Orthopädische Mittheilungen 3.

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Autor: Paul Niemeyer
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Titel: Orthopädische Mittheilungen 3.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 282–283
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[282]
Orthopädische Mittheilungen.
Von Dr. Paul Niemeyer in Magdeburg.
(Dritter Artikel.)

In unserem letzten Artikel (Gartenl. d. J. Nr. 6) bezeichneten wir den Bestand orthopädischer Institute nur insofern als zweckmäßig, als darin die Aufgabe verfolgt werde, die Skoliotischen – wie wir die mit seitlicher Rückgratverkrümmung (hoher Schulter) Behafteten jetzt der Kürze wegen nennen dürfen – unter beständiger ärztlicher Ueberwachung zu halten; es ist eine solche Cur gleichbedeutend mit orthopädischer Erziehung und deren Plan nach unseren früheren Ausführungen leicht zu entwerfen (s. Gartenlaube 1858 Nr. 26).

Nicht alle orthopädischen Anstalten entsprechen diesem Programme; vielmehr würde eine Kritik von unserem Standpunkte aus zu höchst unerquicklichen Resultaten führen; schon längst hat eine wissenschaftliche Commission solche Institute als rein industrielle Unternehmungen gebrandmarkt, ein Prädicat, welches auch jetzt noch für den bei weitem größten Theil bezeichnend ist, und in der That sind die Mehrzahl der soi-disants-Orthopäden bloße Parvenu’s, denen die Medicin und vollends die Orthopädie von Haus aus völlig fremd ist. Die ersten Institute zu Paris entstanden folgendermaßen: ein gewisser Milli, ein vagirendes Subject, bezog wegen seines Buckels die damals berühmte Anstalt zu Würzburg, wußte sich dort heimlich in den Besitz eines Streckbett-Modells zu setzen, eilte damit nach Paris und gründete hier sofort eine orthopädische Anstalt; obgleich selbst noch total schief, verkündete er in kühnen Reklamen jedem Buckligen baldige Heilung und fand großen Zulauf; ein Streckbett aus Milli’s Anstalt ging durch Entwendung in ein Erziehungs-Institut für junge Mädchen über, und alsbald taufte die Vorsteherin ihre Anstalt in eine orthopädische um, indem sie mit dieser Schablone curirte, was schief und bucklig war; ihrem Beispiele folgten bald andere Pensionate, und auch bei uns gingen in ähnlicher Weise aus Erziehungsanstalten plötzlich orthopädische hervor; ferner waren es frühere Messerschmiede, Bandagisten, Handschuhmacher, Riemergesellen, Barbiere etc., welche unter der Firma „orthopädisches Institut“ und dem imponirenden Titel „Director“ Geschäfte zu machen unternahmen.

Der Staat, der sonst zum Wohle seiner Unterthanen die Ausübung ärztlicher Künste an rigoröse Prüfungsbedingungen knüpft, duldet noch immer die Usurpation dieses Heilzweiges von Seiten gänzlich unberufener und rein auf Geldspeculation ausgehender Individuen; und doch ist gerade hier der Schaden beträchtlicher, als bei anderen Pfuschcuren; handelt es sich doch nicht blos um eine versuchsweise unternommene körperliche Cur, sondern auch um das innere Wohl eines Menschenkindes, welches einen ganzen Lebensabschnitt zu opfern bestimmt wird: fern vom Elternhause, bringt das arme Geschöpf freudenlos ein Paar seiner Blüthejahre dahin, wenn nicht die baldige Einsicht von der gänzlichen Erfolglosigkeit der Cur und die Scheu vor den immer steigenden Geldopfern schon vor der Zeit Erlösung bringt.

