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Reinhold Fuchs: Der letzte Mann an Bord

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Franz Reinhold Fuchs
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Titel: Der letzte Mann an Bord
Untertitel:
aus: Velhagen & Klasings Monatshefte, Band 10 (1895/96), Heft 4 (Dezember 1895), S. 413–416
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Velhagen & Klasing
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Quelle: Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung: Ballade
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[413]

Der letzte Mann an Bord.


Von


Reinhold Fuchs.


Wie lang die Nacht! — In kalten Bö’n
Peitscht der Nordwest das Inselland;
Der Dachstuhl ächzt im Sturmgestöhn;
Ans Fenster klopft, wie Geisterhand,

5
Der Wanderdünen stiebender Sand;

Dazwischen dröhnt, in kurzen Pausen,
Vom Strande dumpf der Brandung Brausen.
Die Witwe Jensen sitzt allein
Bei ihres Lämpchens trübem Schein,

10
Der flackernd auf ihr graues Haar

Und des Gebetbuchs Blätter fällt,
Das zitternd ihre Rechte hält.
Wohl kennt die Alte die Gefahr,
Die heut den Schiffern draußen droht,

15
Und traurig hat sie manche Nacht

Gleich dieser, betend schon durchwacht,
Denn ach, wie viele sind in Not
Wohl heut auf sternenloser See! —
Auch er vielleicht! Mit bitterm Weh

20
Denkt sie an Uwe, ihren Sohn,

Von dem seit fünfzehn Monden schon
Sie keine Botschaft mehr erreicht.
Doch ach, in kalter Flut vielleicht
Liegt längst ihr jüngstes, liebstes Kind,

25
Und letzte Grüße bringt der Wind,

Verlorne, dumpfe Totenklagen,
Von seinem Grabe ihr getragen. —
Wie langsam dort der Weiser schleicht;
Wie bange hallt der Stundenschlag!

30
O wär’ es Morgen, wär’ es Tag!

Und wär’ ihr Harro erst zurück,
Ihr ält’rer Sohn, ihr Trost und Glück,
Der einzige nun von ihren Lieben,
Der ihr im Alter noch geblieben.

35
Doch schwerlich kehrt er heim, bevor

Die Wintersonne stieg empor,
Denn sicher hält man lang ihn fest
Auf Detlev Harberts Hochzeitsfest
Im Nachbardorf, das meilenfern

40
Vom ihren liegt in Sand und Moor.

Die Alte träumt; — wie Schatten schwanken
Durchs müde Hirn ihr die Gedanken;
Es gaukelt wie ein matter Stern
Vor Augen ihr des Lämpchens Schein,

45
Und endlich nickt sie seufzend ein.

Da zeigt der Traumgott freundlich-mild
Der Mutter ihres Uwes Bild,
Und sieh, er lebt! — Nicht trieft sein Haar
Von salziger Flut; er lacht, er spricht,

50
Doch männlicher an Wuchs, Gesicht

Erscheint er, als er früher war.
Die Arme breitet sie: „Mein Sohn,
[414] Wie lange hab’ ich dein geharrt!“
Da schreckt sie aus dem Schlaf ein Ton;

55
Sie fährt empor; sie lauscht und starrt:

Ins Fenster scheint die Dämm’rung fahl;
Da, horch! nun dröhnt’s zum zweitenmal
Heran durch Sturm und Regenguß;
Kein Zweifel mehr, das war ein Schuß,

60
Ein Hilferuf, der dumpf und schwer

Herüberdrang vom nahen Meer,
Von einem sturmverschlagnen Schiff,
Das nachts sich festfuhr auf dem Riff. —
Noch steht die Alte, wie gebannt,

65
Da klopft ans Fenster eine Hand.

Sie öffnet: „Ihr seid’s, Nachbar Frerk?
Südwester, Ölzeug habt Ihr an,
Als gält’ es schweres Seemannswerk?“ —
„Das gilt es, Base,“ spricht der Mann.

70
„’ne Bark kam fest vor Möwenort,

Und glückt’s nicht bald, sie zu erreichen,
So wäscht die Brandung über Bord,
Was drauf noch atmen mag, als Leichen.
Wo ist der Harro? — Unserm Boot

75
Thut wahrlich heut ein Führer not

Wie er, in Sturm und Flutgebraus. —
Was sagt Ihr? — Harro nicht zu Haus?
Das trifft sich schlimm! Doch muß es gehn
Auch ohne ihn! — Auf Wiedersehn!“ —

80
Und seewärts durch die Dämmerung stampft

Er schwer davon. Sie steht beklommen
Und fühlt, wie sich zusammenkrampft
Ihr Herz ob dem, was sie vernommen.
Wie mögen wohl die Schiffer zagen

85
Dort auf dem Wrack, vom Tod umringt!

Wie viele Mütter werden klagen,
Wenn nicht das Rettungswerk gelingt! —
Halb unbewußt, mit hastigem Schritte,
Enteilt die Alte ihrem Haus;

