sie nicht nur für einen Ehrenmann, sondern auch für einen vernünftigen Menschen. Meine Frau interessirt sich für Sie – –“
„Ah, ah, ah, Ihre Frau, mein Herr! Also Ihre Frau interessirt sich für mich? Treibt Sie vielleicht die Eifersucht, daß Sie in der Nacht durch den Wald rennen? Wenn dies ist, mein armer Herr Dewald, so haben Sie Recht und ich will Sie anhören!“
Tobias trat mit Licht ein.
„Soll ich bleiben, Herr?“ fragte er, einen Seitenblick auf den Gast werfend.
Alexander winkte ihm zu gehen. Tobias ging, nachdem er das Licht auf den Tisch gestellt.
„Wir sind allein, Herr Dewald; was haben Sie mir zu sagen?“ fragte von Windheim, und die Schadenfreude blitzte aus den Augen, als er den Schweiß auf Wilhelms Stirn glänzen sah.
„Oder vielmehr, was läßt mir die schöne, treue Louise sagen?“ fügte er höhnend hinzu.
„Er ist wirklich verrückt!“ dachte Dewald, der sich die Aufregung des seltsamen Menschen nicht erklären konnte.
„Nun, Sie glücklicher Ehemann,“ rief Alexander, „warum sprechen Sie nicht? Macht Sie das Glück der Ehe stumm?“
„Mein Herr, es scheint, Sie halten mich für einen lächerlichen Ehemann.“
„Nein, die Ehe ist ein zu ernstes Ding, mein lieber Herr; aber ich halte Sie für einen unglücklichen Ehemann.“
„Wollen Sie meine Frau verdächtigen?“
„Nein, ich werde schweigen wie das Grab!“ rief Alexander feierlich. „Und wenn Sie klug sind, so unterbrechen Sie dieses Schweigen nicht, sondern begnügen sich, blindlings an die Treue Ihrer Frau zu glauben. Morgen früh, diese Nacht noch reise ich ab; leben Sie wohl, Herr Dewald!“
„Ich hoffe, Sie werden bleiben!“
„Wahrlich, nein!“
„Oder mir wenigstens den Grund Ihrer plötzlichen Abreise nennen. Sie sind von Vorurtheilen befangen, die Ihnen das Leben verbittern.“
„Von Vorurtheilen?“ rief Alexander bitter lachend. „Ah, ich sehe, daß ich Ihnen gegenüber offen sein muß. So sind die Ehemänner, nur eclatante Beweise öffnen ihnen die Augen.“
[585] „Wohlan, so hören Sie denn,“ fuhr Alexander fort. „Ich habe Ihnen auf der Jagd erzählt,“ sagte er leise, „daß mich ein ungetreues Weib schmählich verrathen, daß es mir die heiligsten Eide gebrochen hat?“
„Ich erinnere mich.“
„Sie selbst nannten sie eine Treulose.“
„Und wer ist diese Treulose?“
„Ihre Frau!“ rief Alexander triumphirend.
Wilhelm fuhr betroffen zurück.
„Meine Frau!“ murmelte er. „Das ist nicht übel.“
„Ja, Ihre Frau, Herr Dewald! Sie sehen, daß ich Ihrer Ruhe wegen nicht bleiben kann.“
„Meiner Ruhe wegen?“ fragte Wilhelm lächelnd. „Wenn Sie keinen andern Grund zur Abreise haben, so bleiben Sie.“
„Wie?“
„Ich wiederhole es, bleiben Sie, mein Herr!“
Alexander fühlte sich durch die ruhige Sicherheit verletzt, mit der diese Worte an ihn gerichtet wurden. Seine Eitelkeit erwachte.
„Gut,“ sagte er nach einer Pause, „so will ich denn bleiben; aber nur um ihr zu beweisen, daß sie mir völlig gleichgültig ist.“
„Er will sich rächen!“ dachte Wilhelm.
„Wenn ich abreiste, würde sie glauben, die Verzweiflung triebe mich fort – diesen Triumph will ich ihr nicht bereiten. Ich gehe selbst noch weiter: ich werde den Rath Ihres Onkels befolgen – bei Gott, das ist ein großer Gedanke! Ich werde mich in die reizende Albertine verlieben – ich bin sogar schon in sie verliebt! Ich bete sie an, ich vergöttere sie!“
„Sie fangen rasch Feuer, Herr von Windheim!“
„Zu meinem, zu Ihrem Glücke. Mein Herr, dafür, daß Sie mir die Geliebte entführt haben, zeigen Sie sich jetzt gefällig.“
„Was kann ich thun?“ fragte Wilhelm.
„Sie sind mit der reizenden Albertine befreundet; sagen Sie ihr, daß ich reich, von Adel, sanfter Gemüthsart, guten Charakters, treu und zärtlich bin – mit einem Worte, stellen Sie meine Eigenschaften, die Sie kennen und die Sie nicht kennen, in das hellste Licht.“
„Mein Herr, Albertine ist nicht reich.“
„Desto besser; so bereichere ich sie durch mein Vermögen. O, es ist ein süßes Glück, die Geliebte glücklich zu machen!“
Wilhelm bot Alles auf, den Entschluß des sonderbaren Menschen schwanken zu machen.
„Albertine,“ fuhr er fort, „ist keine wahre Schönheit. Ihre Züge sind, in der Nähe gesehen, grob.“
„Mein Herr, die Schönheit ist Geschmackssache!“ rief der aufgeregte Alexander.
„Aber sie ist kokett!“
„O, welche Frau wäre das nicht?“
„Und entsetzlich launenhaft.“
„Desto besser! Die Launen machen ein hübsches Mädchen in den Augen des Liebhabers um so interessanter. Albertine vereinigt die Eigenschaften von zehn anderen Frauen. Es bleibt dabei, ich werbe um die Gunst der schönen Albertine.“
„Mein Herr, ich kann Ihnen nicht beistehen, ich werde selbst zu verhindern suchen – –“
Alexander fuhr auf.
„Wie,“ rief er, „auch diesmal wollen Sie mir in den Weg treten? Vergessen Sie nicht, daß Sie mir bereits die erste Geliebte genommen haben. Sie sind eifersüchtig auf Ihre Frau, wie Sie vorhin sagten, und jetzt wollen Sie zwischen mich und Albertinen treten – mein Herr, was soll ich davon denken?“
Dewald begriff, daß er sich von seiner Eifersucht hatte zu weit hinreißen lassen; er durfte sich ja auf den Takt und die Festigkeit seiner Frau verlassen.
