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Pariser Bilder und Geschichten/Seltsamer Beruf

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Seltsamer Beruf
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 93–96
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Pariser Bilder und Geschichten
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Pariser Bilder und Geschichten.
Seltsamer Beruf.


Vor einigen Jahren überfiel mich im Odeontheater plötzlich heftiges Unwohlsein, ich mußte nach Hause fahren. Die drei Treppen zu meinem Zimmer schienen mir fast unersteiglich; ich legte mich, kaum oben angekommen, in mein Bett und versank in jenen unbehaglichen Zustand, welcher in der Regel der Vorbote nervöser Fieber ist. Halb träumend mochte ich mehrere Stunden allein gewesen sein, als ich eine sehr angenehme Männerstimme sagen hörte: „Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich werde Ihnen einen Arzt holen.“

Der liebenswürdige deutsche Arzt, Dr. Otterburg, kam; nach einigen Wochen war ich wieder völlig hergestellt. Als ich im Hause nach dem Herrn fragte, der mir hülfreich erschienen war, erfuhr ich, daß derselbe den Namen Albanus führe, nur zwei Monate mein Hausgenosse gewesen sei und daß man seine jetzige Wohnung nicht wisse. Herr Albanus hätte, als mein Zimmernachbar, mich seufzen gehört, daraus geschlossen, daß ich sehr krank sei, und den Arzt gerufen. Da ich mich in sicheren Häusern des Nachts niemals einschließe, hatte er ohne Mühe zu mir kommen können.

Gern hätte ich dem Herrn für seine Güte gedankt, allein, so oft ich ausging und mich nach ihm umsah, niemals begegnete er mir. Wie krank ich mich auch gefühlt hatte, Albanus’ Erscheinung hatte mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, und seiner hohen Gestalt, seiner schönen Stimme, sowie seiner großen, stahlgrauen Augen erinnerte ich mich sehr wohl.

Einmal, als ich dem Bau des Ausstellungsgebäudes zuschaute, fiel mir ein Blousenmann auf, welcher dem vorüberreitenden Kaiser ein „Vive l’Empereur!“ zurief, in das alle Arbeiter einstimmten. Gestalt und Augen erinnerten mich an Albanus, doch unmöglich konnten sich die Verhältnisse des Mannes so schnell geändert haben, daß er jetzt eine Blouse tragen mußte.

Im März vorigen Jahres besuchte ich in der Gemäldegalerie des Louvre meinen Freund, den Maler Gilbert. Vor einem großen Historienbilde stand ein modern gekleideter Herr neben einem kleinen Mädchen.

„Haben Sie jemals ein reizenderes Kind erblickt, Eugen?“ flüsterte Gilbert mir zu; „ich wünschte mir schon oft, es säße mir einmal.“

„In Wahrheit, ein schönes Wesen! In sechs Jahren wird es Aufsehen erregen.“

Die Stimme des Begleiters der Kleinen war mir aufgefallen; sie, sowie Gestalt und Augen – obgleich letztere durch die Brille bedeckt – mahnten mich an Albanus. Ich schritt grüßend auf ihn zu; er blickte mich gleichgültig fragend an, als habe er mich niemals gesehen.

„Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, mein Herr? Als Sie in der Rue Richelieu wohnten –“

„Verzeihen Sie, mein Herr, ich habe niemals in der Rue Richelieu gewohnt und entsinne mich nicht, jemals in Paris oder wo anders die Ehre gehabt zu haben, Ihnen zu begegnen.“

Ich murmelte eine Entschuldigung und ging wieder zu Gilbert.

„Kennen Sie diesen Herrn, Eugen?“

„Nein, ich irrte mich, eine Aehnlichkeit – wissen Sie, wer er ist?“

„Er kommt oft mit der schönen Kleinen hierher, welche großes Interesse an Gemälden zu haben scheint. Ich habe einige Male an der Table d’hôte im Hotel Mirabeau ihm gegenüber gespeist. Dort hörte ich ihn von Anderen Baron nennen.“

Einige Tage später besuchte mich ein Vetter aus Deutschland, welcher bisher stets in einem schlesischen Städtchen gelebt hatte; Paris war die erste Großstadt, welche er sah. Ich machte seinen Führer, und da das schönste Wetter uns begleitete, waren wir sehr heiter. In lebhaftem Gespräch wandelten wir eines Morgens im Luxembourg-Garten umher. Ueberall war es schon grün und der Duft der Frühlingsblumen, die hier in reichster Fülle zu sehen sind, stimmte uns freudig.

