Schweizer Alpen-Bilder/Das Alpenrindvieh

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Textdaten
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Autor: A. B.
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Titel: Schweizer Alpen-Bilder (5)
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 5. Das Alpenrindvieh.

Es ist nur ein schmaler Streifen der Alpen, den die Natur dem Sennen zum Betriebe seines Berufs angewiesen hat. Bis zu 4000 Fuß über dem Meere hat sich fast überall die regelmäßige Bodenbewirthschaftung emporgerungen, und schon 1500 Fuß höher tritt ihm der ernste Geist der unwirthbaren Felsen, der unergiebigen Geröllhalden und der zerschründeten Gletscher mit seinem eisigen Hauche wehrend entgegen. Auf diesem kleinen Streif findet der eigentliche Gebirgsbewohner der Schweiz, der Senne, mittelst seines geliebten Alpenrindviehs seine Existenz und in den grünen saftigen Alpenkräutern das nöthige Futter für seine milchtragenden Kühe.

Wir wollen uns nicht in tiefgehende gelehrte Forschungen über die Abstammung des Alpenrindviehs einlassen; es mag uns genügen, daß unser ehrlicher Hausochse sich schon auf eine ganz respectable Ahnenreihe berufen kann, da sein Geschlecht weit über alle geschichtlichen Ueberlieferungen hinaufreicht. Einen eigentlichen schweizerischen [373] Rindertypus giebt es auch streng genommen nicht einmal, wohl aber drei besondere, streng von einander abgegrenzte und von den Viehzüchtern mit besonderer Vorliebe vor Vermischung geschützte Hauptracen. Die erste dieser Racen ist der prächtige, auf den auswärtigen Viehausstellungen so sehr bewunderte Simmenthaler Schlag, im Simmenthal, der Landschaft Saanen und in einem Theile des Kantons Freiburg hauptsächlich verbreitet. Doch treten auch in jeder der eben genannten Arten noch leicht bemerkbare, charakteristische

Meister Braun in einer Alpenviehheerde.
Nach einer Originalzeichnung von H. Jenny.

Nüancen hervor. Das Simmenthaler Vieh ist meist weiß und rothgelb gefleckt, während dasjenige aus dem Kanton Freiburg mehr eine schwarz und weiße Färbung aufweist. Der ganze Schlag aber zeichnet sich durch einen prachtvollen Wuchs aus, ist weit im Auslande berühmt, erreicht durchschnittlich ein Gewicht von 5–6 Ctr., und ein charakteristisches Merkmal dieser Race ist ein kurzer, dicker, ochsenartiger Kopf. An Milchergiebigkeit steht sie über allen andern Racen, und übertrifft darin namentlich die ebenfalls weithin berühmte dunkelbraune Schwyzerrace, deren Mastochsen oft ein fabelhaftes Gewicht erreichen, so daß zuweilen Bursche von 3000 Pfund geschlachtet worden sind. Aehnlichkeit mit diesem Schlage hat auch derjenige von Appenzell, denn die Färbung ist fast dieselbe, jedoch erreichen die Kühe dieser Gattung nicht die Größe der erstgenannten. Weitere unbedeutendere Racenunterschiede aufzuzählen, würde uns hier zu weit führen. Im Allgemeinen kann angenommen werden, daß da, wo das Vieh auf steilen oder gar über der Holzgrenze liegenden Alpen seine Existenz fristen muß, seine Größe abnimmt, während es dagegen an Intelligenz, Klettergewandtheit und Muth sichtlich gewinnt. Selbst auf diese anscheinend nicht sehr hoch stehende Thiernatur wirkt der Hauch der Gebirgsluft, die ewige Nähe der Gefahr ähnlich, wie auf das Wesen des verwegenen Geisbuben, der sich über schwindelnd tiefem Abgrunde auf den schwanken Aesten einer Legföhre schaukelte und dem später der Pfarrer darüber eine ernste Mahnung zugehen ließ, die mit den Worten schloß: „Schau, Seppi, hätte Dein Schutzengel Dich nicht behütet, so hättest Du leicht Deinen Uebermuth mit dem Leben büßen können.“ „Oha, Herr Pfarrer,“ gab der kecke Taugenichts dem Geistlichen zur Antwort, „so weit hinaus wie ich wagt sich der Schutzengel nicht!“

