Rußland und Kaiser Alexander II.
[145]
Der Abschluß des Friedensvertrages von San Stefano (am 3. März d. J. Siehe Nr. 13. S. 104) hat die Erwartung der nach Frieden verlangenden Welt nicht erfüllt. Besonders England arbeitet seither mit angespannten Kräften an der Vollendung seiner Kriegsrüstung, und täglich legt man sich die Frage vor: Wird es von Neuem zum Kampfe kommen? Einen Einblick in die Ursachen, warum ein solcher droht, werden wir am besten gewinnen, wenn wir die Geschichte unsere Lehrmeisterin sein lassen.
Als Gesittung und Bildung in Europa schon mächtige Fortschritte gemacht hatten, sah es in dem Ländergebiete des heutigen Rußland in dieser Beziehung noch traurig aus. Erst Peter dem Großen († 1725) gelang es, sein Reich mehr nach europäischem Muster einzurichten und demselben die Herrschaft im Norden unseres Welttheiles zu verschaffen. Er berief viele Angehörige fremder Völker und ließ deren Kenntnisse und Fertigkeiten seinen Unterthanen zu Gute kommen.
Während sich dann Napoleon I. fast ganz Europa unterwarf, mußte er in den eisigen Gefilden Rußlands seinen Siegeslauf einstellen (1812) und wurde nicht lange nachher durch das vereinigte russisch-preußisch-österreichische Heer zur Niederlegung seiner Krone gezwungen. Damit hatte Rußland in den Gang der europäischen Geschichte mächtig eingegriffen.
Seine Grenzen wußte es sowohl in Europa als in Asien fortwährend zu erweitern. Die sogenannten Ostseeprovinzen (Kurland, Livland, Esthland und Ingermanland), deren Bewohner meist auf einer viel höheren Stufe der Bildung als die Russen standen, kamen schon im Laufe des 18. Jahrhunderts unter seine Oberherrschaft, ebenso der größte Theil Polens; Finnland wurde im Jahre 1808 mit ihm vereinigt.
Sibirien, welches etwa 25 mal so groß ist als das Deutsche Reich, unterwarfen sich die Russen schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Von hier aus drangen sie oft in andere asiatische Gebiete vor, so z. B. in’s chinesische, nach Centralasien, wo sie besonders den Ostindien beherrschenden Engländern gefährlich wurden, u. s. w.
Das Hauptziel ihrer Wünsche ist aber seit lange der Besitz Konstantinopels und die Verdrängung der türkischen Herrschaft aus Europa. Schon mehrmals in diesem Jahrhunderte haben sie die Türkei bekriegt. Im Jahre 1829 erzwang der russische General Diebitsch (ein Deutscher von Geburt) den Uebergang über den Balkan und errang einen glänzenden Sieg.
Als revolutionäre Stürme Frankreich, Deutschland und Oesterreich erschütterten, kam Rußland letzterem Staate zu Hilfe, indem es die aufrührerischen Ungarn unterwarf. Es hoffte darum auf Oesterreichs Dankbarkeit zählen zu können, als es der Türkei im Jahre 1853 auf’s Neue den Krieg erklärte. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht, trotzdem daß sich auch England, Frankreich und Sardinien auf die Seite der Türken stellten. Der in diesem und den folgenden Jahren besonders in der Krim und um Sebastopol geführte Krieg erschütterte Rußlands Macht in hohem Grade und zwang es zum Abschlusse des ihm ungünstigen Pariser Friedens (30. März 1856). Der selbe enthielt folgende Hauptbestimmungen:
1) Der Türkei wird Unabhängigkeit und ihr Länderbesitz gewährleistet. Sollten zwischen ihr und einem anderen Unterzeichner des Friedensvertages (Frankreich, England, Sardinien, Oesterreich und Preußen, sowie Rußland) Streitigkeiten ausbrechen, so verpflichtet sich derselbe, vor Anwendung von Gewaltmaßregeln die Vermittlung der übrigen Vertragsmächte anzurufen. [146]
2) Rußland muß Gebiet abtreten (einen Theil Beßarabiens).