Eben standen wir auf der Terrasse, ich betrachtete die Statue der Anna von Bretagne, als ich meinen Vetter lebhafter, als es seine Weise ist, ausrufen hörte: „Ha, welch’ schönes Kind!“

Ich sah mich um und erblickte dasselbe Mädchen, das ich schon im Louvre bewundert hatte, leicht und anmuthig am Arme ihres Vaters uns entgegen kommen.

„Wollen wir heimkehren, Julie?“ fragte der Baron neckend in französischer Sprache.

Das Mädchen schüttelte den Lockenkopf und erwiderte so recht in der Art eines verzogenen Kindes: „Nein, Papa, noch lange nicht.“

Jetzt wußte ich es ganz gewiß, Julie’s Vater war kein Anderer, als mein Herr Albanus. Da er mich aber kürzlich nicht hatte kennen wollen, so ging ich fremd an ihm vorüber, im Gespräch mit meinem Vetter, der unaufhörlich fragte und dabei seine Bewunderung über Paris aussprach.

Spioniren ist nicht meine Weise, beobachten aber muß der Schriftsteller, denn kein aus Büchern geschöpftes Wissen kommt den Erfahrungen gleich, welche das Leben uns bringt, wenn wir nur zu leben gelernt haben. Wie Alles in der Welt, will auch das Leben gelernt sein. Also beobachtete sich das reizende Mädchen und den stattlichen Mann und sah jetzt, daß ein Herr rasch auf ihn zuschritt; der Letztere war kein Anderer, als der Präfect der Seine, Herr Haußmann. Beide Herren sprachen mit einander halblaut; natürlich hielten wir, mein Vetter und ich, uns in anständiger Entfernung von den Redenden.

Um meinem Verwandten so viel wie möglich von Paris zu zeigen, führte ich ihn an diesem Tage in ein Hotel zum Speisen, welches er noch nicht kannte, wo meist Engländer, Deutsche, Amerikaner, [94] aber wenig Franzosen zu treffen sind und wo man stets eine gute Tafel und leichten Burgunder findet. Ein alter Edelmann, seiner politischen Gesinnung nach Legitimist, sprach sich gegen die herrschende Geschmacksrichtung in Paris aus; er tadelte das einförmige Repertoir der großen Oper, die Unsittlichkeit und Plattheit einiger neuen Dramen und sagte entrüstet: „Nie wäre bei den Bourbons, ja nicht einmal bei den Orleans, eine Therese in die Tuilerien gekommen!“

Mir gegenüber saß ein Herr, dessen Gesicht von einem dunklen Barte fast über die Hälfte beschattet war, seine großen Augen erinnerten mich lebhaft an den Baron und an Albanus; er sprach gar nicht, speiste mit vielem Appetit und während er sich eine Orange schälte (wobei seine aristokratischen Hände und ein Ring mit einem herzförmigen Rubin sichtbar wurden), bestellte er sich eine Flasche Champagner. In diesem Moment brachte ein Kellner dem Herrn ein kleines Billet. Er las es, runzelte die Stirn und zerriß es in kleine Stücke. Rasch stürzte er zwei Glas Champagner hinab und stand auf.

Mein Vetter fragte einen Herrn, in welchem der Theater der Kaiser am häufigsten zu sehen sei.

„Wenn Sie ihn heut’ sehen wollen, mein Herr, so besuchen Sie das Théâtre de la Gaieté,“ bemerkte höflich der Baron, dann verließ er, flüchtig grüßend, den Speisesaal.

„Hm,“ brummte der Edelmann, „woher hat denn dieser Herr so genaue Kunde über die Zeiteintheilung unserer Majestät?“

„Dieser Herr kann das leicht wissen,“ sprach der Hotelbesitzer; „er hat in den Tuilerien einen Cousin, der ist, glaube ich, viel um den Kaiser, einer seiner Lieblingsdiener.“

„Dann wollen wir gehen, ich hoffe, wir finden noch Platz,“ bemerkte ich. „Bitte, wie nennt sich jener Herr, und kennen Sie ihn schon lange?“

Der Hotelbesitzer erwiderte: „Gewiß, er speist schon seit vier Jahren allwöchentlich einmal bei mir; er heißt Herr von Albanus.“