Die Alpenkühe, fast ganz auf sich selbst angewiesen und von den Besitzern nur wenig gepflegt, wissen gar trefflich Bescheid in den Gebirgslabyrinthen, die ihnen zum Aufenthalte angewiesen sind, jede Quelle, jedes Wassertümpelchen ist ihnen bekannt, wenn sie ihren Durst löschen wollen, und sie verfehlen nie um die regelmäßige Zeit des Melkens sich auf die Lockstimme der Hirten auf dem Melkplatze einzufinden. Freilich wissen sie auch, daß sie um diese Stunde vom Sennen eine Hand voll Salz zu lecken bekommen, was für sie ein besonderer Schmaus ist. Besonders fein ist die Witterung der Kühe bezüglich der nahenden Hochgewitter, sowie sie auch mit großer Vorsicht die gefährlichen Stellen meiden und [374] sorglich ihre Jungen von denselben fern zu halten suchen. Freilich können sie nicht immer das Ausgleiten auf dem glatten, kurzen Rasen oder auf Geröllhalden, wo der Boden unter ihnen zu weichen anfängt, vermeiden. In solchen Fällen pflegen sie sich ruhig in ihr Schicksal zu ergeben, und mit geschlossenen Augen dem Abgrund entgegenzugleiten. Trifft es sich, daß ein glücklicher Zufall, eine hervorragende Wurzel oder ein Steinkamm den jähen Sturz aufhält, so warten die klugen Thiere gelassen und regungslos den Moment ab, bis der Senne sie aus der gefährlichen Situation erlöst.

Auffällig ist besonders der Ehrgeiz um den Rangstreit, der sich unter den Alpenkühen bemerkbar macht; keine englische Hauptmannsfrau ist eifersüchtiger auf den ihr gebührenden Vortritt vor der Frau des Oberlieutenants, als die sogenannte Heerkuh auf den ihrigen. Diese Heerkuh ist nämlich nicht nur etwa die Schönste, sondern auch die Stärkste unter all ihren Genossinnen. Beim Auffahren auf die Alm trägt sie die riesigste Schelle; keine andere würde sich die Unanständigkeit erlauben, ihr vorangehen zu wollen, und mit würdigem, stolzem Schritte folgt die übrige Aristokratie, die stärksten Häupter der Heerde, ein Jedes in seiner Rangordnung nach. Gelangt durch Kauf eine neue Bürgerin in diesen aristokratischen Staat, so muß sie erbarmungslos der Reihe nach mit allen ihren neuen Genossinnen kämpfen, damit ihre zukünftige Stellung entsprechend bestimmt werden kann. Da setzt es denn nicht selten stundenlange, gefährliche Kämpfe ab, bei denen noch von Glück zu sagen ist, wenn es mit Verlust eines Hornes abläuft und nicht gar eine der erbitterten Kämpferinnen die andere über den Rand des Abgrundes hinausstößt. Wird die bisherige Heerkuh in solchem Kampfe überwunden, so wird sie von tiefer Traurigkeit befallen und nicht selten krank.

Der Ochse wird gar oft zum Sinnbild der Dummheit gewählt, und allerdings dürfte die Behauptung, daß er zu den höheren Intelligenzen, zu den tiefern Denkern im Thierstande gehöre, eine etwas gewagte sein. Trotz alledem ist aber nicht zu leugnen, daß er in Bezug auf Galanterie eine recht mittelalterlich ritterliche Gesinnung hegt und selbst in seinem höchsten Grimme sich nie verleiten läßt, diesem Princip untreu zu werden. Um so erbitterter, ingrimmiger aber führt er den Kampf gegen Seinesgleichen. Einer der merkwürdigsten Kämpfe dieser Art fand im Jahre 1847 auf einer Grenzalp zwischen den Kantonen Freiburg und Waadt statt. Es war dieses in der Zeit, wo Schweizer gegen Schweizer sich zum blutigen Streite rüsteten, kurz vor dem Ausbruche des Sonderbundskrieges. Die Freiburger waren bekanntlich der Partei des Sonderbundes zugethan, während die Waadtländer zu den eifrigsten Gegnern desselben zählten. Eines Tages nun geriethen auf der Grenzalpe die beiden gehörnten Fürsten der freiburgischen und der waadtländischen Heerde unweit einer jäh abstürzenden Felswand an einander. Zuerst begrüßte man sich mit dem obligaten, weithin dröhnenden, fast wie ein rauhes Trutzlied klingenden Brummen, dann wurde mittelst der Hörner der Erdboden aufgewühlt, daß Schollen und Steine weit umherflogen, und dann erst stießen die beiden grimmigen Kämpfer auf einander, daß der Boden unter ihren festgewurzelten Hufen erbebte.

