Reifeis und seine Wirkungen

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Autor: Bernhard Bajohr
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Titel: Reifeis und seine Wirkungen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 180–181
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Reifeis und seine Wirkungen.


Wie durch die Zeitungen bekannt, waren in diesem Jahre wieder eine ganze Anzahl südrussischer Telegraphenlinien wochenlang für den Depeschenverkehr unbrauchbar. Ursache dieser für das Land höchst lästigen Störung war das sogenannte Reifeis, eine meteorologische Erscheinung, die meines Wissens im übrigen Europa fast gar nicht, in den südrussischen Steppengegenden auch nicht häufig auftritt, aber durch ihr Eintreten meistens Verwüstungen anrichtet, die noch lange nachher empfunden werden. Da sich das Reifeis in diesem Jahre in einer Entfaltung seiner Eigenthümlichkeit gezeigt hat, wie sie sicher höchst selten beobachtet wird, so will ich in Nachfolgendem versuchen, davon ein möglichst anschauliches Bild zu entwerfen.

Fig. 1. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
erstes Stadium (circa 1/11/3 natürlicher Größe.)

Das Reifeis ist, wie ich von vornherein bemerken will, nicht mit dem Rauhreife (Rohrreife) zu verwechseln, diesem zarten, blätterreichen Eiskrystallgebilde, das uns an manchen Wintermorgen die kahlen, blattlosen Bäume in einen glitzernden Zauberwald verwandelt, um dann nach kurzer Dauer ebenso schnell zu verschwinden, wie es erschienen ist. Das Reifeis ist vielmehr der nächste Verwandte des auch in Deutschland genugsam bekannten Glatteises, unliebsamen Angedenkens, und verdient als eine weitere Ausbildungsform desselben angesehen zu werden.

Fig. 2. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
zweites Stadium (circa 1/21/3 natürlicher Größe). Bildung bei windstillem Wetter.

Bedingung für das Erscheinen desselben ist plötzliches Eintreten einer nassen, regnigen Witterung nach vorangegangenem, langandauerndem und strengem Froste. Die oberen Schichten der Erde sind dann oft recht tief bedeutend abgekühlt und entziehen nun den die Erdoberfläche berührenden Luftschichten so stark die Wärme, daß diese dann noch auf eine Entfernung von zwanzig bis vierzig Fuß vom Erdboden eisig kalt erscheinen. Gegenstände, welche sich in diesen Luftschichten befinden, wie Bäume, Häuser etc., behalten dann gleichfalls diese mehrere Grad unter Null befindliche Temperatur. Fällt nun aus höheren, warmen Luftschichten Regen, so gefriert er nicht in der Luft, weil die kalte Luftschicht, die er zu passiren hat, keine sehr dicke ist, sobald er aber den kalten Erdboden oder Bäume und Häuser berührt, gefriert er und bildet auf diesen eine Eisschicht. Das ist der Vorgang beim Glatteise und auch beim Reifeise.

Fig. 3. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
drittes Stadium (circa 1/21/4 natürlicher Größe). Bildung bei windigem Wetter.

Letzteres entsteht nun, wenn oben genannte Bedingungen lange, wie es vorkommt, Tage lang vorhanden sind. Dann wird die aus dem Regen der obern Regionen sich bildende Eisschicht immer dicker und mächtiger, und bald liegen Bäume und meilenlange Telegraphenlinien von der ungeheuren Eislast zerknickt und zerrissen am Boden.


Fig. 4. Reifeis auf dem Telegraphendrahte,
viertes Stadium (circa 1/21/3 natürlicher Größe). Der Draht, von der Sonne erwärmt, schmilzt allmählich durch das Eis, welches zuletzt abfällt.