„Ist der Herr Franzose?“

„Seiner Sprache nach, auch sagt er es selbst, doch habe ich ihn schon Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Polnisch sprechen hören, stets sehr geläufig, so weit ich es zu beurtheilen vermag.“

Eine halbe Stunde später saßen wir, mein Vetter und ich, im Théâtre de la Gaieté und zwar auf Plätzen, welche uns gestatteten, den Kaiser, falls er das Theater besuchte, deutlich zu sehen. Kurz vor Beginn der Vorstellung trat Napoleon der Dritte in seine Loge. Er ward mit Enthusiasmus empfangen, man klatschte und rief: „Vive l’Empereur!“ Besonders that sich ein Herr hervor, welcher zwei Ordensbändchen im Knopfloche trug, indem er applaudirte, als ob eine von ihm leidenschaftlich geliebte Theaterkönigin erschienen wäre. Ich faßte ihn scharf in das Auge. Er war es, aber diesmal ohne großen Bart, er, Albanus, der Baron, der Vater der schönen kleinen Julie. An seiner feinen Hand funkelte der herzförmige Rubin, den ich vor einer Stunde im Hotel bewundert hatte. Ob er auch mich sah, konnte ich nicht bemerken; es schien mir aber, als habe er seine Augen überall, wie ein Chef der Claque. Der Kaiser trat an die Logenbrüstung und dankte freundlich nach allen Seiten hin.

Nach dem Theater gingen wir in ein nahe gelegenes Restaurant zum Speisen. Zufällig trafen wir hier auch Gilbert.

„Wissen Sie schon, welch’ ein Glück mir zu Theil geworden ist, Eugen?“ rief er mir entgegen.

„Nein.“

„Ich bin der Lehrer des schönen kleinen Mädchens geworden, das wir neulich in der Galerie sahen; sie hat ein merkwürdiges Talent für Malerei. Ihr Vater hat mich im Louvre malen sehen und gefragt, ob ich seine Tochter unterrichten wolle. Natürlich sagte ich mit Freuden Ja.“

„Wer ist der Herr? wo wohnt er? hat er mehr Familie?“

„Albanus, Herr von Albanus, er bewohnt ein mit Rasenplätzen und blühendem Gebüsch umgebenes Landhaus unweit von der Villa Rossini. Seine Gattin, eine Deutsche, ist ebenso schön, wie das Kind, kaum dreißig Jahre alt. Andere Kinder hat das Ehepaar nicht, welches sich zärtlich liebt. Ich fahre wöchentlich zweimal zu meiner Schülerin, deren erste Versuche mich mit Staunen erfüllt haben.“

„Was ist das Geburtsland des Herrn von Albanus?“

„Ich weiß es nicht, er nennt sich einen Kosmopoliten, Eugen.“

„Im Vertrauen gesagt, Gilbert, ich halte den Herrn, ungeachtet er sicher nicht ohne Gutmüthigkeit ist, für ein Mitglied der geheimen Polizei, deren Dasein man nicht sofort bemerkt, die aber vorhanden ist.“

„Hahaha, Unsinn!“ versetzte er. „Albanus war, auch im Vertrauen gesagt, im Jahre 1848 in Deutschland auf den Barricaden; er ist aus Oesterreich und Preußen verbannt. Uebrigens lebt er zwar sehr anständig, doch durchaus nicht luxuriös, und man darf seine Gattin, sein Kind, ihn selbst nur ansehen, so weiß man, daß dieser Mann nicht fähig ist, einen Andern in’s Gefängniß zu liefern.“

Ich sagte nichts mehr, sondern dachte, was ich wollte. Das herrlichste Aprilwetter lockte meinen Cousin in das Boulogner Wäldchen. Gern begleitete ich ihn, der sehr wünschte, bei dieser Gelegenheit den kaiserlichen Prinzen spazieren reiten zu sehen. Das Glück war ihm günstig; auch der Kaiser kam gefahren, stieg aus und schlenderte sorglos, als habe es nie einen Pianori oder Orsini und ihre Bomben gegeben, zwischen den Lustwandelnden umher, obgleich einige Blousenmänner, wohl auch einer oder der andere den Landmann aus der Provinz verrathende Spaziergänger dem Kaiser ziemlich nahe kamen. Am nächsten betrachtete ihn ein Herr, dessen Anzug und Art, den Hut zu tragen, ihn als Engländer kennzeichneten. Als er dem Beherrscher der Franzosen fast ganz auf den Leib gerückt war, grüßte er ehrerbietig, der Kaiser erwiderte diesen Gruß und lächelte.