„Mein Herr,“ sagte er mit kalter Artigkeit, „thun Sie, was Sie wollen; aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß all’ Ihr Bemühen vergebens sein wird. Albertine ist kalt, gleichgültig, Extravaganzen findet sie lächerlich und den Ehestand haßt sie. Wie gesagt, thun Sie, was Sie für gut halten. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen!“
Alexander von Windheim verneigte sich mit kalter Eleganz.
„Leuchte dem Herrn die Treppe hinab, Tobias!’ rief er dann.
Tobias kam dem Befehle nach. Wilhelm Dewald verließ das Forsthaus und eilte nach der Solitüde zurück.
„Wir bleiben!“ sagte Alexander, als der Diener das Licht zurückbrachte. „Besorge mir ein Abendessen.“
Der Alte verließ brummend das Zimmer.
„Wie, Herr Dewald,“ dachte der Edelmann, „Sie wollen mir zum zweiten Male hinderlich sein? Ah, das ist ein Grund mehr, bei meinem Entschlusse fest zu verharren. Louise wird vor Zorn weinen, wenn ich über die gelungene Rache triumphire. Die Ungetreue hat es nicht besser gewollt, ich habe durchaus keinen Grund, mir Vorwürfe zu machen. Mag es ausfallen, wie es will, ich werde mich um Albertinen bewerben.“
[586]
Der Consul war seit der Ankunft der jungen Leute heiter geworden, sein ganzes Wesen hatte sich verändert. Louise, die vermeintliche Nichte, war der Gegenstand seiner größten Sorgfalt und Zärtlichkeit. Ihr munteres, fast übermüthiges Wesen fand er reizend, und ihren Widerspruchsgeist nannte er Scharfsinn. So oft er konnte, sprach er mit ihr von ihrer verstorbenen Mutter. Bei solchen Gelegenheiten fügte er stets die Ermahnung hinzu: „bleiben Sie Ihrem Manne getreu, liebe Louise, denn Sie beglücken dadurch Ihren alten Onkel, der nur noch kurze Zeit zu leben hat.“ Gerührt entfernte er sich nach einer solchen Unterredung, um sich in seinem Zimmer einzuschließen.
„Das ist wirklich ein seltsamer Mann!“ dachte Louise. „Aber wie soll das enden? Fast bereue ich, daß ich mich zu dieser Rolle hergegeben habe. Die Lösung wird eine ganz andere werden, als die, die wir vermuthen.“
Wilhelm Dewald war immer noch der glühende Liebhaber seiner Frau, und wie alle Liebhaber, so ward auch er auf jeden jungen Mann eifersüchtig, der sich ihr nahete. Alexander war ohne Widerrede ein schöner Mann und seine Sonderbarkeiten mußten ihn interessant machen. Auch die Eitelkeit mischte sich in das Spiel; er war stolz, der Mann einer so schönen, liebenswürdigen Frau zu sein. Fürchtete er auch die Untreue Albertinens nicht, so dachte er doch mit einem bittern Gefühle daran, daß sie den bizarren Edelmann interessant finden könne. Er nahm sich vor, den Plan desselben zu verschweigen und still zu beobachten, wie Albertine sich benehmen würde. Es war dies eine Probe, die seine Eitelkeit sich nicht versagen konnte. Ein König ist nicht frei von der Eitelkeit auf seinen Thron, auf seine Macht – es ist verzeihlich, wenn ein junger Ehemann eitel auf den Besitz seiner schönen Frau ist. Das quid pro quo, das er dem grillenhaften Onkel spielte, trat für den Augenblick in den Hintergrund. Man sieht, Herr Wilhelm Dewald besaß außer der Eitelkeit auch einen hohen Grad von Leichtsinn.
Beim Frühstück am andern Morgen flüsterte Louise ihm zu:
„Wie haben Sie den Weiberfeind verlassen?“
„Er will sich rächen.“
„Wodurch?“ fragte Louise erröthend.
„Ich weiß es nicht.“
„Suchen Sie ihn so lange zu fesseln, bis ich meine Maske ablegen kann.“
„Zählen Sie darauf.“
„Aber säumen Sie nicht mit der Lösung, die Rolle ist mir zu schwer.“
„Sie liebt den Kecken!“ dachte Dewald. „Desto besser!“
Zur Zeit des Mittagstisches erschien Alexander in großer Toilette. Er war zu Pferde in den Hof der Solitüde gesprengt.
„Vortrefflich,“ rief der Consul, „da kommt unser Philosoph! Wahrlich,“ fügte er hinzu, indem er durch das Fenster sah, „der Edelmann sitzt gut zu Pferde.“
Albertine warf Louisen einen Blick zu. Diese lächelte zufrieden über das Lob, das der Onkel so eben ausgesprochen hatte. Der Neffe hatte es bemerkt; unwillkürlich warf er einen Blick durch das Fenster: er mußte sich eingestehen, daß Alexander graziös und leicht vom Pferde stieg. Man lud den Gast zu Tische, und er blieb. Alexander sprach lebhaft und viel; aber kein Wort verrieth sein Verhältniß zu Louisen, die sich Mühe gab, ihre heitere Laune zu bewahren, um den Consul zu täuschen, der an ihrer Seite saß. Außer dem Consul affectirten alle Gäste eine Unbefangenheit, die ihnen fremd war.
Nach Tische schlug der Consul einen Spaziergang nach seinem Karpfenteiche vor, der am äußersten Ende des Gartens lag. Er befahl, daß Dewald seine Gattin und Alexander Albertinen führe. „Vielleicht stoße ich sein philosophisches Gebäude um!“ flüsterte er dem Neffen zu.
Die Paare, von dem Consul geführt, gingen in den Garten. Louise und Wilhelm befanden sich in einer eigenen Situation: das junge Mädchen konnte sich der Eifersucht auf Albertinen und der junge Mann der Eifersucht auf Alexander nicht erwehren. Der Consul ward nicht müde, sie zu unterhalten.
Alexander hatte mit seiner Dame einen Seitenweg eingeschlagen.
„Verzeihung,“ sagte erschreckt Albertine, „der Teich liegt dort!“
„Folgen Sie mir, ich bitte, mein Fräulein. Auch dieser Weg führt zum Ziele.“
„Ich fürchte nur –“
„Fürchten Sie, mit mir allein zu bleiben?“
„Man sagt, Sie lieben die Einsamkeit.“
„Und man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, mein liebes Fräulein; aber die Einsamkeit hat für mich tausend Reize mehr, wenn eine so liebenswürdige Dame sie verschönt!“
Albertine errieth die Absicht des Sonderlings.
„Ah,“ rief sie lächelnd, „ich glaube, mein Herr, Sie werden galant!“
„Können Sie sich darüber wundern?“ fragte Alexander, der um so eifriger ward, je mehr sich Louise und Wilhelm von ihm entfernten.