Im December 1876 wurden die südrussischen Steppen vom Reifeise heimgesucht, und haben namentlich ganze Kreise des Chersonschen und Taurischen Gouvernements davon erheblich gelitten. Am 17. und 18. December hatte ich eine Reise von Nikolajew über Cherson nach Berislaw zu machen. Mein Weg lief fortwährend zwischen den Leitungen des indo-europäischen und zwischen denen des russischen Staatstelegraphen hin, und ich hatte so Gelegenheit, die verschiedenen, höchst merkwürdigen Formen des Reifeises an Telegraphenleitungen genauestens zu beobachten.

Die erste Form desselben ist die einer dicken, walzenförmigen Eisrolle, welche sich aber nicht, wie man annehmen könnte, concentrisch um oder hängend an dem Telegraphendrahte bildet, sondern ganz und gar über demselben liegt, so daß dieser die Peripherie der Eisrolle, deren Dicke zwischen ein halb bis drei Zoll variirt, fast berührt, wie uns Figur 1 im Durchschnitte zeigt.

Die zweite Form bildet sich aus der ersten dadurch, daß die Kälte in den unteren Luftschichten etwas abnimmt, aber doch noch unter dem Gefrierpunkte liegt. Der Regen gefriert dann nicht sofort bei Berührung der schon gebildeten Eiswulst, sondern hat Zeit, dieselbe zu umfließen und theilweise noch von ihr herabzuträufeln, [181] wobei er Eiszäpfchen bildet, die von seltener Regelmäßigkeit sind und dem ganzen Gebilde auffallende Aehnlichkeit mit einem Kamme verleihen, wie es Figur 2 angiebt.

Die dritte Form, oder besser gesagt, das dritte Stadium in der Bildung des Reifeises, welches dasselbe jedoch nur höchst selten erreicht, weil die Bedingungen zu seiner Ausbildung nicht häufig vorhanden sind, entsteht folgendermaßen:

Nachdem die Kammform zu ihrer völligen Ausbildung gelangt ist, erhellt sich manchmal der Himmel, und die Sonne beginnt zu scheinen. Während ihre Strahlen der durchsichtigen Eiswulst über und dem Eiszapfenkamme unter dem Telegraphendrahte nichts oder nur wenig anhaben können, bescheint sie durch das glasklare Eis den dunkeln Telegraphendraht und erwärmt ihn derartig, daß seine feste Verbindung mit dem Eise aufgehoben wird. Die Folge davon ist, daß sich das ganze Eisgebilde in der frühern Lage nicht mehr halten kann, denn die Eiswulst ist um ein Bedeutendes schwerer, als der Kamm unter ihr; das ganze Reifeis dreht sich auf dem Drahte um hundertachtzig Grad; es kippt um; die Wulst hängt unten, und der Eiszapfenkamm steht gerade nach oben.

Tritt jetzt wieder Regen ein, so entsteht auf der Unterseite der Eiswulst, also entgegengesetzt dem ersten Eiszapfenkamme, ein zweiter Kamm, wodurch das Reifeis in seiner Form ganz auffallend dem hintern Theile eines Fischgerippes ähnlich wird. Diese Aehnlichkeit wird noch vermehrt durch eine etwas geneigte Stellung der Eiszapfenreihen, die dann entsteht, wenn während ihrer Bildung ein Wind in der Richtung der Telegraphenleitung wehte. Ich habe letzteres in Figur 3 angedeutet. Wie es mir erschienen ist, kann sich das eben beschriebene dritte Stadium des Reifeises auch dann bilden, wenn Sonnenschein vom obern Kamme und der Eiswulst etwas Eis schmilzt, das dann unterhalb letzterer, im Herabträufeln gefrierend, die zweite Zapfenreihe bildet.

Eine weitere Formenausbildung findet nicht statt, und das Reifeis hängt nun so lange am Drahte, bis Sonnenschein bei nicht zu kalter Witterung eintritt. Dieser erwärmt den dunkeln Draht im durchsichtigen Eise derart, daß letzteres um ihn herum etwas zu schmelzen und sich vermöge seiner großen Schwere so lange zu senken beginnt, bis der Draht in den äußersten Spitzen des obern Eiszapfenkammes liegt, worauf das Reifeis endlich abfällt.