Mein Vetter raunte mir in das Ohr: „Der Kaiser ist doch ein Mann voll Muth.“ Ich antwortete nicht, denn ich heftete meine Blicke nur auf den Engländer. Ohne Bart, ohne Brille stand er da, kein Anderer als – Albanus. Unwillkürlich mochte ich ihn ziemlich lange angestarrt haben, denn ich bemerkte, daß er die Farbe veränderte.

Mehrere Abende hintereinander hielt mich Arbeit in meinem Zimmer, erst nach einigen Tagen ging ich wieder in’s Freie. Wie von einem Magnet angezogen, schlug ich den Weg nach der Villa Rossini ein und suchte in deren Nähe mir unter mehreren kleinen Häusern und Villen die auf, welche ich mir als Wohnung der Familie Albanus vorgestellt hatte. Endlich sah ich Rasenplätze, blühende Goldregen-, Schneeball- und Syringenbüsche. Zwischen ihnen spielten zwei anmuthige Gestalten Federball, eine schöne, schlanke Mutter mit ihrem reizenden Töchterchen, mit Julie. Indem ich Beide in einiger Entfernung betrachtete, kam ein Herr aus dem Hause, sah sich forschend nach allen Seiten um, gewahrte mich und ging rasch, ohne Mutter und Tochter bemerken zu wollen, dem Innern der Stadt zu. Um nicht indiscret zu erscheinen, schritt auch ich davon, ohne Albanus zu beachten. Die herrliche Frühlingsluft lockte mich immer weiter. Es war nur angenehm, endlich einmal auf längere Zeit dem Pariser Straßenlärm entronnen zu sein, und ohne mich sonderlich um meine Umgebungen zu bekümmern, ging ich in Gedanken vertieft in’s Blaue hinein. Endlich sah ich mich um und gewahrte ein kleines, einsam stehendes Haus, dessen Schild den Gasthof anzeigte. Ich trat ein; im Zimmer, in das ich kam, sah es nicht eben elegant, aber doch behaglich und sauber aus. An einem Seitentische saßen zwei bärtige Männer, deren Mienen nichts Vertrauenerweckendes hatten, hinter ihrer Flasche. Sie sprachen wenig, Französisch, aber mit ausländischem Accent, ich hielt sie für Italiener. Ich bestellte mir Wein und erhielt vortrefflichen. Der Wirth setzte sich an einen großen Tisch und speiste mit vielem Appetit, ich selbst bekam Hunger und ließ mir die aufgetragenen Speisen schmecken. Auf die Männer am Seitentische achtete ich wenig, und als ich einmal aufblickte, sah ich, daß sie eben aufstanden und fortgingen. Als ich mit dem Wirthe allein war, sagte derselbe zu mir: „Sind Sie nicht ein Deutscher, Herr?“

„Allerdings, mein Herr.“

„Dann sind wir Landsleute,“ gab er mir zur Antwort. „Wüste Gesellen, welche eben fortgingen! denken Sie aber deshalb nichts Uebles von meinem Hause und sprechen Sie wieder zu. Ein Wirth kann eben seine Gäste nicht wählen.“

„Sehr natürlich. Halten Sie jene Männer für gefährlich? Und in wie fern?“

„Hm, man kann freilich nicht immer nach den Gesichtern urtheilen, aber unter zehn Mal trifft es doch neun Mal zu, daß, [95] wer eine böse, wilde Denkungsart hat, etwas davon auch auf dem Gesicht geschrieben trägt. Ich will nicht behaupten, daß jene Leute Strauchdiebe oder noch Schlimmeres sind, doch – sind Sie schon lange in Paris?“

„Ziemlich lange, aber ich wohne im Herzen der Stadt und habe diese Gegend bisher noch nicht gekannt.“

„Hm, es kommt nicht Alles in die Zeitungen, ja, von Manchem erfährt sogar unsere tüchtige Polizei nichts. Ich möchte nicht, daß einem Landsmanne auf dem Heimwege Unheil widerführe. Einen derben Knotenstock gebe ich Ihnen gern, oder –“