„Sie haben ja den Frauen ewigen Haß geschworen!“
„Meine liebe Dame, ich fühle mich gedrungen, Ihre Meinung von mir zu berichtigen. Ja, ich hasse, aber nur die frivolen, die ungetreuen Frauen, denen ein Schwur Nichts ist; Bescheidenheit, Tugend und Sittsamkeit sind mir heilig, ich vergöttere sie. Als ich Sie gestern allein im Walde sah, mußte ich mir auf den ersten Blick eingestehen –“
„Herr von Windheim,“ rief Albertine lachend, „ich glaube, Sie wollen mir den Hof machen! Wenn Sie aus diesem Grunde mich von der Gesellschaft entfernt haben, so muß ich Ihnen bemerken –“
Sie unterbrach sich, um nicht zu viel zu sagen. Alexander sah, daß sie erröthete.
„Es ist Schade,“ murmelte er, „daß diese lieblichen Züge eine kalte, gleichgültige Seele bedecken!“
„Wer hat Ihnen das gesagt?“
„Ich weiß es!“ antwortete Alexander seufzend.
„So nehmen Sie die Versicherung, daß man mich Ihnen falsch geschildert hat. Ja, wahrlich, man hat mich bei Ihnen zu verleumden gesucht!“
Alexander betrachtete einige Augenblicke die reizende junge Frau; er fand es erklärlich, daß Wilhelm Dewald ihn von ihr fern zu halten suchte.
„Ich würde mich glücklich preisen,“ sagte er bewegt, „wenn Sie einer zärtlichen Neigung nicht unfähig wären.“
„Aber warum denn nicht, mein Herr?“
„Wie, mein liebes Fräulein, Ihr Herz wäre nicht unempfindlich?“
„Leider empfindet es in dieser Einsamkeit nur zu viel!“ flüsterte Albertine seufzend.
Man setzte den Weg schweigend fort.
„Sie seufzt, ist verlegen,“ dachte Alexander; „das ist ein gutes Zeichen, ich darf offen reden, ohne eine Blamage zu fürchten.“
Die beiden Spaziergänger traten in einen Weg, der von Rebengeländen bedeckt ward. In weiter Entfernung hörte man die Stimme des Consuls, der laut von seinen Gartenanlagen sprach. Als Alexander sah, daß er sich mit seiner Dame allein befand, ergriff er sanft ihre Hand, blieb stehen und sah ihr zärtlich in das Gesicht. Er fühlte wirklich eine Anwandlung von Liebe zu der schönen Frau, die züchtig erröthend vor ihm stand.
„Albertine,“ flüsterte er mit bewegter Stimme, „ich kann diesen glücklichen Augenblick nicht entschwinden lassen, ohne Ihnen schüchtern das Bekenntniß abzulegen, daß ich Sie liebte, als ich Sie sah, und daß ich Sie anbete, nachdem ich Sie gesprochen habe. Ich bin jung, habe dreißigtausend Thaler jährlicher Renten, kann über meine Hand und mein Vermögen disponiren und lege Ihnen Beides zu Füßen. Man hat mir gesagt, daß Sie nur die verständigen Leute lieben – glauben Sie mir, die Stimme meines Verstandes spricht eben so laut, als die Stimme meines Herzens. Verlassen Sie mich nicht, ohne mir eine Antwort zu geben. Ich würde, verschmähen Sie mich, der Verzweiflung anheimfallen.“
Bestürzt hatte Albertine dieses Bekenntniß gehört, denn sie gedachte mit Schmerz der Freundin, deren Verhältniß zu dem jungen Manne sie kannte. Um[WS 1] einen Weg einzuschlagen, der zur Versöhnung führen konnte, nahm sie zur Unbefangenheit ihre Zuflucht.
„Ist es möglich, mein Herr?“ rief sie aus, ohne ihm ihre Hand zu entziehen. „Sie kennen mich kaum, und schon tragen Sie mir Ihre Hand an?“
[587] „Weil Sie das Wesen sind, dessen Besitz mich glücklich machen kann!“
Albertine senkte lächelnd die Augen.
„Sie willigen ein?“ rief Alexander außer sich. „Ich bin der glücklichste der Menschen! O, wiederholen Sie mir dieses süße Geständniß!“ fügte er dringend hinzu, indem er einen Kuß auf ihre Hand drückte.
„Mein Herr,“ stammelte Albertine, „ich habe ja noch Nichts gesagt.“
„Aber die Blicke Ihrer schönen Augen verrathen Alles! Ich fordere keine Worte, aber bestätigen Sie durch einen Blick, durch einen Druck der Hand, daß ich hoffen darf!“
Mit der romantischen Schwärmerei, die einen Hauptzug seines Charakters bildete, sank er zu Albertinens Füßen nieder.
In demselben Augenblicke erschien Wilhelm, der, von Eifersucht getrieben, rasch durch das Rebengelände trat. Bestürzt blieb er zwischen den gelben Weinblättern stehen. Das hatte er nicht gedacht. Alexander sah ihn. Triumphirend lächelnd erhob er sich und küßte noch einmal die Hand Albertinens, die ihren Mann, da er hinter ihrem Rücken stand, nicht bemerkte.
„Verlassen Sie mich!“ flüsterte Albertine.
„Jetzt? Ich führe Sie zu dem Consul und eröffne ihm, daß Sie –“
„Nicht eher, bis ich Ihnen die Erlaubniß gebe, zu reden!“
„Und Sie halten Ihr Versprechen?“
„Gewiß, was ich versprochen, werde ich halten!“
„Ah, Albertine, wie liebe ich Sie!“
„Beweisen Sie es.“
„Wie?“
„Indem Sie ohne mich zu der Gesellschaft gehen. Ich bin so aufgeregt –“
„Albertine, ich entferne mich, um Ihnen zu zeigen, wie gern ich Ihren kleinsten Wunsch erfülle!“
Alexander entfernte sich; er suchte Dewald mit den Blicken – Der überraschte Ehemann war hinter die Reben zurückgetreten, um von dem höhnenden Elegant nicht mehr gesehen zu werden. Kaum war der Elegant verschwunden, als Wilhelm rasch seiner Frau entgegentrat.
„Madame,“ sagte er mit zorniger Aufwallung, „ich bewundere Siel“
Albertine wollte ihm freundlich die Hand reichen; er wies sie zurück.
