Pariser Bilder und Geschichten/Pariser Bilder und Geschichten (Kolisch, 1)
[47] Pariser Bilder und Geschichten. I. Es war im Monat September des Jahres 1848, als ein gewöhnlicher Miethwagen vor dem Hôtel du Rhin, place Vendome hielt. Aus demselben stieg ein Mann von blassem Angesicht, der die Vierzig überschritten haben mochte und der sich von dem Havre-Bahnhofe nach dem gedachten Hôtel hatte bringen lassen. Sein Anzug war in gutem Stand, wenn auch nicht elegant, und sein Gepäck bestand aus zwei Nachtsäcken von nicht allzu großem Umfang. Er verlangte von dem dienstthuenden Kellner „eine“ Stube. Dieser, ein Deutscher, Namens Georg, wies dem Gaste ein Gemach im fünften Stockwerk an, weil entweder die anderen Zimmer alle besetzt waren oder weil er den Preis der Wohnung mit den Mitteln des Ankömmlings in Einklang zu bringen suchte, wie sie sich aus dem ganzen Auftreten desselben ungefähr ergaben.
Wenn die römische Bestimmung, daß schweigen soviel wie einwilligen bedeutet, als eine gültige anzunehmen ist, dann war der Fremde mit der [48] Art und Weise, wie er in dem Hotel untergebracht wurde, vollkommen einverstanden, denn ohne ein Wort zu sagen, nahm er von der hochgelegenen, ohne allen Prunk eingerichteten Stube Besitz. –
Um jene Zeit war Frankreich, wie bekannt, eine Republik, und freie Staaten verschmähen es, sich mit polizeilichem Mißtrauen an jeden Einzelnen auf ihren Gebieten heranzudrängen und ihn von innen und außen wie eine Waare zu untersuchen, ihn zu numeriren und einzuregistriren. Niemand frug den Fremden nach seinem Passe, auch wurde er von dem Wirth nicht veranlaßt, von seinem Thun und Treiben, von seiner Vergangenheit und Zukunft schriftlich Rechenschaft zu geben. Doch nannte er seinen Namen: Jackson, damit ihm Briefe oder Besuche, die er etwa erhalten möchte, richtig zugewiesen würden.
Mehrere Tage hindurch hatte es jedoch den Anschein, als ob die Vorsicht des Gastes, sich zu nennen, ganz überflüssig gewesen wäre, als bestände gar kein Zusammenhang zwischen ihm und der Welt. Herr Jackson erhielt weder Briefe noch Besuche und rührte sich gar nicht aus dem Hause. Der Kellner Georg, der ihn bediente, war seine einzige Gesellschaft, mit diesem unterhielt er sich in sanfter, freundlicher Weise über die Vorkommnisse des Tages, über die alltäglichen Lebensangelegenheiten, über die Verhältnisse des Berufes u. s. w., und als er an der Aussprache des Aufwärters erkannte, daß derselbe ein Deutscher sei, sprach er mit ihm deutsch, erzählte ihm, daß er sich längere Zeit in deutschen Städten aufgehalten und die deutsche Nation achten und lieben gelernt habe. Ich zweifle sehr, daß der Kellner Georg großes Gewicht auf die für seine Nation schmeichelhafte Versicherung des Fremden im fünften Stock gelegt habe; aber wohl muß sie ihm doch gethan haben; denn nach meinen eigenen Empfindungen zu schließen, thut es einem immer wohl, im Auslande von der Nation, welcher man angehört, mit Liebe und Achtung sprechen zu hören, besonders wenn dies einem so selten wie uns Deutschen zukommt, die wir überall sechsunddreißigfach verspottet werden.
Der Fremde brachte die Tage mit Rauchen, Lesen und Schreiben hin, er hatte Bücher mitgebracht und ließ sich die politischen Tagesblätter aller Farben kaufen. Er aß allein auf seiner Stube. Bezüglich der Speisen äußerte er kaum einen Wunsch, er begnügte sich mit wenigen und einfachen Schüsseln, doch verlangte er vom besten Bordeaux, dessen Wahl er dem Kellner ohne Rücksicht auf den hohen Preis wiederholt und mit dem größten Nachdruck empfahl. Oefters fand Georg den Fremden am Fenster in tiefes Sinnen versunken, wo derselbe, nachdem er den Vorhang bei Seite geschoben, die Vendomesäule mit dem Kaiser Napoleon auf dem Gipfel und mit Basreliefs geschmückt, welche dessen Kriegsthaten darstellen, unablässig anstarrte. „Der kann sich an dem Denkmal ja gar nicht satt sehen,“ sagte Georg zu sich selbst. „Ich finde es wohl schön, es fällt mir aber doch nicht ein, es stundenlang und Tag für Tag zu betrachten.“
„Was giebt es heute Neues?“ frug der Fremde eines Morgens den Kellner, der ihm das Frühstück brachte.