3) Die beiden Donaufürstenthümer Moldau und Walachei – das heutige Rumänien – sowie Serbien werden unter den Schutz der Vertragsmächte gestellt.
4) Die Schifffahrt auf der Donau wird für frei,
5) das Schwarze Meer für neutral erklärt; Kriegsschiffe dürfen sich in letzterem nicht aufhalten.
Für Rußland hatte der Krimkrieg die heilsame Wirkung, daß er tiefliegende Schäden des Staatswesens aufdeckte, deren Abstellung die nun folgende Friedenszeit dringend forderte. Kaiser Alexander II., welcher seit dem 2. März 1855 die Zügel der Regierung führt, widmete sich dieser Aufgabe mit großem Eifer. Dem Mangel an Verkehrswegen, der – um nur dies Eine zu erwähnen – für die Verpflegung des Heeres höchst nachtheilig gewesen war, suchte er durch Bau eines möglichst ausgebreiteten Eisenbahnnetzes abzuhelfen; die Verwaltung wurde von betrügerischen Beamten gesäubert, die Bildung des Volkes gefördert und besonders die Leibeigenschaft aufgehoben. Im Jahre 1859 gab es in Rußland etwa 23 Millionen Leibeigene. Es ist leicht erklärlich, daß deren Herren mit ihrer Befreiung nicht einverstanden waren; brachten sie ihnen doch großen Gewinn. Manche unter ihnen lebten als Künstler, Kaufleute oder Handwerker in Städten und mußten ihren Herren eine bedeutende jährliche Abgabe bezahlen. Alexander II. wußte jedoch die entgegenstehenden Hindernisse – und deren gab’s eine große Zahl – zu überwinden und sprach am 3. März 1861 die Aufhebung der Leibeigenschaft aus.
Kein billig Denkender wird erwarten, daß in der kurzen seither vergangenen Zeit das russische Volk auf die gleiche Stufe der Bildung habe gehoben werden können wie andere Nationen, welche eine viel günstigere geschichtliche Entwicklung aufzuweisen haben. Man darf die großen Anstrengungen, welche die russische Regierung in dieser Hinsicht machte, nicht verkennen. Sie zog z. B. viele Ausländer herbei, um durch dieselben das Volk in den verschiedenen dessen Wohlfahrt fördernden Gegenständen unterrichten zu lassen, in Landwirthschaft und Gewerben, in Dingen des Wissens und der Kunst; auch viele Deutsche (über 800,000) leben in dem großen Reiche und haben sich um dessen fortschreitende Entwicklung unbestreitbare Verdienste erworben.
Seine Grenzen erweiterte das an und für sich schon so umfangreiche Land immer noch mehr. Zwar verkaufte es das sehr weit ausgedehnte Alaska in Nord-Amerika im Jahre 1867 an die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas, aber in Asien errang es einen Erfolg um den anderen und erregte dadurch mehr und mehr die Besorgniß der Engländer, welche sich in ihrem dortigen Herrschaftsgebiete bedroht glaubten.
Rußland umfaßt rund 21,734,000 Quadratkilometer (395,000 Quadratmeilen), d. h. 1/6 alles festen Bodens auf der Erde, mit ungefähr 86 ½ Millionen Einwohnern. Das europäische Rußland (mit Einschluß Polens und Finnlands) zählt auf 5,410,046 Quadratkilometern (98,252 Quadratmeilen) eine Bevölkerung von 73,613,000 Seelen. Etwa 4/5 sind Slaven. Dem Bekenntniß nach gehört die weit überwiegende Mehrzahl der griechisch-katholischen Kirche an; Katholiken gibts besonders in Polen, Evangelische in den Ostseeprovinzen und in Finnland (55 Millionen Griechisch-Katholische, 7 ½ Millionen Römisch-Katholische, 4 ½ Millionen Evangelische). Freie Religionsübung hat die Regierung vielfach gehindert, sie hat z. B. Katholiken und Evangelische mit großer Unduldsamkeit behandelt und dieselben mit Gewalt zur Annahme des griechisch-katholischen Glaubensbekenntnisses zu bringen gesucht. Die unteren Behörden sind jedoch darin oft viel weiter gegangen, als von der milden Gesinnung des jetzigen Kaisers als beabsichtigt vorausgesetzt werden kann.