„Was hast Du, Wilhelm?“
„Sie verstehen es, diesen Wahnsinnigen zu ermuthigen.“
„Wilhelm,“ sagte die junge Frau vorwurfsvoll, „kannst Du wirklich glauben, daß ich meine Pflichten vergesse? Hast Du so wenig Vertrauen zu Deiner Frau –“
„Eine Frau fühlt sich geschmeichelt, wenn sie hört, daß sie ein Mann liebt. O, über die Eitelkeit der Frauen! Sie fehlten schon Ihrer Pflicht, indem Sie den Narren anhörten!“ fuhr Dewald gereizt fort. „Sie mußten ihn abweisen.“
„Konnte ich denn? Er ließ mir nicht die Zeit, ein Wort zu entgegnen.“
„Madame, eine Frau besitzt immer Mittel, sich Achtung zu verschaffen, wenn sie nur den Willen dazu hat! Aber der Herr von Windheim ist ein junger, liebenswürdiger Edelmann – er hat aristokratische Manieren, schwärmt wie ein Narr für jede hübsche Frau, und was noch mehr ist –“
„Wilhelm, Wilhelm!“ rief Albertine bestürzt. „Was ist das? Du kannst Deine Frau mit einem so unwürdigen Verdachte kränken? Ich denke besser von Dir!“ sagte sie zitternd, und Thränen rannen über ihre Wangen. „O, daß es dahin kommen mußte!“
Sie verhüllte das Gesicht mit ihrem weißen Spitzentuche.
„Albertine!“
„Hältst Du mich für fähig, den Mann und die Freundin zu verrathen?“ fragte sie würdevoll.
„Du weißt also –?“
„Louise hat mir Alles gesagt.“
Der junge Mann ergriff reuig ihre Hand.
„Ach, Verzeihung, Albertine,“ rief er ärgerlich aus, „ich wollte Dich nicht vorsätzlich kränken; aber habe Nachsicht mit meiner peinlichen Situation, die mir mit jeder Stunde unerträglicher wird. Vergiß diesen Augenblick zu großer Aufregung!“
„Dein Verdacht, mein Freund, schmerzt bitter. Liebe ohne Vertrauen ist nicht die wahre Liebe!“
Wilhelm ward tief ergriffen, als er den Schmerz der schönen Frau sah. Jetzt, wo er sie wie eine Fremde behandeln, wo er ihr fern bleiben mußte, war er wieder mehr Liebhaber, als je. Er bereuete seine Heftigkeit. „Albertine!“ rief er. „Versöhnung, verzeihe meiner Liebe!“
Die junge Frau warf sich unter Thränen lächelnd an seine Brust. Er hielt sie einige Augenblicke innig umschlungen.
„Himmel, was sehe ich! Täuschen mich meine Augen?“ rief plötzlich eine Stimme.
Die beiden Gatten fuhren zurück. Der Consul, bleich vor Zorn, trat aus dem Gelände.
„Mein Onkel!“ murmelte Wilhelm.
„Wir sind verloren!“ flüsterte Albertine, die schwankend zur Seite trat, und ihr Gesicht mit dem Tuche bedeckte.
„Ah, mein Herr Neffe, also deshalb haben Sie uns heimlich verlassen, deshalb liefen Sie über alle Beete? Schämen Sie sich der Sünde gegen Ihre liebenswürdige Frau nicht?“
Die peinliche Lage des armen Wilhelm läßt sich denken. Was sollte er zu seiner Entschuldigung anführen? Durfte er jetzt dem wüthenden Onkel das Geheimniß entdecken?
„Nun erkläre ich mir auch die große Vorliebe, mit der Sie stets von dieser Dame sprechen!“ fuhr mit bebender Stimme der Consul fort. „Ich wollte einem so unwürdigen Verdachte nicht Raum geben – und jetzt bestätigt er sich auf eine empörende Weise vor meinen Augen. Sie treten Sitte und Anstand mit Füßen, mein Herr!“
„Ich schwöre Ihnen, Onkel –!“
„Versuchen Sie es nicht, sich zu rechtfertigen, denn ich lasse Nichts gelten! Und Sie, mein schönes Fräulein Albertine, so lohnen Sie die Freundschaft, die meine Nichte für Sie hegt? O, das ist infam, das ist ehrlos!“
Albertine weinte heiße Thränen in ihr Taschentuch; sie bereuete, auf ein so gefährliches Spiel eingegangen zu sein. Wilhelm wollte sie vor ferneren Beleidigungen schützen.
„Onkel, ich muß Ihnen eine Erklärung geben!“ rief er.
Der Zorn übermannte den Consul; er wollte von einer Erklärung nichts wissen. Nachdem er den Neffen mit den Blicken der Wuth vom Scheitel bis zur Zehe angesehen, wandte er sich zu der weinenden Albertine.
„Mein Fräulein,“ sagte er, gewaltsam sich mäßigend, „ich weiß zwar die Ehre zu schätzen, die Sie meinem Hause durch Ihren Besuch erweisen; aber Sie haben vielleicht Verwandte und Freunde, die Sie zärtlich lieben und Ihrer Rückkehr sehnlichst harren – man muß diese guten Leute nicht warten lassen, und darum werde ich Befehl ertheilen, daß mein Wagen Sie auf der Stelle zu ihnen bringt. Bestimmen Sie den Ort, wenn ich bitten darf!“
„Mein Gott, mein Gott!“ schluchzte die arme Frau.
„Beruhigen Sie sich, mein schönes Fräulein,“ sagte höhnend der Consul; „man wird Sie mit Sorgfalt, mit großer Rücksicht behandeln. Mein bequemer Reisewagen wird Sie zu der nächsten Eisenbahnstation bringen –“
„Albertine,“ flüsterte Dewald, „reise, ich werde Dir folgen!“
Diese Worte hatte der Consul gehört; sie steigerten seinen Zorn zur Wuth.
„Mein Herr,“ rief er, „Sie sind ein fürchterlicher Mensch und rechtfertigen die Meinung, die ich bisher von allen Männern hegte. O, es ist eine Schmach, eine Sünde! Sie sind erst wenig Tage mit einer liebenswürdigen Frau verheirathet, und schon begehen Sie diese Infamie! Sie, mein Fräulein, packen Sie Ihren Koffer – in einer Viertelstunde wird der Wagen vorfahren! Gehen Sie, gehen Sie, ich dulde Sie nicht länger unter meinem Dache!“
Die junge Frau konnte nicht länger bleiben; sie eilte weinend dem Landhause zu, wo sie Louisen anzutreffen hoffte. Der Neffe wollte sich zu dem Onkel wenden; dieser aber ging rasch den Weg zurück, den er gekommen war. Wilhelm stand rathlos an dem Rebengelände. Wozu sollte er sich entschließen? Er verwünschte den Herrn von Windheim, verwünschte die unglückliche List, mit der er den bizarren Onkel umgarnen wollte. Da rauschte ein Frauenkleid durch den Weg. Er sah auf – Louise stand vor ihm.