90
Bald sieht in kahler Dünen Mitte

Sie sich, umheult vom Sturmgebraus.
Ihr Antlitz peitscht verwehter Sand,
Der Seedorn zerrt ihr am Gewand;
Der Regenpfeifer schießt vorbei

95
An ihr mit gellendem Klageschrei,

Als wollt’ er sie zur Umkehr mahnen,
Sie aber strebt auf öden Bahnen
Dem Strande zu, dem Ort der Not,
Wo rüstige Schultern schon das Boot

100
Vom Wagen schieben in die Flut,

Die donnernd sich, in grimmer Wut
Voll Hohn entgegenbäumt den Kühnen,
Die ihr die Opfer rauben wollen.
Mit Bangen schaut am Fuß der Dünen

105
Der Arbeit zu, der mühevollen,

Das halbe Dorf schon, Greise, Frau’n,
Im ungewissen Morgengrau’n.
Und draußen, auf dem Teufelsriff,
Im Dämmerlicht zu kennen kaum,

110
Hebt dunkel sich das Unglücksschiff

Aus schwerer Sturzseen weißem Schaum,
Der garbengleich an Bug und Heck
Aufsprüht, fortrollend übers Deck.
Ein einziger halber Mast nur ragt

115
Empor vom Wrack; bald wird auch der

Verschwinden in der Wogenjagd,
Im kalten, sturmgepeitschten Meer,
Und wenn die Rettung bald nicht kommt,
Wer weiß, ob sie noch einem frommt

120
Von denen, die mit Todesgrau’n

Da drüben in die Fluten schau’n,
Denn wie mit Riesenhämmern pocht
Ans Plankenwerk der Wogendrang; —
Das donnert, heult und zischt und kocht,

125
Als wollt’ es in den Untergang

Mit rasender Dämonenhand
Fortreißen selbst den Dünenstrand,
Der manch Jahrtausend schon dem Meer
Getrotzt als unbezwungne Wehr.

130
Doch wie der Sturm auch brüllt und tobt,

Die Seemannsherzen schreckt er nicht,
Die, in Gefahren oft erprobt,
Noch nie gewankt vom Pfad der Pflicht.
Acht Riemen tauchen fest und stramm

135
Mit gleichem Schlag ins Flutgebraus,

Und auf der nächsten Woge Kamm
Schießt in die See das Boot hinaus.
Schwer ist der Kampf; im Wechselspiel
Hinauf, hinab taucht Bug und Stern,

140
Und ach, wie scheint der Braven Ziel

So ferne noch, so trostlos fern!
Wohl manches Herz am Strande bebt
[415] Jetzt um den Gatten, um den Sohn.
Und nur aus einer Seele schwebt

145
Ein Dankgebet zu Gottes Thron,

Ein unterdrückter Jubelschrei,
Daß Harro Jensen nicht dabei.
Zu wohl nur weiß die Mutter ja
(Mit Stolz muß sie sich’s eingestehn!)

150
Wär heut’ dem Strand ihr Harro nah,

Dann hielte nicht ihr heißes Flehn
Ihn von der grausigen Fahrt zurück, —
Und ach, er ist ihr letztes Glück! —
Indessen ringt, unendlich schwer,

155
Das Boot sich weiter Zoll um Zoll;

Kein Auge nun erkennt es mehr
Im Regenschwall und Flutgeroll.
Wohl eine Stunde schleicht vorbei;
Es atmet jede Brust beklommen,

160
Da hallt aus Knabenmund ein Schrei

Voll hellen Jubels: „Seht, sie kommen!“
Bald schießt, gejagt vom Wogendrang,
Das Rettungsboot dem Strand entgegen,
Und schnell, zu freudigem Empfang,

165
Sieht man sich hundert Hände regen.

Sechs Männer, frosterstarrt und bleich,
Matt, sprachlos, fast den Toten gleich,
Enthebt man rasch des Fahrzeugs Raum
Und trägt sie durch der Brandung Schaum

170
Ans Land, wo hilfreich, voll Erbarmen,

Das Inselvolk umdrängt die Armen.
Da plötzlich naht sich von der Düne
In schnellem Lauf ein blonder Hüne
Und keuchend drängt, mit mächtigem Arm,

175
Zu Frerk heran er durch den Schwarm.

„Der Harro Jensen!“ läuft es leis
Mit Blitzesschnelle durch den Kreis,
Und alles starrt ihm ins Gesicht,
Drin tiefer Kummer sich verrät,

180
Und lauscht, als dumpf der Jünglings spricht:

„Sagt, Ohm, kam wirklich ich zu spät
Und muß ich thatlos heimwärts gehn?“ —
Drauf jener: „Ja, mein lieber Junge,
Was möglich war, das ist geschehn.

185
Zwar hing noch Einer dort am Mast,

Doch niemand“ — da, in freudiger Hast,
Stürzt Harro schon mit weitem Sprunge
Zum Rettungsboot und ruft: „Wohlan!
Wer holt mit mir den letzten Mann?“ —

190
Unmöglich ist es! — Tollheit! — Bleib!

Tönt rings es an des Jünglings Ohr,
Und zitternd drängt ein bleiches Weib
Sich aus der Männer Kreis hervor
Und fleht mit aufgehobner Hand:

195
„Mein Harro, heut nur bleib an Land;

Versuche Gott im Himmel nicht
Bei solchem Sturm und solcher See!“ —
Doch er darauf: „Mich ruft die Pflicht;
Ihr folg’ ich, Mutter; o vergieb!