Die Regierungsform ist die unumschränkt monarchische; der Kaiser (Zar) ist unumschränkter Selbstherrscher, in seinen Handlungen also nicht an die Zustimmung von Volksvertretungen gebunden. Selbst der türkische Sultan hat sich in der letzten Zeit der Einrichtung eines Parlaments gefügt, so daß Rußland unter den großen Reichen Europas hierin die einzige Ausnahme bildet.
Das russische Volk ist dem Kaiser meist treu ergeben, wird aber durch weitverzweigte geheime Gesellschaften vielfach zur Auflehnung angereizt.
Es kann uns nicht wundern, daß Alexander II. die Festsetzungen des Pariser Friedens möglichst wieder aufzuheben suchte.
Einen Anfang dazu machte er im Oktober 1870, als sich die politische Lage für Rußland günstig gestaltet hatte. Er ließ den Mitunterzeichnern des Pariser Friedensvertrags mittheilen, daß er sich an die Bestimmungen über die Neutralität des Schwarzen Meeres nicht mehr gebunden erachte. Wie sehr auch ein solch einseitiges Vorgehen getadelt wurde, der Zar erreichte seinen Zweck; die Mächte sandten Abgeordnete zu der sogenannten Londoner Conferenz, welche vom 17. Januar bis zum 13. März 1871 tagte, die Neutralisirung des Schwarzen Meeres aufhob, noch einige andere Beschlüsse faßte, aber auch alle Bestimmungen des Pariser Vertrages aufs Neue bestätigte, sofern dieselben nicht ausdrücklich beseitigt worden waren.
Als im Sommer 1875 ein Aufstand in der türkischen Provinz Herzegowina ausbrach, erklärte sich Rußland zum Beschützer seiner bedrängten Glaubens-und Stammesgenossen. Es verlangte von der Türkei feste Bürgschaften gegen die Willkür ihrer Behörden; auch die übrigen Vertragsmächte wünschten die Lage der Christen in der Türkei verbessert. Lange Verhandlungen begannen, dieselben führten aber nicht zum Ziele, und so kam’s zum Kampfe. Am 24. April 1877 erfolgte die Kriegserklärung des Kaisers Alexander II. Am 3. März 1878 hatte der dadurch eingeleitete blutige Krieg ein Ende. Die Türkei, welche sich selbst überlassen blieb, wurde gänzlich besiegt. Man könnte nun [147] meinen, Rußland, welches mit seinen Verbündeten, Rumänien, Serbien und Montenegro, den Kampf allein durchführte, hätte auch das Recht, die Bedingungen des Friedens mit der Türkei allein zu vereinbaren. Aber die feierlichen Verpflichtungen, welche es im Pariser Frieden und dann wieder auf der Londoner Conferenz übernahm, geben den übrigen Vertragsmächten ein unbestreitbares Recht, dabei mit zu reden; es kann namentlich England nicht zugemuthet werden, daß es die Folgen seiner großen Anstrengungen und Opfer im Krimkriege mit einem Federstriche aufheben lasse, und es ist eine für ganz Europa wichtige Sache, daß Rußland nicht allzusehr erstarke und dadurch den Frieden bedrohe. Auf der andern Seite ist es auch nicht möglich, den alten Zustand in der Türkei zu erhalten, und wenn die Vertragsmächte Rußland vom Kriege gegen die Türkei nicht abhielten, können sie es nun billiger Weise auch nicht hindern, daß dieses aus seinen großen Erfolgen Nutzen für sich ziehe. Lassen sich die beiderseitigen Wünsche und Ansprüche vereinigen? Von der Beantwortung dieser Frage hängt Krieg und Frieden ab.