„Was ist Ihnen, lieber Freund? Wo ist Albertine?“
„Sie sehen mich in Verzweiflung!“
[588] „O, auch ich bereue, daß ich darauf eingegangen bin, Ihre Frau zu spielen!“
„Leider haben Sie umsonst diese Gefälligkeit gehabt.“
„Wie, ist unser Geheimniß verrathen?“
„Nein; aber jener Windheim verfolgt hartnäckig meine Frau mit Bewerbungen, die sie in die peinlichste Verlegenheit setzen. Der Mensch begeht Extravaganzen, die Albertinen compromittiren.“
In Louise’s lieblichem Gesichte sprach sich eine schmerzliche Bestürzung aus.
„Wo ist Albertine?“ fragte sie.
„Die arme Frau befindet sich in ihrem Zimmer – sie will abreisen!“ fügte er verlegen hinzu.
„Sie wird bleiben!“ rief Louise. „Sie wird bleiben, und ich übernehme die Lösung der Wirren, die nicht länger fortdauern dürfen. Und Sie, Herr Dewald, der Sie den tollen Plan angelegt, führen Sie mir so rasch als möglich Herrn Alexander zu – ich erwarte ihn in dem Salon. Albertine reiset nicht ohne mich! Also in dem Salon – dort irrt Herr Alexander durch die Gänge, suchen Sie ihn auf. Nur Muth, mein lieber Freund, ich gebe unsere Sache noch nicht auf!“
Louise verschwand. Nach fünf Minuten betrat sie das Zimmer, in welchem die weinende Albertine saß. Die Freundinnen schlossen sich einander in die Arme. Madame Dewald beklagte sich über den Consul, und Louise beklagte sich über Alexander.
„Ich habe ihn falsch beurtheilt,“ rief sie aus, „denn ich hielt seine Aufregung für einen neuen Beweis seiner Liebe zu mir. Aber nein, er suchte und fand einen Vorwand. Beruhige Dich, Albertine, ich räche die Beleidigung, die man Dir zugefügt. Der Onkel kann uns nicht entgehen,“ fügte sie flüsternd hinzu; „ich kenne ein Geheimniß, das ihn ganz in meine Macht gibt. Ah, dort kommt Herr Alexander über den Hof – ich habe ihm ein Rendezvous zugedacht, aber auch eine kleine Züchtigung! Muth! Wir sind uns ja nur eines kleinen Vergehens bewußt, das die Liebe entschuldigen mag.“
Sie schlüpfte in den Saal, der an das Zimmer grenzte. Fast in demselben Augenblicke trat Alexander durch die Hauptthür ein.
Louise grüßte durch eine graziöse Verneigung, ohne die geringste Befangenheit zu verrathen. Die innere Aufregung hatte in ihrem Gesichte eine leichte Röthe erzeugt, und ihr großes blaues Auge glänzte hell wie das einer Gazelle. Da sie den Shawl abgelegt, war ihr eleganter Wuchs vollkommen sichtbar. Sie trug ein einfaches Kleid von hellgrüner Seide, das ihren weißen Teint noch zarter machte.
Alexander grüßte zwar artig. aber eine ängstliche Ueberraschung war in seinen bleichen Zügen zu lesen. Bei dem Gedanken, daß diese Frau, die ihm jetzt reizender, als Albertine erschien, einem Andern gehörte, zitterten seine Lippen.
„Ah, Sie mein Herr!“ rief Louise, die sich vorgenommen hatte, ihn ein wenig zu peinigen, fast muthwillig. „Der Gegenstand Ihrer neuen Liebe promenirt im Garten, und Sie sind hier?“
„Ja, Madame, weil ich glaubte, die reizende Albertine hier anzutreffen!“ antwortete Alexander mit einer verzweiflungsvollen Festigkeit.
Louise kniff die Lippen zusammen; sie konnte die Worte nicht unterdrücken: „Demnach lieben Sie wohl meine Freundin – –“
„Wie nur ein Mann zu lieben vermag, Madame!“
Die Aufregung Louisen’s wuchs mit jedem Augenblicke.
„Und diese Liebe ist so rasch gekommen?“ fragte sie pikant.
„Trotzdem aber ist sie aufrichtig und wahr, Madame!“ antwortete Alexander, der die schöne Frau fast mit den Blicken verschlang.
„Wie man sagt, werden Sie sich verheirathen?“
„Ja!“
„Bald?“
„Nicht so rasch, als ich es wünsche.“
„Albertine ist so schön, daß sie dem Gatten das Glück gewähren wird, das Sie verdienen!“
„Ihre freundliche Gesinnung gegen mich, Madame, macht mich so kühn, eine Bitte an Sie zu richten.“
„O, bitten Sie, mein Herr! Doch beeilen Sie sich, mein Mann könnte uns überraschen, und da er mich leidenschaftlich liebt – Sie begreifen wohl –“
„Ich begreife vollkommen, Madame!“ rief Alexander mit bebender Stimme. „Sie kennen die Dame, die ich liebe?“
,Sie ist ja meine beste Freundin.“
„So wage ich an Sie die Bitte zu richten: sprechen Sie mit ihr über mich, sagen Sie ihr, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als sie glücklich zu machen.“
„Verlassen Sie sich darauf, mein Herr, ich werde nicht verfehlen!“ rief Louise.
„Und da Sie besser, als irgend Jemand, wissen, wie fähig mein Herz einer zärtlichen Neigung ist, werden Sie der Freundin sagen können, daß sie das Glück meines Lebens vergiftet, wenn sie mich früher oder später täuschen sollte.“
„Ja, mein Herr, ja!“ sagte Louise in einer schmerzlich zornigen Aufwallung, daß ihr fast die Thränen in die Augen traten. „Ich werde meiner Freundin alles dies wiederholen; werde ihr vor allen Dingen sagen, daß Sie die Treue selbst sind, und daß es Ihnen die größte Ueberwindung gekostet, Ihre ersten Bande zu zerreißen, um neue zu knüpfen.“
Alexander sah die erregte Dame mit starren Blicken an. Wie schön war Louise in dieser Aufwallung, die mehr durch Schmerz als durch Zorn hervorgebracht zu sein schien. Und diese Frau gehörte einem Andern an.
[597] „Madame,“ sagte Alexander ironisch, „es scheint, Sie sind von dem nicht überzeugt, was Sie für mich thun wollen.“
„O, Verzeihung, mein Herr, ich bin fest davon überzeugt! Wünschen Sie, daß ich noch etwas hinzufüge?“
Der junge Mann verneigte sich mit kalter Artigkeit.
„Nein, Madame; aber fügen Sie alles das hinzu, was Ihnen Ihre gute Meinung von mir eingibt.“
Dieser Hohn brachte Louisen außer sich.