Betrachten wir die einzelnen Behandlungsweisen, wie sie in den Anstalten üblich sind, näher, so müssen wir die eine Art derselben geradezu als eine Mißhandlung bezeichnen. Die Folter, deren sich die Justiz humaner Weise entschlagen hat, sie hat mitten in den Centralstätten der Civilisation eine Zuflucht gefunden, in sogenannten Heilanstalten (maisons de santé)! Wir schaudern, wenn wir von den lebensgefährlichen Proceduren lesen, welche vom Orthopäden Rhauchin zu Montpellier an dem schiefen Fräulein von Montmorency vorgenommen wurden: das Mädchen wurde zwischen den Hölzern einer Waschpresse förmlich gepreßt, um die ausgetretenen Wirbel wieder einzurichten; als dies nichts fruchtete, ließ man eine mächtige Wagenwinde auf die Krümmungen einwirken; das Fräulein wurde von zwei starken Männern an den Schultern festgehalten und die Winde nun so lange gegen das Rückgrat hereingeschraubt, bis die Gequälte laut aufschrie. So roh verfuhr man vor bereits einigen Decennien, aber wir sind auch heutzutage noch nicht viel weiter! Waschpresse und Wagenwinde gelten zwar für barbarische Instrumente, aber sind im Grunde jene eleganten Streckbetten, jene zierlichen Maschinen, wie sie in den modernen Cursälen paradiren, etwas Besseres, Humaneres? – durchaus nicht! es sind nach wie vor wahre Prokrustes-Vorrichtungen, mit welchen der menschliche Körper, wie eine mechanische Drahtpuppe, von dem cidevant-Bandagisten maltraitirt wird. Wir berufen uns hier auf das Zeugniß aller jener Familien, welche das Unglück hatten, die Bekanntschaft dieser kostspieligen Apparate zu machen.

Ein ähnliches Unwesen wird in der Häuslichkeit mit den Schnürleibern getrieben. Gegen den Gebrauch derselben und über ihre schädlichen Folgen bei Gesunden haben sich längst gewichtige Autoritäten vernehmen lassen. Die bei schiefen Mädchen gangbaren Corsets verschlimmern geradezu den Zustand, den sie verbessern sollen. Auf den ersten Anblick haben sie etwas ungemein Bestechendes: sie pressen den Brustkorb in die Länge, heben die Schultern gleich hoch und lassen so die Körperhaltung gerader erscheinen; darüber beachtet man aber nicht, wie nach jedesmaliger Abnahme des Corsets der Oberleib immer mehr zusammenknickt, wie das Kind immer mehr die Fähigkeit verliert, sich selbständig gerade gerichtet zu halten; die Haut des Rückens erscheint wie geplättet, die normalen Muskelcontouren sind nicht wahrnehmbar, die Muskeln selbst durch den beständigen Druck abgezehrt und gelähmt; die Rückgratkrümmung hat trotz des Corsets bedeutende Fortschritte gemacht!

Um auf die Streckmaschinen zurückzukommen, so lastet auf ihnen, ganz abgesehen von ihrer mechanischen Einwirkung, der schwere Vorwurf, daß sie den Körper zu einer höchst nachtheiligen Unthätigkeit verdammen. In manchen Instituten bildet ein mehrmonatliches, streng durchgeführtes Verharren in der Horizontallage die bloße Vorbereitung zu der eigentlichen Cur, und namentlich in England, in den sogenannten nurseries, ist das planum inclinatum, d. h. ein hölzernes geneigtes Bret als ausschließliches Ruhelager eine sehr verbreitete orthopädische Maßregel. Da sie von dort her sogar in deutsche Familien Eingang gefunden hat, so machen wir hier auf die positive Schädlichkeit derselben besonders aufmerksam; sie gründet sich auf die Absicht, die vermeintlich zusammengezogenen Rückenmuskeln zu erschlaffen; es wird aber dadurch noch vielmehr der ganze Körper auf einen bedenklichen Grad von Schwäche und Abmagerung zurückgeführt, welches eine aufrechte Körperhaltung geradezu unmöglich macht. Eine unschuldige Modification dieser Methode bildet die vom Hausarzte zuweilen ertheilte Anweisung, das skoliotische Kind täglich eine Zeit lang auf dem harten Fußboden liegen zu lassen, womit natürlich nichts weiter erreicht wird, als etwa die Beruhigung, sagen zu können, daß mit dem schiefen Kinde etwas geschehe.