Die Wirkungen des Reifeises auf die Telegrafenleitungen des indo-europäischen und des russischen Staatstelegraphen waren nach der Qualität dieser beiden Linien sehr verschieden. Erstere hat (bis vierzig Werst hinter der Stadt Cherson) eiserne Pfosten. Diese sowohl wie auch die beiden starken Leitungsdrähte hielten der ungeheuren Last des Reifeises wacker Stand, wenn sich auch die Drähte stark gedehnt hatten. Nur bei Winkeln der Linie hatten die gut befestigten Eckpfosten nicht immer dem gewaltigen Zuge nach einer Seite Widerstand leisten können. Sie hatten nachgeben müssen, und mit ihnen war dann eine ganze Reihe ihrer Nachbarpfosten schiefgezogen.

Der dem indischen Telegraphen parallel laufende russische Staatstelegraph mit seinen Eichenpfosten und den vier Leitungen sah dagegen trübselig aus. Die immer etwas krummen Eichenpfosten hatten der Eislast der vier Drähte nicht überall widerstehen können. Sie lagen streckenweise entweder umgerissen oder in der Mitte zerbrochen am Boden, und wo sie stehen geblieben waren, lagen die im Vergleiche mit den indischen Leitungen schwachen Leitungsdrähte wie Spinngewebe zerrissen auf der Steppe oder waren bis zum Erdboden herab durch die daran haftende Eislast ausgedehnt.

Die Pfosten beider Telegraphenlinien waren auf der Windseite mit einer mehrere Zoll dicken Eiskruste bedeckt, die vom Boden anfangend bis zu den Isolatoren hinauflief und sich hier mit dem Reifeise der Drähte verband, wodurch namentlich bei etwas weicherer Witterung an jedem Pfosten eine völlige Erdverbindung, das heißt Aufhebung der Isolation der Drähte entstand.

Bei dieser Erscheinung machte sich nun wieder ein neuer, gewiß noch wenig bekannter Vortheil der eisernen Pfosten gegenüber den hölzernen bemerkbar. Während nämlich letztere ihre einseitige Eiskruste wochenlang behielten, stießen jene das Eis bei den ersten sich zeigenden Strahlen der Sonne ab; sie erfuhren nämlich bei ihrer schwarzen Farbe und der sich im Eisen leicht und rasch vertheilenden Wärme durch die Sonnenstrahlen eine solche Temperaturerhöhung, daß sich das der Stange anliegende Eis ausdehnte und die ganze Eiskruste sich krumm bog, von dem Pfosten ablöste und abfiel. Die schwarzen Eisenpfosten sind also für diese Gegend ganz besonders den Holzpfosten vorzuziehen.

Es bleibt mir nun noch übrig, einige Worte über die verwüstenden Wirkungen des Reifeises auf die Vegetation zu sagen, welche in unsern baumarmen Steppengegenden sehr schwer empfunden werden, weil hier das Erziehen eines Baumes mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Da sich um jeden auch nur einige Linien im Durchmesser habenden Baumzweig eine bis zwei und drei Zoll im Durchmesser haltende Eisschicht bildete, so wurden z. B. sämmtliche Bäume (weiße Akazien, Robinia pseudacacia) der Stadt Cherson des größten Theiles ihrer Aeste beraubt, schwächere Stämme aber erbarmungslos niedergebrochen. In den Ostgärten, die das Ansehen eines ungeheuerlichen gläsernen Waldes annahmen, blieb nur derjenige Theil der Bäume verschont, deren Aeste, mehr in senkrechter Richtung gewachsen, die ihnen anhaftende Last besser balanciren konnten. So überstanden namentlich Birnbäume und Süßkirschen das Unglück verhältnißmäßig gut, während die sich mehr horizontal ausbreitenden Aepfel- und Aprikosenbäume größtenteils zusammenbrachen.
Bernhard Bajohr.