200
Versäumt’ ich’s, wär’ mir’s Schmach und Spott.

O liebe Mutter, danke Gott,
Daß mir zu thun doch etwas blieb!
Im starken Schutz des Höchsten steh’
Ich auf dem Meere ja wie hier!“ —

205
Da schwingen sich der Männer vier

An Bord. — „Roj’[1] an, in Gottes Namen!“ —
Und aller Lippen murmeln: Amen!
Als nun das Boot zum zweitenmal
Durch die empörten Wellen schießt,

210
Fällt aus dem Sturmgewölk ein Strahl,

Der goldnen Glanzes es umfließt,
Doch härter als zuvor noch weht
Der rauhe Nord mit scharfem Pfiff,
Und häuserhohe Brandung steht,

215
Ein weißer Wall, auf jedem Riff. —

Wie schwer, wie lang zum zweitenmal
Des müßigen Harrens herbe Qual!
Ein Stöhnen ringt sich, unbewußt,
Empor aus mancher bangen Brust,

220
Wenn hinterm Kamm getürmter Wogen

Das Boot den Blicken wird entzogen,
Und mancher Seufzer wird gehaucht,
Wenn es dem Flutengrab enttaucht,
Auf weißen Wellenhügeln schwebend,

225
Dem Ziele kühn entgegenstrebend.

Das Fernrohr hart am Auge, spähn
Hark Buhn, der greise Kapitän,
Und Frerk, umtost vom Sturmesheulen,
[416] Hinaus, so unbewegt wie Säulen,

230
Bis endlich das Erlösungswort

Ertönt: „Gottlob, sie sind am Ort!“
Und nun, wer entert todeskühn
Die Wanten auf am schrägen Mast
Durch Sturmgebrüll und Wogensprühn? —

235
Schon hat den Körper er gefaßt,

Der hilflos hängt im Takelwerke;
Nun klimmt hinab er mit der Last;
Fürwahr, das fordert Riesenstärke,
Und jeder andre wär’ verzagt

240
Ob dem, was dort der Harro wagt!

Jetzt reißt das Boot mit kräft’gem Stoß
Vom halbzerstörten Wrack sich los,
Und eine Kabellänge kaum
Liegt hinter ihm der Barke Rumpf,

245
Da schießt hinab in Gischt und Schaum

Des letzten Mastes letzter Stumpf! —
Vom Strande dringt ein heller Schrei
Des Jubels weithin aus der Menge;
Die Rudrer hören ihn, doch zwei

250
Im Boot sind taub für Erdenklänge:

Er, der in Ohnmacht eingewiegt
Zu seines Retters Füßen liegt,
Fast noch ein Knabe, dem die Locken
Beschneit von salzigen Seeschaumflocken,

255
Und er, der hoch am Steuer steht

Mit stolzverklärtem Angesicht,
Indes ihm aus den Augen spricht
Wortlos ein heißes Dankgebet.
Kaum rührt den Strand des Schiffleins Bug,

260
Stürmt Harro schon ans Land im Flug;

Auf starken Armen lächelnd trägt
Er durch der Brandung wildes Tosen
Des Jünglings Leib, den regungslosen,
Drin, fühlbar kaum, das Herz nur schlägt.

265
Und als er sanft ihn niederläßt,

Umschlingen ihn zwei Arme fest:
„Mein Sohn, mein alles du im Leben,
O, daß du mir zurückgegeben!“
Doch er darauf: „Nicht mich allein,

270
Zwei Söhne, Mutter, nennst du dein!

Auch Uwe lebt! — Schau jenen an,
Das war an Bord der letzte Mann!“
Die Mutter schrickt empor und starrt,
Noch zweifelnd, ob ein Traum sie narrt,

275
Den Knaben an, der kaum gerettet,

Im weichen Seesand liegt gebettet,
Doch als er matt die Augen hebt
Und fragend ihr ins Antlitz schaut,
Da stürzt mit schluchzendem Jubellaut

280
Aufs Knie sie: „Ja, mein Uwe lebt!

Dem Herrn im Himmel Dank und Preis!“
Mit Küssen deckt sie, lang und heiß
Dem Sohne Mund und Stirn und Haar;
Da sieht in harter Männer Schar,

285
Im Kreise leidgewohnter Frauen

Man manche Zähre niedertauen,
Und vieler Hände stumm sich falten,
In Andacht ehrend Gottes Walten.
Doch festen, warmen Drucks umschließt

290
Harro die Rechte Frerks verstohlen:

„Dank, daß ihr einen übrig ließt;
Daß selbst vom Wrack ich durfte holen
Das Kücken, unsern Uwe, dort,
Als letzten Mann, der noch an Bord!“


  1. Rudert.