Mit athemlosen Bangen schauten die Sennen und ihr Hausgesinde dem Kampfspiele zu. Kämpfer und Zuschauer waren in zwei fast gleich eifrige Parteien getheilt; unwillkürlich bemächtigte sich der Menschen die Idee, in den kämpfenden Bullen einerseits den Repräsentanten des Sonderbundes und anderseits denjenigen der pflichtgetreuen Kantone zu erblicken. Fast eine Stunde lang blieb die Entscheidung ungewiß; mit gesenkten Häuptern, Stirn an Stirn gepreßt, suchte einer den andern rückwärts zu drängen, ohne daß einer von den Beiden auch nur einen Zoll breit Terrain gewonnen hätte. Allmählich gerieth der Waadtländer doch einigermaßen durch den Umstand, daß sein Gegner mit dem Rücken gegen den Rand der Felswand zu stehen kam, in Vortheil, aber immer noch wehrte sich der Freiburger wie verzweifelnd und schien manchmal wieder die Oberhand gewinnen zu wollen. Mit weit vorgequollenen Augen, schnaubend vor Wuth und Angst drängte er in einem letzten Angiff den Gegner wieder von der gefährlichen Stelle zurück, und ein lustiges Jauchzen der Sennen von seiner Partei schien ihn zu tapferem Ausharren ermuthigen zu wollen – da aber sammelte der Waadtländer ebenfalls seine letzte Kraft zu einem wuchtigen Offensivstoße, ein dröhnendes, keuchendes Brummen, eine letzte Anstrengung, daß die gewaltigen Sehnen fast zu reißen schienen, und Zoll für Zoll verlor der Freiburger wieder an Boden; schon bohrten sich seine Hinterhufe in den kantigen Rand des Abgrunds ein – vergeblich! der letzte, wüthende Stoß des Gegners schleuderte ihn rettungslos in die gähnende Tiefe, auf deren steinigem Grunde er nun mit zerschmetterten Gliedern wieder hervorgeschleppt wurde. Ein Triumphgebrüll ausstoßend, das fast die Zuschauer erbeben machte, wühlte der Sieger noch eine Weile den Boden mit den Hörnern auf, auf dem der besiegte Gegner gestanden hatte, und ging dann gemessenen, stolzen Schrittes, begleitet von dem Beifallsgeschrei der eidgenössischen Partei, wieder zu seiner Heerde zurück. Die Freiburger aber sollen wirklich in der schmählichen Niederlage ihres Kämpen ein übles Omen für den Ausgang des Sonderbundskrieges erblickt haben.

Im Allgemeinen ist dem Bullen auf der Alm nicht zu trauen, ein geringfügiger Umstand, ein rothes Kleidungsstück, die können ihn zum erbitterten Angriffe auf den Menschen verleiten, und da ist dann schleuniger Rückzug hinter einen schützenden Felsblock oder eine Einzäunung fast das einzige Rettungsmittel denn gelingt es dem Ochsen, den Gegenstand seines Zornes zu erreichen, so bearbeitet er ihn so lange mit Hörnern und Hufen, bis er kein Leben in ihm mehr zu bemerken glaubt. Selbst die Inhaber solcher Thiere, die kräftigen Sennen, werden nicht selten das Opfer solcher Wuthausbrüche, denn der Stier giebt in seinem Angriffe nicht leicht nach und läßt sich lieber in Stücke hauen, als daß er nachgäbe. Dennoch giebt es auch Sennen, die sich furchtlos einem solchen Angriffe entgegenstellen, mit flinkem Griffe das tolle Thier mit der einen Hand bei einem Horne packen, mit der andern ihm in den Mund fahren, die Zunge herumdrehen und dann mit herkulischer Kraft das Thier auf die Erde schleudern. Ein einmal so gebändigtes Thier pflegt sich dann später fast nie wieder an einen Menschen zu wagen. –

Auf den hohen Alpen ist also der Stier meist ein äußerst wilder und gefährlicher Bursche. Gedrungenen markigen Körperbaus, mit dickem Kopf und krausem Stirnhaar steht er trotzig am Alpenpfade, alles Fremdartige mit finstern, jähzornigen Blicken anstarrend, bis er, wenn durch eine Kleinigkeit gereizt, mit tiefgesenktem Kopfe und aufgeworfenem Schweife in toller Wuth und Hast auf das losrennt, was sein Mißfallen erregt hat. Stundenlang ist er dabei im Stande, den Ort zu bewachen, wo er den Feind vermuthet.