„Wohlan denn, mein Herr,“ rief sie aus, „so werde ich hinzufügen, daß Sie der leichtsinnigste, der unbeständigste, der ungerechteste Mann von der Welt sind; daß Sie sich nicht scheuen, ein treues Herz zu zerreißen und mit feierlichen Eiden ein freches Spiel zu treiben!“
„Diesen Vorwurf, Madame, hatte ich wahrlich nicht erwartet!“ rief Alexander. „Wer, wenn nicht Sie, hat seinen Eid gebrochen?“
„Ich, mein Herr?“
„Ein Irrthum, so glaube ich, kann nicht möglich sein. Die Sache liegt ja klar am Tage!“
„Sie liegt nicht klar am Tage!“ rief Louise, sich vergessend.
„O, Madame, diese Behauptung ist sehr kühn! Als ich von meiner Reise zurückkehre, finde ich Sie verheirathet – und nun wagen Sie mir zu sagen, daß Sie nicht untreu sind?“
Diese Worte hatte Alexander stammelnd und mit Thränen in den Augen gesprochen. Louise war ihrer Bewegung nicht mehr Herrin.
„Ja, ja,“ rief sie ungeduldig, „ich wage diese Behauptung!“
„Madame, Sie vergessen, daß Sie die Gattin des Herrn Dewald sind.“
„Und wenn ich es nun nicht wäre?“
Bei diesem Gedanken schwanden dem armen Alexander fast die Sinne.
„Wenn Sie es nicht wären?“ wiederholte er bestürzt. „Mein Gott, wenn Sie es nicht wären! Doch nein, Sie wollen mich mystificiren, wollen noch einmal die Gewalt prüfen, die Sie über mein schwaches Herz ausüben!“ – Er trocknete den Schweiß von der Stirn, der in großen Tropfen herabrieselte.
Louise hatte Mitleiden mit dem Manne, den sie nie aufgehört [598] zu lieben. Außerdem wollte sie auch Alexander mit in den Bund gegen den Consul ziehen.
„Nun, mein Herr,“ flüsterte sie, „wenn ich Ihnen jetzt sage, daß Albertine die Gattin Dewald’s ist, daß ich nicht verheirathet bin, daß ich nur, um meinen Freunden das Vermögen zu erhalten, mich dazu verstanden habe, für einige Zeit die Nichte des Consuls zu spielen?“
„Großer Gott!“
„Ich sollte eigentlich ausgelassen, fröhlich erscheinen; aber Ihre Anwesenheit, Alexander, hat meinen Plan zerstört!“ fügte sie weinend hinzu.
Der junge Mann war seiner nicht mehr mächtig; überwältigt sank er vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen.
„Ach, Louise,“ rief er, „Sie sind ein Engel, den ich lieben, den ich anbeten muß! Was ich that, geschah aus Verzweiflung über Ihren Verlust! Mein Herz war zerrissen – ich haßte die Welt – und hier, in dieser Einsamkeit, wollte ich mein Leben vertrauern, wollte nie wieder eine Frau sehen!“
Louise athmete hoch auf.
„Alexander,“ rief sie, „Sie nehmen eine schwere Last von meinem Herzen!“
Dann neigte sie sich und drückte ihre Lippen in einem langen Kusse auf seine Stirn. Da ward rasch die Thür geöffnet und der Consul, der seine Nichte suchte, trat in den Saal.
„Element, was ist das?“ rief er mit seiner kräftigen Baßstimme.
Die Liebenden erschraken. Alexander sprang auf.
„Nicht übel, nicht übel!“ rief Leberecht. „Der Mann frevelt im Garten und die Frau hier im Saale! Großer Himmel, was sind das für Menschen? Was ist aus der Welt geworden? Und Sie, mein Herr Philosoph, der Sie angefüllt sind mit herrlichen Tendenzen, halten wohl eine moralische Vorlesung? Sie lieben wohl aus lauter Menschenhaß?“
„Onkel,“ rief Louise lachend, „die Sache ist so unbedeutend, daß sie kaum einer Erwähnung verdient.“
„Wie, Madame, ein Ehebruch wäre eine unbedeutende Sache!“ rief außer sich der Consul.
„Lieber Onkel,“ fuhr Louise muthwillig fort, „haben Sie denn noch nicht gesehen, daß ein Mann zu den Füßen einer schönen Frau liegt? Wundern Sie sich darüber?“
„Guter Gott, ist das eine Sprache! Madame, vergessen Sie denn, daß Sie verheirathet sind? Wenn ich nun meinem Neffen erzähle – –“
„So werden Sie ihm nichts Neues sagen!“ rief Louise lachend. „Freiheit, völlige Freiheit ist unsere Devise! Wilhelm genirt mich nicht, ich genire ihn nicht – auf diese Weise leben wir stets in Einigkeit.“
Der Consul schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.
„Welche Grundsätze,“ rief er, „welche Schamlosigkeit! Mir scheint, ich lerne hier eine moderne Ehe vom reinsten Wasser kennen! Mein Haus brennt in allen vier Ecken! Mein Gott, ist das eine Wirthschaft!“
Louise ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
„Bester Onkel,“ rief sie, „wollen Sie sich ärgern, um krank zu werden? Bedenken Sie Ihre schwache Gesundheit!“
„O, mein Kopf, mein armer Kopf! Diese freche Person, mit der ich es so gut meinte, lacht über mich!“
Alexander begriff die Absicht des jungen Mädchens; er glaubte sie unterstützen zu müssen.
„Herr Consul,“ rief er, „das ist wahrlich abscheulich!“
Louise warf ihm einen verachtenden Blick zu.
„Herr von Windheim, Sie wissen nicht, was Sie sagen! Und Sie, mein lieber Onkel, der Sie die Gebräuche der guten und feinen Gesellschaft nicht kennen, mögen sich beruhigen, denn es ist in Ihrer keuschen Solitüde durchaus Nichts vorgefallen, das Sie beunruhigen könnte. Bei meiner Ehre! Warten Sie nur, in kurzer Zeit sind wir die besten Freunde von der Welt. Adieu, Herr von Windheim! Wir sehen uns wieder! Lassen Sie nicht so lange auf sich warten!“
Louise schlupfte in das Nebenzimmer und schloß die Thür hinter sich.
„Ich ersticke! Ich ersticke!“ rief der Consul. „Wie habe ich mich in dieser Frau getäuscht! Wenn sie jetzt, nachdem sie kaum acht Tage verheirathet ist, solche Dinge treibt, was wird sie in einem Jahre beginnen?“
„Herr Consul, das ist in der That ein seltsames Betragen!“ sagte Alexander.