„Nichts von Bedeutung,“ erwiderte dieser. „Man sagt, daß der Prinz Ludwig Napoleon nach Frankreich gekommen und verhaftet worden sei.“
„So!“ versetzte Herr Jackson gelassen, als er diese Neuigkeit vernahm, und als der Kellner sich aus dem Gemach zurückzog, fiel sein Blick im Vorbeigehen auf einen Spiegel, und er konnte bemerken, daß der Fremde lächelte. Georg verstand aber den Sinn dieses Lächelns nicht und gab sich auch keine Muhe, sich denselben zu erklären. Seinem Berufe mit Ernst und Eifer obliegend, hatte Georg dieses räthselhafte Lächeln schon vergessen, als ihm dasselbe durch Vorgänge in’s Gedächtniß zurückgerufen wurde.
Und als ein ander Mal der Gast den Kellner nach den Tagesneuigkeiten frug, erzählte dieser, daß im Théatre Français eine außerordentliche Vorstellung zum Vortheil der Armen stattfinde und daß die Rachel bei dieser Gelegenheit wieder einmal die Marseillaise vortragen werde, mit der die Künstlerin alle Welt, Reich und Arm, Vornehm und Gering, Fremde und Einheimische kurz nach der Februarrevolution in’s Theater gezogen, zum Staunen und zur Bewunderung hingerissen hatte. „Trotz der schweren Zeiten“, fügte der Kellner hinzu, „werden die Billets um unglaublich hohe Preise verkauft. Ein Engländer, der bei uns eine Treppe hoch wohnt, hat sich einen Lehnstuhl im Orchester für 60 Franken erkauft. Ja, wenn man reich ist, kann man sich dergleichen Verschwendungen erlauben. Möchten Sie wohl, Herr Jackson, wenn es Ihre Mittel erlaubten, ein Vergnügen so theuer bezahlen?“
„Vielleicht!“ sagte der Fremde lächelnd und brach das Gespräch ab, indem er das Buch aufnahm, das er bei Seite gelegt hatte, als der Kellner eingetreten war.
Kaum vierzehn Tage waren seit der Ankunft des Fremden verflossen, als man im Hôtel du Rhin, als besonders Georg gewahr wurde, daß der Gast im fünften Stock doch nicht so abgesondert von der Welt lebe, als man anfangs glauben mochte, als es in der That den Anschein hatte. – Jeden Tag erhielt er Besuche, meist von Männern mit grauem Haare, von denen mehrere mit Orden geschmückt waren und einige durch eine militairische Haltung sich auszeichneten. Dem Kellner, welcher immer Einlaß in die Stube des Fremden und öfters, wenn Besuche da waren, Cigarren oder Erfrischungen zu bringen hatte, entging es nicht, daß die Herren alle, die mit Orden und in militairischer Haltung, wie die anderen, sich gegen Herrn Jackson ausnehmend rücksichtsvoll, ja ehrerbietig benahmen, daß sie oft lange blieben, ernst drein sahen und leise sprachen. –
„Ich habe für heute neun oder zehn Personen zu Tische geladen,“ sagte eines Morgens der Fremde zum Kellner, „haben Sie die Güte, mir einen geräumigen, wohleingerichteten Salon in einem minder hohen Geschosse zur Verfügung zu stellen, wo ich meine Gäste würdig empfangen und bewirthen kann. Ich empfehle Ihnen besonders die Auswahl der Weine, mit welchen Sie uns aufwarten werden.“ Georg war bedacht, den Wünschen des Fremden auf’s Beste nachzukommen. Um die festgesetzte Stunde wurde in einem weiten Saale von elegantem Aussehen der Gesellschaft, welche aus zehn Personen bestand, ein köstliches Mahl aufgetischt, dessen sich das Vaterland des großen Vatel nicht zu schämen brauchte; doch waren sie nicht heiter, die Tischgenossen, die Georg mit der Sorgfalt und dem Eifer eines Kellners von wahrem Beruf bediente. Schüchtern, fast zaghaft schlichen die Worte von den Lippen, als hätten sie gefürchtet, einen Schlafenden zu wecken oder ein empfindliches Ohr zu belästigen. Selbst den lustigen Geistern des Weins, die den Trübsinn hassen und verfolgen, widerstand die ernste Stimmung der Zecher; kein Ausruf der Freude, kein Lachen, kein Klirren der Gläser erscholl. Hie und da neigte sich Einer zum Ohr des Ändern und flüsterte ihm heimlich einen Trinkspruch zu, indem er kaum vernehmbar mit ihm anstieß. Der Wirth war wo möglich düsterer und schweigsamer als die Gäste.
Nachdem die Tafel aufgehoben war und die Geladenen sich entfernt hatten, sprach der Gast zum Kellner: „Georg, ich wünsche nun eine große Wohnung aus mehreren Zimmern bestehend. Morgen werden meine Diener und mein Gepäck anlangen, die untergebracht werden müssen. Noch zeige ich Ihnen an, daß es mir gilt, wenn nach dem Prinzen Ludwig Napoleon gefragt wird.“ Georg war sprachlos vor Ueberraschung, er starrte mit offenem Mund den Fremden an, welcher wiederum lächelte.