Wagt einmal zufällig Meister Braun oder der Wolf einen Angriff auf eine Alpen-Viehherde, dann zeigt sich erst recht die höhere Intelligenz und der Muth der an sich sonst sanften Thiere. Schleicht sich der Bär heran, so wittern sie schon von Weitem die Gefahr, eilen unter heftigem Brüllen dem Stalle zu oder rasseln, wenn sie angebunden sind, so laut mit ihren Ketten und Schellen, bis sie die Sennen auf den Feind aufmerksam gemacht haben. Die Raubthiere pflegen die Kühe von hinten anzugreifen, da diese im Nothfalle auch ihre Hörner recht gut zu gebrauchen wissen. Ist es dem schleichenden Mörder aber dennoch gelungen, ein Opfer zu erreichen und zu zerfleischen, so sammelt sich die ganze Heerde, wie unser Bild zeigt, rund um den Räuber und schaut mit gesenktem Kopfe schnaubend und brüllend dem Fraße zu, doch wagt sie selten den Angriff auf den schmausenden Bären, der aber auch seinerseits dem Landfrieden nur wenig trauen und sich mit seinem Frühstück sehr beeilen soll.

Dieser ruhige Muth, dieses besonnene Wesen pflegen die Alpenheerden nur bei zwei Anlässen total zu verlassen. Der erste dieser Anlässe ist das Hochgewitter bei Nacht, das den Sennen fast immer, wenn nicht gerade schwere Verluste, doch wenigstens Stunden tüchtigen Schrecks zu bereiten pflegt. Denn sobald die Blitze, das Auge blendend, aus der nächsten, hoch über der Hütte schwebenden Wetterwolke zucken, vom Donnerschlage die Grundfesten der gewaltigen Eiskolosse erbeben und lärmend der Regen auf die erschrockenen Thiere herabgießt oder der Hagel in schweren Körnern auf die durchnäßten Rücken niederprasselt, da hört plötzlich alle Ordnung auf, die vollständigste Anarchie ist eingebrochen. Den Schwanz ringelnd in die Luft erhoben, mit gesenktem Kopfe rennt Alles wie toll in die finstere Nacht hinaus, meist der Richtung des Sturmwindes folgend. Geweckt und die Gefahr ahnend, stürzen die Sennen sich halbangekeidet aus der Hütte und eilen, die Milchgapsen als Regendach über den Kopf gestürzt, schreiend und lockend, mitunter auch in allen Tonarten fluchend, den tollgewordenen Thieren nach, die aber nichts mehr hören und sehen und immer geradeaus rennen, bis vielleicht ein paar der schönsten von Allen im rasenden Laufe in den nahen Abgrund gestürzt sind. Gelingt [375] es dann aber endlich den Sennen, die erschrockene Heerde wieder zu sammeln, so ist die Gefahr glücklich abgewendet; die Thiere weichen trotz Sturm und Wetter nicht mehr vom Flecke, sobald sie die schmeichelnde, beruhigende Stimme der Hirten vernehmen, als glaubten sie jede Gefahr durch die Nähe des Menschen beseitigt. Aehnlich benehmen sich bei solchem Anlasse auch die weidenden Pferde und Schafe, und erst im Sommer 1860 sprangen auf einer Entlebucher Alp zehn Füllen mit einem Male über eine hohe Felswand. Am schlimmsten wird’s in solchen Fällen bei den Schafen; springt der Leithammel vorab in den Abgrund, so folgt die ganze Heerde bis auf das letzte Stück nach.

Weniger erklärlich, als das soeben Erzählte, dürfte dem Leser als zweiter Anlaß zur Verzweiflung des Rindviehs die seltsame Thatsache vorkommen, daß, wenn auf der Alp ein Stück Vieh verunglückt oder sonst geschlachtet wird, die Sennen nicht sorgfältig genug das halbverdaute Futter des Magens oder den Inhalt der Gedärme verbergen können. Bleibt so was liegen, oder ist nicht tief genug verscharrt, so wird jede Kuh, welche die Stelle betritt, in die wildeste Aufregung gerathen, mit den Hörnern den Boden aufwühlen und damit das Signal zu einem Zusammenlauf der ganzen Heerde geben, dessen Resultat nichts Anderes als der hartnäckigste Hörnerkampf sein wird, der nicht selten schwere Verwundung oder gar den Tod einiger Stücke zur Folge hat.