„Ah, da sind Sie ja mit Ihrem Menschenhasse, mein Herr! Ihre Manier zu hassen, gefällt mir!“
„Ich habe mich von dieser Sirene verführen lassen. Die größten Männer haben Augenblicke, in denen sie schwach sind – ich erröthe, daß ich nicht besser auf meiner Hut gewesen – aber ich schwöre Ihnen, mein Herr, daß ich für Ihre Nichte stets nur das Gefühl hegen werde, das die Ehre vorschreibt.“
„Herr, meine Nichte ist verheirathet!“ brüllte der Consul, roth vor Zorn.
„Um Ihnen zu beweisen, daß ich an Madame Dewald nicht mehr denke, werde ich ihre Freundin heirathen.“
„Wie, ihre Freundin? Albertine?“
„Die Freundin, die Ihre Nichte begleitet.“
„Herr, plagt Sie der Teufel? Kennen Sie auch die Person, die Sie ohne Weiteres heirathen wollen?“
„Ich glaube.“
„Sie glauben es und ich sage Ihnen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn Sie wissen, was ich weiß.“
„Mein Entschluß steht fest.“
„Ich dulde nicht, daß Sie von diesem Weibe betrogen werden. Aber wenn ich Ihnen nun sage, daß ich mit meinen eigenen Augen vorhin gesehen habe, wie –“
„Irrthum, Herr Consul!“
„Herr, meine Augen sind gut!“
„Sie sind von Vorurtheilen beseelt.“
„Sie müssen durchaus wissen –“
„Ich weiß Alles!“
„Himmel, wie starrköpfig! Glauben Sie mir, Sie werden der unglücklichste Ehemann.“
„Gleichviel, ich riskire es.“
„Gut, so heirathen Sie, aber entfernen Sie sich aus meinem Hause! Heirathen Sie die liebenswürdige Freundin meiner Nichte, aber treten Sie mir nicht wieder unter die Augen. Die Sitte, der Anstand schreibt mir diese Maßregel vor. Der Wagen ist angespannt, besteigen Sie ihn mit Ihrer Braut und lassen Sie sich trauen, wo Sie wollen. Mit meinem Herrn Neffen werde ich ein ernstes Wort reden.“
„Herr Consul,“ rief Alexander, „Sie sind ein so liebenswürdiger Mann, daß Sie sich mit der Welt wieder aussöhnen. O, wir sehen uns wieder, wir müssen uns wiedersehen!“
Er verließ hastig den Saal.
Der Consul trocknete den Schweiß von seiner Stirn.
„Ich fühle mich unwohl!“ murmelte er vor sich hin. „Diese übergroße Aufregung wird meiner schwachen Gesundheit den Rest geben. Alle diese Menschen sind entweder Narren oder grundschlecht. Und dieser leichtsinnige Edelmann! Fast möchte ich über ihn lachen, denn er liefert den Beweis, daß die Männer, die am lautesten über die Frauen schreien, sich am leichtesten von ihnen fangen lassen. So viel steht übrigens fest: die Menschen sind alle schlecht, alle, alle! Aber kann diese Wahrheit mich beruhigen? Kann sie mir den Schlaf, die Freudigkeit des Gemüths zurückgeben? Ah, daß ich Louise Bronner so leichtsinnig, so verderbt finden mußte!“
Der arme Mann sank erschöpft in einen Sessel; er faltete die Hände und schloß die Augen wie ein Mensch, der an heftigen Kopfschmerzen leidet. Nach einigen Minuten ward die Thür des Seitengemachs geöffnet. Louise trat leise in den Saal. Sie trug Hut und Shawl.
„Er schläft!“ flüsterte sie.
Dann schlich sie ihm leise näher und hing ihm eine schwarze Schnur um den Hals, an der ein kleines Portrait befestigt war.
Der Consul schlug die Augen auf. Louise wollte entfliehen.
„Wohin?“ fragte er, ihre Hand erfassend.
„Abreisen!“ sagte keck und kurz das junge Mädchen.
„Allein?“
„Ich hoffe, Begleitung zu finden.“
In diesem Augenblicke bemerkte der Consul das Portrait.
„Was ist das?“ fragte er.
„Es ist das theuerste Andenken an meine selige Mutter – ich lasse es Ihnen zurück, da ich weiß, daß die Verstorbene Ihnen [599] theuer ist. Betrachten Sie das Portrait – man möchte glauben, es sei das meinige.“
Unwillkürlich warf der Consul einen Blick auf das kleine Bild. Ein reizendes Mädchengesicht lächelte ihm entgegen. Sein Blick ward düster, seine Züge wurden ernst, dann wehmüthig.
„Madame,“ sagte er bewegt, „ich würde mich glücklich gepriesen haben, wenn Ihr Charakter dieser Dame gliche, wie Ihre Züge ihr gleichen! Ihre Mutter war eine brave Frau!“
„Ich weiß es, mein Herr; aber was habe ich gethan, daß Sie mich ihrer für unwürdig erklären?“
„Was Sie gethan haben? Madame, diese Frage beweist, daß Sie nicht um ein Haar besser sind, als mein sauberer Neffe. Gehen Sie – ich kann mich Ihrer nicht freuen, kann den Lieblingsplan nicht verwirklichen, den ich zur Ruhe meines Alters entworfen habe.“
„Ich verstehe Sie!“ flüsterte Louise bewegt, trotzdem sie sich Mühe gab, ihre Fassung zu bewahren.
„Weinen Sie nicht, Ihre Thränen können meine Meinung nicht ändern!“ rief der Consul. „Man kennt das – Thränen stehen den Frauen jederzeit zu Gebote!“
„Mein Herr, ehe ich mich entferne, muß ich Ihnen sagen, daß die Gattin Ihres Neffen stets würdig gewesen ist, Ihre Nichte und die Tochter meiner guten Mutter zu sein.“
„Lästern Sie nicht, Madame, lästern Sie nicht! Können Sie geschehene Dinge ungeschehen machen?“
„Ja, Herr Consul!“
„Wenn das wäre!“ murmelte Leberecht, schmerzlich lächelnd.
„Was würden Sie sagen, wenn Ihre Nichte stets eine gute, brave Frau gewesen?“
„Dann müßten Sie meine Nichte nicht sein!“ rief entrüstet der Consul.
„Und wenn ich es nicht wäre?“ fragte Louise unter Thränen, neu lächelnd.