„Gehen Sie,“ ermahnte der Prinz, „um meine Wohnung zurecht zu machen, denn ich schlafe heute nicht mehr in der Stube des fünften Stockes.“ Georg ging nicht, sondern lief so schnell er konnte, um die ihm gemachte Enthüllung und den erhaltenen Auftrag dem Hotel-Inhaber mitzutheilen, dessen Erstaunen sich in in allerlei Ausrufen Luft machte und sich durch diese geräuschvolle Kundgebung von der starren Ueberraschung des Kellners unterschied.
Nachdem Herr und Diener darüber Rath gepflogen hatten, welcher Theil des Hotels zur Aufnahme des Prinzen am geeignetsten wäre, wurden die nöthigen Vorkehrungen getroffen, wurde dem vornehmen Gast die erwünschte Wohnung, aus kleineren und größeren Gemächern bestehend, zugewiesen, und das leichte Gepäck aus dem fünften in den zweiten Stock geschafft. Den nächsten Tag langten zwei Diener, ein Franzose und ein Schweizer, mit großen und vielen Koffern an, die allerdings besser zu dem Stand des Eigentümers paßten als die zwei magern Reisetaschen.
Von da ab wurde es lebendig um den Prinzen her, der zum dritten Male und nun unter günstigeren Verhältnissen nach Frankreich gekommen war, um eine Kaiserkrone zu gewinnen. Die ergrauten Diener, Feldhauptleute und Anbeter des Eroberers, der auf St. Helena endete, kamen herbei, um dem ruhmvollen Namen, an welchen sie ihr Glück und ihr Leben gekettet hatten, einen Vertreter, der Legende vom französischen Kaiserreich und vom 18. Brumaire eine Fortsetzung verschaffen zu helfen. Es war dies ein kleines Häuflein von Ueberzeugten und Getreuen, unbekümmert um den Ausgang des gewagten Unternehmens, bereit zu jeder That, zu jedem Opfer im Interesse ihres Gedankens und ihres heißen Wunsches, rührig, entschlossen, unerschütterlich. Unter diesen voran standen die Herren Vieillard, Persigny, Vaudrey, letzterer der Kühnste, der Eifrigste von Allen. Dann kamen die politischen Speculanten und Apostaten, welche erlauscht hatten, daß die Bauern und öfters sogar die Arbeiter sich irrten und statt: „es lebe die Republik“, „es lebe Napoleon“ riefen, wie es ihnen Beranger und die andern Liberalen unter der Restauration vorgesungen und vordeklamirt hatten. Einige von denen, welche sich die Republik als einen Räuberhauptmann vorstellten und für ihre Geldsäcke zitterten, drängten sich in das Hôtel du Rhin, um sich da ihr Vermögen versichern zu lassen. Am meisten waren unter dem Schwarm, der den Bewerber um eine Kaiserkrone umflatterte, die politischen Abenteuerer und Glückssucher vertreten, welche auf jede Karte setzen, weil sie keine Ueberzeugung und keinen Sou zu verlieren haben. Endlich sah man einige Männer von Bedeutung und Einfluß, die der Prinz zu sich beschieden hatte, um sie zu gewinnen, und die aus Höflichkeit der Einladung nachkamen. Zu diesen sind die Herren Thiers, Proudhon und Emil Girardin zu zählen.
In den Gemächern des Prinzen herrschte eine Regsamkeit und eine Thätigkeit, wie sie in keinem Ministerium anzutreffen sind. Tag und Nacht wurde da geschrieben und gesprochen, verkehrt und unterhandelt. Tag und Nacht wimmelte es da von Agenten, von Boten, von Vertrauten, welche kamen und gingen, Nachrichten brachten und Aufträge davon trugen. Nach allen Richtungen von Frankreich wurden Briefe gesendet, Einflüsse in den Städten und auf dem Lande wurden gewonnen und angezogen, Journale und die December-Gesellschaft mit ihren Verzweigungen wurden gegründet. Alles was den Bonapartismus fördern und verherrlichen konnte, sei es nun Bild oder Schrift, Gedanke oder Klang, wurde in Umlauf gesetzt, und so baute man die Brücke, welche den Kronenwerber zunächst vom Place Vendôme in die Rue du Faubourg St. Honoré, d. h. aus dem Hôtel du Rhin in das Elysée, aus dem Privatleben zu der Präsidentschaft der französischen Republik führte.
Als der Präsident Ludwig Napoleon im December das Hôtel du Rhin verließ, trug er dem deutschen Kellner Georg eine Anstellung in seinem Hause an. Georg hielt es jedoch für gerathen, das Anerbieten zurückzuweisen, vielleicht weil er kein Vertrauen zu dem napoleonischen Stern hegte. Georg ist übrigens seither Eigenthümer eines einträglichen Gasthofes in Paris geworden und kann sich leicht über seinen astrologischen Irrthum trösten.