Daß auch die Sage sich bis zu dem Leben des Rindviehs erstreckt, ist auf der Alm, der so sagenseligen, kein Wunder. Sagenhafter Art ist z. B. das sogenannte Alprücken, obwohl der Glaube der Sennen es nicht als etwas Fabelhaftes gelten lassen will. Sie behandeln aber diesen Stoff gewöhnlich mit einer geheimnißvollen Scheu und müssen mit einem Fremden schon auf ziemlich vertrautem Fuße stehen, bevor sie mit einer fachbezüglichen Erzählung herausrücken. So was zu besprechen, hat seine Gefahren und gehört zu den Geheimnissen des Heerdfeuers. Da soll nämlich zu besondern Zeiten, meist Abends nach dem Melken, in die Kühe plötzlich eine gewaltige Unruhe fahren und dann die ganze Heerde von unsichtbaren Wesen erfaßt und über alle Berge getragen werden, so daß auf der ganzen Alp kein einzig Stück mehr anzutreffen sei. Nach ihnen zu suchen, sei nicht eben gerathen. Glücklicherweise ständen sie am andern Morgen wieder alle gesund und munter auf dem alten Platze.

Eine der hübschesten der Sagen dieser Art ist die von der Sevinenalp im schönen Lauterbrunnenthale. Diese Alp war früher oder ist jetzt noch Gemeingut mehrerer Aelpler, die zur Frühlingszeit ihren Viehstand zu einem gemeinsamen Sennthum vereinigen und solches durch ihre Knechte den Sommer über besorgen lassen. Nun begab es sich auf dieser Alp öfter, daß die Kühe rückten und, wenn die Hirten es nicht rechtzeitig bemerkten, verschwunden waren, ohne daß ein Mensch gewußt hätte, wohin. Daß ein solches Ereigniß bevorstehe, bemerkten aber die Sennen gewöhnlich daran, daß die Kühe plötzlich starr und unbeweglich dastanden, den Kopf zur Erde senkten und keine einzige mehr ihre Schelle erklingen ließ. Trat dieser Zustand ein, so pflegten die Hirten den Kühen zuzurufen: „Steht in Gottes Namen still!“ Dann war der Zauber gelöst, und die Kühe fingen munter wieder an zu grasen. Waren aber die Thiere schon in Bewegung und jagten wie von unsichtbaren Mächten getrieben davon, so sprangen die Sennen mit Rufen und Pfeifen den Flüchtigen nach, und alle diejenigen, über welche sie noch den Melkstuhl zu werfen vermochten, blieben stehen, die übrigen aber verschwanden. War aber das ganze Sennthum gerückt, ohne daß die Hirten es bemerkt hatten, so verrichteten letztere ruhig drei Tage lang wenigstens scheinbar alle Geschäfte fort, als wenn die Heerde noch auf der Alp wäre, und nach diesen drei Tagen kehrte dann die Heerde mit fröhlichem Glockengeläut und Geschrei wieder auf die Alp zurück.

Die Skeptik ist aber auch dieser wunderbaren Sage schon stark zu Leibe gegangen. Die Simmenthaler und Saaner Sennen, die es in der Naturphilosophie schon zu ganz befriedigenden Resultaten gebracht haben, behaupten nämlich, das Alprücken auch zu kennen. Sie nennen diese Erscheinung das „Bysen“ der Kühe und sind der Ansicht, daß zu gewissen Abendstunden die Thiere von Mückenschwärmen überfallen werden und dann, wie bei einem heftigen Unwetter, mit hochgehobenen Schweifen alle auf einmal blitzschnell in einer Richtung davon rennen.