„Wie! Sind Sie nicht Louise Bronner!“
„Aber auch nur Louise Bronner, nicht mehr! Wenn ich mich Ihnen als Ihre Nichte vorstellte, so geschah es, um meiner Freundin Albertine ein Vermögen zu retten, das ihr die Launen eines alten Griesgrams zu entreißen droheten. Da ich jetzt eingesehen, Herr Consul, daß ich Ihnen mißfalle, und daß Sie zur Ruhe Ihres Alters einer andern Nichte bedürfen, so trete ich mit der Versicherung zurück, daß ich zur Strafe für den Frevel, den ich ausgeübt, Herrn Alexander von Windheim heirathen werde. Und, mein Herr, wollen Sie das Andenken an meine Mutter ehren, die Sie einst liebten, so übertragen Sie Ihre väterliche Zärtlichkeit auf Albertine, die sich großmüthig meiner annahm, als ich durch den Tod meines Vaters eine Waise ward. Verdammen Sie mich, wenn ich mich der Freundin auf diese Weise dankbar zeigte? Hätte Alexander, dem ich schon vor drei Jahren meine Hand versprochen, unsern Plan nicht zerstört, Sie würden mich als eine abscheuliche Person kennen gelernt, enterbt und aus dem Hause gejagt haben. Aber ich muß früher meine Rolle beenden, um die Ehre meiner Freundin zu retten, die Sie in den Armen ihres Mannes überrascht haben.“
Der Consul war keines Wortes mächtig, ihm rannen die Thränen über die braunrothen Wangen. Jetzt ward ihm Alles klar. Schweigend küßte er die Stirn des jungen Mädchens, das wie er weinte.
„So darf man doch an die Freundschaft der Menschen glauben?“ rief er endlich aus.
„Bei dem Andenken an meine Mutter, die auf uns herabsieht, ich habe Sie aus Freundschaft getäuscht! Und nun eilen Sie, und nehmen Sie die Beleidigungen zurück, die Sie Ihrer wahren Nichte zugefügt haben.“
Louise zog ihn in das Zimmer, in dem sich Albertine befand. Die junge Frau, die an der Thür gelauscht hatte, eilte ihm entgegen – er schloß sie in seine Arme. Wilhelm überraschte den Oheim in dieser Versöhnungsscene. Man ließ den Alten nicht zu Worte kommen, und überhäufte ihn von allen Seiten mit Zärtlichkeiten. Auch Alexander erschien, um die Gruppe vollständig zu machen.
Am nächsten Morgen war Leberecht Dewald ungewöhnlich angegriffen; er kam zeitig aus seinem Zimmer und fragte nach Louisen, die bereits ihre Toilette beendet hatte.
„Sie begleiten mich, Louise!“
„Wohin?“
„Zu dem Pfarrer in R.“
„Allein?“
„Ich bitte Sie darum.“
Eine halbe Stunde später hielt der Wagen vor dem Pfarrhause. Als der Consul mit seiner Begleiterin die Hausflur betrat, stand der greise Pastor neben dem mit Blumen geschmückten Sarge seiner alten Haushälterin. Louise wich betroffen zurück. Der Consul führte sie näher und flüsterte: „Betrachten Sie die Züge dieser alten Frau, mein Kind, und prägen Sie sie Ihrem Gedächtnisse tief ein; sie steht Ihnen näher, als Sie glauben.“
Dann zog er den Pfarrer bei Seite, und fragte leise: „Hieß die Verstorbene nicht Helene Selmar?“
„Ja, Herr Consul; aber wie können Sie wissen –?“
„Still, mein alter Freund, ich werde Ihnen bald noch mehr Aufschlüsse geben. Sehen Sie die junge Dame dort? Sie ist die Enkelin der Verstorbenen. Glauben Sie es nur,“ fügte der Consul wehmüthig ernst hinzu, „ich theile Ihnen die Wahrheit mit.“
Zitternd trat er zu dem Sarge zurück, entblößte sein Haupt, und betete leise vor sich hin. Der Pfarrer und Louise betrachteten erstaunt den seltsamen Alten, dem die hellen Thränen über die vollen Backen rannen.
„Louise,“ flüsterte er dann, „beten Sie mit mir für Ihre Großmutter!“
„Herr Consul, meine Mutter hat ihre Mutter nie gekannt!“
„Aber ich kenne sie! Und darum soll sie das Bild ihrer Tochter mit sich in das Grab nehmen!“
Er legte das Portrait in die Hand der todten Frau. Acht Landleute traten schweigend ein. Man schloß den Sarg. Der Pfarrer erschien in feinem Ornate. Bei dem Läuten der Dorfglocke trug man den Sarg hinaus auf den Friedhof.
„Suchen Sie Ihre Pensionirung nach,“ sagte der Consul beim Abschiede zu dem Pfarrer; „es ist Zeit, daß Sie zur Ruhe kommen. Sie werden mit mir mein Landhaus bewohnen!“
Die letzte Amtsverrichtung des alten Pastors war die Trauung Louisen’s mit Alexander von Windheim in der kleinen Dorfkirche. Gleich nach der Ceremonie fuhr man nach der Solitüde zurück. Hier kündigte der Consul den beiden Frauen an, daß sie zu gleichen Theilen sein Vermögen erben würden, und händigte ihnen die Documente darüber aus. Alexander von Windheim protestirte dagegen, indem er sich für reich genug erklärte, um seiner Frau ein glückliches Loos bereiten zu können – aber Leberecht blieb unerschütterlich, man mußte sich seinem Willen fügen. Zwei Tage später reisten die beiden glücklichen Ehepaare, von dem Segen und den Capitalien des reichen Onkels begleitet, nach Bremen zurück.
„Herr Pastor,“ sagte der Consul, als er mit dem neuen Hausgenossen in seinem Zimmer allein war, „ich habe gethan, was mir in diesem Leben zu thun möglich war. Das Vermögen, das mir der Schiffsmakler hinterlassen, hat sich zwar in meinem Besitze verdoppelt, aber es brannte in den letzten Jahren wie Feuer auf meiner Seele, denn ich wußte, daß er es dem Auswanderer genommen hatte, der, während er auf seine Frau wartete, in Bremen starb. Ich wollte die Tochter des Auswanderers heirathen, um sie des ihr gebührenden Vermögens theilhaftig zu machen; aber sie liebte meinen Freund Bronner, und wies mich zurück. Voll Groll wandte ich mich ab, und behielt mein Vermögen. Bronner und seine Frau starben; da erfaßte mich Reue über meine Hartherzigkeit – und so habe ich an der Tochter gut gemacht, was ich an der Mutter verschuldet. Mir ist jetzt leichter um’s Herz, und ich hoffe zu Gott, daß er mir ein ruhiges Alter schenken wird. Ja, ja,“ murmelte er, „es ist doch ein eigenes Ding mit dem Gewissen. Wehe dem, der sein Erwachen zu fürchten hat!“
Außer dem Pastor hat Niemand das Geheimniß des Consuls erfahren, der seit dieser Zeit ruhig in seiner Solitüde lebt. Wenn er wüßte, daß Louise ihr Erbschaftsdocument Albertinen’s Knaben geschenkt, dem sie Pathe war, er würde gewiß nicht so heiter ausgerufen haben: „Gott sei Dank, daß ich Großonkel bin!“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Und