„Unbesorgt, ich gehe nie ohne Stockdegen aus.“

„Das ist gut. Herr Landsmann, es giebt in Paris viel Glanz und Reichthum, aber auch viel Noth und Elend und – Verbrechen. Die Wohnungen und Lebensmittel sind eben doch zu theuer für die Hälfte der Einwohner. Da geschehen denn Räubereien und Mordthaten unter den geringeren Classen der Gesellschaft, Betrügereien und Schwindel in den höhern. Die große Weltausstellung soll freilich viele Wunden heilen; nun, wir wollen sehen!“

Es war schon dunkel, als ich den Gasthof verließ. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und in jener Gegend noch fremd, verirrte ich mich und stand plötzlich auf einem großen, öden Platze. Ich wußte nicht, sollte ich mich rechts oder links wenden, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Unentschlossenheit liegt mir fern, also schritt ich tapfer darauf zu, irgend wohin mußte ich doch kommen und endlich einem Fiaker begegnen, der mich aufnahm und heimfuhr.

Jetzt ging der Mond auf, ich erblickte die Thürme einiger mir bekannten Kirchen und wußte nun, welchen Weg ich einzuschlagen hatte. Plötzlich, als ich um eine Ecke bog, sah ich in geringer Entfernung drei dunkle Gestalten. Es waren zwei Männer, welche mit einem Dritten rangen, der sie um Kopfeslänge überragte. Instinctiv zog ich meinen Degen aus der Scheide und eilte dem Manne zu Hülfe, welcher sich bisher nur mit seinen Armen löwenmäßig gegen die beiden Männer gewehrt hatte. Als dieselben meine blanke Waffe im Strahl des Mondes blitzen sahen, flohen sie; das Seil, mit welchem sie den Angegriffenen hatten binden wollen, war auf dem Boden liegen geblieben.

„Tausend Dank, mein Herr, Sie kamen zur rechten Zeit,“ sagte mein Geretteter, in dem ich zu meinem nicht geringen Staunen Albanus erkannte.

„Sie sind es, mein Herr?“ rief ich unwillkürlich aus. „Seltsam, Sie hätte ich für vollkommen sicher gehalten.“

„Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, mein Herr,“ erwiderte er. „Sie halten mich für ein Mitglied der geheimen Polizei und haben folglich ein Vorurtheil gegen mich, gestehen Sie es nur.“

„Ich kann es nicht leugnen; konnte ein Mann von Ihren Naturgaben nicht einen andern Beruf wählen?“

„Wählen? Wie weit geht die Wahlfreiheit des Menschen und wie groß ist die unsichtbare Macht des Schicksals? Ich fühle mich ermattet; wollen Sie mich begleiten, so gehen wir in ein gemüthliches Restaurant und ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte. Ich habe einmal Ihnen einen Dienst geleistet, vielleicht wäre wenige Stunden später der deutsche Arzt zu spät gekommen, Sie haben mir heute sicherlich das Leben oder, was dasselbe ist, die Freiheit erhalten; ich bin Ihnen großen Dank schuldig. Jene Feigen wollten mich berauben oder tödten, ohne Sie –“

„St! Welcher Mann ginge vorüber, wenn er Zwei gegen Einen sieht, der waffenlos ist?“

„Ganz richtig, dennoch danke ich Ihnen. Ich sehne mich, einem Manne, den ich achte, zu erklären, daß ich etwas Anderes bin als ein Spion oder Verräther. Wollen Sie mich hören und mein Geheimniß bewahren? Denn ich habe bemerkt, daß Sie mich in meiner letzten Verkleidung erkannten, und wünsche nicht, daß Sie davon sprechen möchten.“

„Ich begleite Sie, und keine Seele in Frankreich soll hören, was Sie mir vertrauen; auch Ihr Name soll streng verschwiegen bleiben, sollte ich jemals einem Freunde von Ihrem seltsamen Berufe, den ich jetzt fast errathe, etwas mittheilen.“

Was Albanus mir erzählte, ist Folgendes; ich lasse ihn selbst sprechen: „Mein Großvater väterlicher Seite war ein Deutscher, seine Gattin eine Italienerin, von welcher ich als Knabe Italienisch lernte. Meine Mutter war ein Pariser Kind, ihr Vater ein Franzose, ihre Mutter Engländerin, ich selbst wurde in Wien geboren. Ich besaß einen rastlosen Geist, viel Phantasie, aber wenig Lernfähigkeit, ich lernte von Eltern und Großeltern spielend gleichzeitig vier Sprachen, Lateinisch und Griechisch in den Schulen, außerdem aber mehr durch das Leben als durch Bücher.