Doch kehren wir aus dem verzauberten Reiche der Sage zum Schluß in die nüchternere, aber immer noch schöne Wirklichkeit zurück und werfen, nachdem wir das Alpenrindvieh vom Leben bis in die Sage verfolgt, auch einen Blick auf den Alpenmenschen, denn auch der Mensch wird auf der Alm ein anderer. Wie gern träumerischer Aberglaube über ihn Herr wird, ebenso wird er aber Herr über eine gewaltige physische Kraft. Bei dem abgeschlossenen, einsamen Treiben der Sennen da oben im Reiche der Lüfte muß ja die märchenhafte Sage in dem Leben dieser meist gemüthreichen Naturkinder eine gar mächtige Rolle spielen. Ihr zu träumerischem Sinnen ohnehin schon geneigtes Gemüth findet gar mächtige Nahrung in der gewaltigen Natur, in den himmelanstrebenden Firsten und Zinken, die im wilden Gebärungskampfe dem Schooß der Erde entstiegen, wie in den tief geheimnißvollen Schrecknissen unzugänglicher Abgründe und Gletscherspalten, durch die der Wind seufzend wie ein klagendes Menschenkind streift. In diesen Gebieten wird jeder fallende Stein, jeder ruhende Vogel zum Mosesstab, der den Brunnen der Wunder erschließt und gleich dem schmetternden Alpenhorne aus den entferntesten Gründen die räthselhafte, antwortende Stimme des Gebirgsgeistes weckt. Diese Anschauungsweise giebt sich besonders darin kund, daß auf den höhern Alpen, wo der regelmäßige Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes in dem tief im Thale liegenden Kirchlein eine Unmöglichkeit ist, ein Senne am Sonntagmorgen vor seine Hütte tritt und mittelst seines Alpenhorns die langgezogene, von der dünnen Luft stundenweit zu den entferntesten Almen hingetragene Melodie eines Psalms oder eines frommen Liedes in die feierliche Stille des Gebirgslabyrinths hinausschmettert. Von Alm zu Alm antworten dann die Sennen auf gleiche Weise, und die zuerst majestätisch anschwellenden, dann allmählich wie Geisterhauch in leisem, kaum mehr vernehmbarem Flüstern ersterbenden Töne bilden dann ein Concert, dem in wunderbarem Zauber weder das schönste Orgelspiel, noch die Klänge der Glocken gleichkommen.

Massenhaft sind daher die Sagen, welche des Abends die Sennen, um den gewaltigen Feuerheerd versammelt, sich erzählen. Aber auch für die Entwickelung der Körperkraft sorgt das Alpenleben. Es giebt nur wenig zu thun, was zu verrichten dem Sennen nicht eine Lust und Freude wäre, und zum dolce far niente fällt täglich noch ein tüchtig Stück Zeit ab, das man, bequem auf dem Rücken liegend und selig hinduselnd, in den blauen Himmel hineinstarrend, genießen kann, und wenn das zu langweilig wird, so packt man sich gegenseitig zum Ringkampf (Schwingen) oder mißt seine Kraft, indem man probirt, wer einen achtzig- bis hundertpfündigen Felsblock am weitesten zu schleudern vermöge. Diese edle Beschäftigung bildet denn auch Bursche aus, wie den großen Mildbacher, einen seiner Zeit berühmten Schwinger. Der hatte einmal von einem riesenstarken Sennen im Unterwaldnerlande gehört und beschloß, denselben aufzusuchen. Er traf den Mann auf der Alp in seiner Sennhütte eben mit Käsemachen beschäftigt und bat ihn um einen Trunk Schotten. Der Angesprochene entsprach dem Wunsche seines Gastes in der Weise, daß er mit der einen Hand eine wohlgefüllte Milchgapse ergriff und sie dem erstaunten Schwinger vor den Mund hielt, als wär’s nur so eine Kaffeetasse. Das Erstaunen des Gastes war vollkommen gerechtfertigt, wenn man bedenkt, daß diese Milchgapsen flache, runde Gefäße ohne Handhabe von zwar geringer, kaum mehr denn sechs Zoll betragender Tiefe, aber von einem Umfange von mindestens acht Fuß sind, der Ehrentrunk also eine Schwere von achtzig bis hundert Pfunden haben mußte. Der Mildbacher war aber nicht der Mann, der sich durch solche Kleinigkeit verblüffen ließ, sondern er nahm, als ob sich das von selbst verstände, dem Sennen ebenfalls nur mit der einen Hand das Gefäß ab, wie ein Trinkglas, löschte in langen Zügen ganz gemächlich seinen Durst und reichte das seltsame Trinkgeschirr mit ruhiger Miene dem Geber zurück, der nun seinerseits in den Ausruf ausbrach: „Entweder bist Du der große Mildbacher oder der Teufel!“

Welche Bedeutung das Rindvieh in Bezug auf den Nationalwohlstand der Schweiz hat, mag dem Leser durch die folgenden Zahlen klar werden. Die Gesammtzahl des Rindviehs betrug im Jahre 1860 911,683 Stück. Eingeführt wurden im gleichen Jahre 67,314, ausgeführt 46,520. Daß die Einfuhr die Ausfuhr so bedeutend überwiegt, dürfte vielfach befremden. Dieser Umstand kommt aber daher, daß das Schweizervieh zum Schlachten zu werthvoll ist und daher das meiste Schlachtvieh in den benachbarten Staaten mager angekauft, erst gemästet und dann zu dem angegebenen Zwecke verwendet wird.

A. B.