Rosetta
[132] Rosetta. (Zu unserer Kunstbeilage) Wie befremdend! Vor drei-, vierhundert Jahren malten die großen Maler Venedigs ihre entzückenden Madonnen und irdisch schönen Weiber, und heute laufen ihre Modelle, es ist wie ein Traum, noch lebendig auf den Plätzen mit Blumen-, Frucht- und Fischkörben und Wassereimern herum!
Aber auch diejenigen Venetianerinnen, deren Angesicht nicht besonders schön ist, haben in ihrem Wesen, in Haltung und Sprache etwas ungemein Anziehendes. Und alle, besonders aber die Mädchen aus dem Volke, schreiten mit einer leichten Grazie, manchmal auch mit wahrhaft königlicher Majestät daher, das Haupt auf dem biegsamen Halse mit herausforderndem Stolz erhoben. Ihr Schmuck ist eine von jeder Künstelei freie Grazie, eine festliche Heiterkeit des Charakters, die in dem weichen Dialekt widerglänzt, der „wie auf Atlas geschrieben“ scheint.
Diese „Rosetta“ ist keine Karnevalsfigur, obgleich sie wie eine verkleidete Herrscherin erscheint, die dem ihr erstaunt Nachschauenden das Almosen eines ihrer Blicke zuwirft. Woldemar Kaden.