Im Gegensatz zu jenen Curen, wo der Körper zur Unthätigkeit verdammt und in seiner Entwickelung gehemmt wird, gewährt [283] die Kategorie der sogenannten gymnastischen Anstalten einen wohlthuenden Anblick; hier wird für beständige Leibesübung gesorgt; die Kinder, dort bleich und hager, sehen hier blühend und wohlgenährt aus; am auffallendsten ist dieser Contrast, wenn ein Curgast nach längerem Aufenthalte in einer Streckanstalt zu einer gymnastischen übergeht; er erholt sich zusehends und scheint endlich die Hoffnung auf Heilung zu gewähren; es gehen einige Monate hin, täglich werden mit größtem Ernste die „Hackungen, Walkungen, Knetungen“, die activen und passiven Bewegungen nach einem von der Hand des Meisters redigirten Recepte vorgenommen; trotzdem wankt und weicht die eigentliche Krümmung nicht, ja es gewinnt schließlich den Anschein, als ob sie sich sogar verschlimmere – und es ist dies wohl begreiflich: eine solche gymnastische Uebung ist recht gesund und förderlich für Gerade und solche, die es bleiben wollen, aber nicht für Schiefe, die gerade werden wollen; mit anderen Worten, wir schätzen sie sehr hoch als Verhütungsmittel gegen eine Mißgestaltung des Körpers, aber der bereits bestehenden Rückgratverkrümmung gegenüber müssen wir sie als eine bloße Spielerei bezeichnen; manchem Skoliotischen schadet sie nichts, vielen aber schadet sie effectiv durch Anstrengung und Erschlaffung der Muskeln. Aufrichtige Orthopäden haben die Nutzlosigkeit der Gymnastik auf dem vorliegenden Felde längst eingestanden. Der berühmte Dupuytren ließ seine schiefen Patienten in dem Institute des Orthopäden Duval mit Gymnastik behandeln und gab bald seine Freude über den sichtlichen Erfolg – nämlich über das bessere Aussehen und die Munterkeit der Kinder – zu erkennen; dem entgegen erklärte ihm aber Dr. Duval, daß seit Einführung der Gymnastik in der Rückgratverkrümmung selbst offenbare Rückschritte gemacht würden.

Diese unsere – noch sehr gelinde gehaltenen – Ausführungen wird mancher Parteigänger durch einen Blick in den Jahresbericht irgend welchen orthopädischen Instituts für sofort widerlegbar erklären; er wird uns z. B. daraus nachweisen, daß durch Maschinenbehandlung sämmtliche aufgenommenen Skoliotischen gänzlich hergestellt oder erheblich gebessert seien, während allerdings die gymnastische Cur als höchst müßig auch in diesem Berichte dargestellt werde; dagegen wird uns ein Anderer mit Heilberichten aufwarten, welche die Maschinenbehandlung in Grund und Boden verdammen, und nur die Heilgymnastik als unfehlbar darstellen – in diesen Berichten ist also angeblich auf ganz entgegengesetztem Wege ein und dasselbe Ziel erreicht worden!

Es ist in der That unglaublich, welch crasser Schwindel gerade auf orthopädischem Gebiete getrieben wird; nicht nur Laien, auch Aerzte und sogar medicinische Körperschaften haben sich täuschen lasten; so producirte z. B. ein Bandagist der Pariser Akademie eine neue Maschine, mit welcher er Angesichts einer Commission, Heilungen ausführen wolle; diese Heilungen wurden denn auch nach etlichen Monaten officiell constatirt. Bald darauf wies aber der Orthopäde Guerin nach, daß diese angeblich Geheilten nie schief gewesen seien, sondern nur eine Skoliose geheuchelt hätten; dieser selbe Guerin aber entblödete sich späterhin nicht, die medicinische Welt mit seiner Rückenmuskel-Durchschneidung auf das Großartigste zu dupiren, indem er sich kraft dieser Entdeckung als den Columbus der Orthopädie ausrufen ließ, und bald darauf wies der treffliche Malgaigne an den von Guerin selbst als geheilt ausgegebenen Fällen die gänzliche Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit dieser Methode nach.

Von solchen Thatsachen wimmeln die Annalen der Orthopädie; mögen die hier gegebenen Skizzen dazu beitragen, bei der Wahl eines orthopädischen Mittels, eines orthopädischen Arztes oder Institutes mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen! mögen sie aber vor Allem dazu beitragen, die Chancen einer orthopädischen Cur überhaupt fern zu halten durch eine auf Körper und Geist gleichmäßig vertheilte Erziehung!