Meine Eltern waren wohlhabend; kleine Reisen nach England und Frankreich abgerechnet, lebte ich stets in Wien, das angenehme Wiener Leben der dreißiger und vierziger Jahre. Der liebste Mensch auf Erden war mir ein Wiener, auch er lebte nur für mich. Ferdinand war mir Gespiele, Freund, Bruder, später auch mein Schwager, denn seine einzige Schwester wurde meine Gattin. Meine Großeltern starben, als ich eben in das Jünglingsalter trat, meine Eltern gleichzeitig an der Cholera, als ich neunzehn Jahre alt war. Das Jahr 1849 verminderte mein Erbtheil auf die Hälfte; ich hatte in Wien auf den Barricaden gestanden und mußte fliehen.

Ich schrieb mehrere Dramen, Herr, es ist Blut und Leben darin, aber ich brachte nicht eins davon zur Aufführung. Karl Stuart der Erste, Papst Sixtus der Fünfte, der Letzte der Piasten, interessante, aber verbotene Stoffe. Ich wählte andere Gegenstände, kam aber bald zu der Ansicht, daß bei allen Theaterdirectoren der Welt das Werk Nebensache, die Person des Dichters Hauptsache ist. Hat ein Autor, ich spreche von edleren, nicht vom Possenschreiber, keine hohe Protection, oder Verbindungen, Hülfe von der Presse oder viel Geld, so muß er auf Aufführungen verzichten.

Ich lernte bald genug die Welt kennen, dadurch ward ich Philosoph und jagte nicht mehr dem Unerreichbaren nach. Ich übersetzte, schrieb für Zeitungen, aber ich erwarb damit nicht genug, um den von mir zärtlich geliebten Meinigen eine angenehme Existenz bereiten zu können. Meine Phantasie ist immer geschäftig, ich würde eine ganze Reihe interessanter Romane geschrieben haben, wenn ich die Fähigkeit besäße, täglich mehrere Stunden still zu sitzen. Zufällig lernte ich einen Mann von großem Einfluß kennen, er brauchte meine gründlichen Sprachkenntnisse und trug mir einen Posten an, zu der Zeit, wo mein Ferdinand gestorben und ich vor Betrübniß nicht fähig war, irgend etwas als Schriftsteller zu leisten. Um meinen Posten genügend auszufüllen, bedurfte ich nur Muth, scharfe Augen, ein wenig theatralisches Talent und Sprachkenntnisse. Ich habe oft mehrere Tage nichts zu thun, dann wieder viel. Ich bekomme einen anständigen Gehalt, brauche weder zu lauschen noch zu denunciren, ich muß nur – so will es mein für die Sicherheit des Cäsars besorgter Vorgesetzter – überall, wo Er sich zeigt, in seiner Nähe sein, und damit es nicht auffällt, in verschiedenen Costumen. Ich habe die Augen offen zu halten nach allen Seiten hin, darin besteht mein ganzes Geschäft!“

„Ihr ganzes Geschäft?“ sagte ich lachend. „Etwas mehr thun Sie doch wohl, es ist ein wahres Wort, was Bulwer sagt: ‚Die Masse ist träge und stumpf, Einer muß sie leiten‘, und ich habe schon mehr als einmal gesehen, wie Ihr Händeklatschen und Vivatrufen die Menge anfeuerte, es Ihnen gleich zu thun.“

„Nun ja, Jeder, er stehe so hoch er wolle, bedarf den Beifall des Publicums; übrigens, da ich Niemandem schade, schäme ich mich meiner Wirksamkeit nicht, wenn sie auch, wie die meiner Collegen, eine geheime bleiben muß, und sollte es sich fügen, daß ich ein Attentat vereitelte, so würde ich froh darüber sein, denn der schnelle Tod dieses einen Mannes kann für die ganze civilisirte Welt große Folgen haben.“

Auf dem Heimwege sagte ich zu mir selbst: „Wieder einer jener Menschen, die man nur in Paris finden kann. Sein Beruf ist ein Zeichen der Zeit!“

Ueber so Manches, was mir bisher unbekannt geblieben, war mir jetzt ein helles Licht aufgegangen, und ich dachte nun wieder besser von dem Manne als vorher. Gesehen habe ich Albanus einige Male von fern, gesprochen seit jener Unterredung nicht wieder.