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Sein Brautstand

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Textdaten
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Autor: A. Lichtenstern
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Titel: Sein Brautstand
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 117–128
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[117]

Sein Brautstand.

Novelle von A. Lichtenstern.
1.

Paul Weilheim, müde und abgehetzt von den Strapazen des Winters, von der Jagd um seine Person und sein Vermögen – einer Jagd, der er schon so viele Jahre zum Ziel diente – Paul Weilheim hatte seine sechswöchigen Sommerferien angetreten. In seinem Drang, nur Ruhe, nichts anderes als Ruhe zu finden, war er in einen kleinen, unweit von Wien gelegenen Ort geraten – „Mariaschutz“ im Semmeringgebiete –, das dem Weitgereisten, Verwöhnten eigentlich gar nichts bieten konnte. Und doch war ihm wohl. Wer einen offenen Sinn für das Schöne hat, der genießt es auch dann, wenn er das Schönere und Schönste kennt. Und schön war’s in Mariaschutz, und lieblich und traulich – und still! Der einzige Gasthof des Oertchens freilich, obgleich nicht sehr stark besetzt und nur von einem ruhigen, soliden, gut bürgerlichen Publikum, war ihm immer noch zu laut. Früh morgens wanderte er vom Hause, seinen Photographenapparat auf dem Rücken, ein interessantes Buch in der Tasche, so weit in das schöne grüne Land hinaus, als ihn seine gesunden, weitausschreitenden, dreiunddreißigjährigen Beine nur tragen wollten. Fand sich irgendwo ein Mittagsmahl – gut, wo nicht, so war der junge Chef der alten Großhandlung, der über Millionen verfügte, auch mit einem Glas Milch und einer größeren Anzahl von Butterbroten zufrieden. Abends zurück in seinen Gasthof, auf der schon menschenleeren Terrasse ein kräftiges Abendbrot, sein Bier, seine zwei Cigarren, den Sternenhimmel über sich, das lichtumflossene Thal zu seinen Füßen, und Frieden, Ruhe und kräftigstes Behagen in jeder Faser seines Wesens. Darauf ein ganz unbezahlbar köstlicher Schlaf bis zum nächsten Morgen – und dann wieder mit Grazie so fort. Er war’s zufrieden und wünschte sich nichts Besseres – volle vierzehn Tage lang. Aber wenn man dreiunddreißig Jahre alt und überdies ein Stück Humorist und Menschenbeobachter ist, nimmt der Genuß der Einsamkeit bald ein Ende und man wendet sich wieder seinen geehrten Mitgeschöpfen zu. Von dem freilich, was seine Welt ausmachte – [118] der sogenannten Gesellschaft – wollte er noch immer nichts wissen. Nur keine eleganten Sportgigerln und Modedamen zum Umgang hier im grünen Wald, in der freien, tannenduftigen Luft! Wenn er so auf seinen einsamen Pfaden dahinschritt, mußte er manchmal vor sich hinlachen. „Ja,“ gestand er sich selbst, „ja, es ist Zeit, daß ich ein Ende mache, daß einmal Ernst wird! Ich will ja gar nichts Besseres. Ruhe muß einmal werden, ein Haus will ich haben, und Kinder! O ja, heiraten werd’ ich schon, so bald als es nur geht! Aber frisch muß sie sein und unverdorben, und darf nicht immer denken: Steht mir das auch originell, und bin ich so nur recht pikant?“ Und so bei sich denkend, war er rüstig weitergeschritten. –

Aber endlich, nach vierzehn Tagen stummen In-die-Welt-hinauslaufens, waren ihm die zweibeinigen, aufrechtgehenden Lebewesen doch wieder interessanter geworden, und er fing an, die Mariaschutzer „Kurgesellschaft“ neugierig zu mustern. Es war nicht viel an ihr zu sehen. Ein paar Wiener, Grazer und Wiener-Neustädter Bürger und Spießbürger; das männliche Geschlecht nur in älteren Exemplaren vertreten, Kinder in Menge und eine stattliche Anzahl junger Damen, von denen jedoch vorläufig keine einen Eindruck auf ihn machte.

Er stellte bald bei sich fest, daß das Publikum in drei Gattungen zerfiel: in die Vielessenden, welche die Mahlzeiten offenbar für den Hauptzweck ihres Aufenthaltes ansahen und so ziemlich alle zwei Stunden eine hielten; in die Vielgehenden, die es thaten wie er, und endlich in die müßig und offenbar sehr gelangweilt Herumstehenden.

Deshalb fiel ihm bald eine aus Vater, Mutter und Tochter bestehende Familie besonders auf, die er in keine der drei Gattungen einreihen konnte. Sie marschierten zwar ganz ausgiebig, machten aber durchaus keinen Sport aus der Sache; sie aßen nur viermal des Tags, zwar anscheinend gut und mit bestem Appetit, aber doch ohne Uebereifer und Uebermaß. Und schließlich – und das war das Merkwürdigste – sie wurden alle drei sehr häufig mit Büchern in den Händen gesehen – mit Büchern, in denen sie sogar lasen, und zwar mit einem unverkennbaren Ausdruck des Vergnügens und Interesses lasen. Ernsthaft lesende Menschenkinder – wie lächerlich – wie unmodern! Selbst unter den Mariaschutzer Spießbürgern unmodern! Und sie sahen gar nicht so aus, als ob nur leichte französische und englische Romane ihre Lektüre bildeten – sie sahen sehr gut aus, sehr fein, sehr intelligent – es waren weitaus die nettesten Leute in ganz Mariaschutz. Ja, er hatte überhaupt schon lange, schon sehr lange nicht so nette Leute gesehen. Die junge Dame nun schon gar, aber auch die Eltern waren sehr, sehr nett, und er studierte die kleine Gesellschaft immer eifriger.

An dem alten Herrn (Paul taxierte ihn auf drei- oder vierundsechzig Jahre) war eben nicht viel auffallend, außer seinen gescheiten, gutmütigen Spötteraugen. Die Frau aber, gewiß gut um zehn Jahre jünger, konnte Paul gar nicht oft genug ansehen: so ein feines, liebes, gutes Matronengesicht! Etwas verblüht, aber man sah, daß sie einmal sehr hübsch gewesen sein mußte, hübscher noch als ihre hübsche Tochter. Und wie sie sich trug! Strahlend von Nettigkeit und mit so außerordentlicher und dabei so geschmackvoller Einfachheit, daß Paul, der ein feines Auge für weibliche Kleidung besaß, nie eine besser angezogene Frau gesehen zu haben meinte. Die junge Dame nun – ein sehr junges Ding noch, wie Paul meinte, allerhöchstens neunzehn (er irrte aber, sie war einundzwanzig vorüber) – war sicherlich allerliebst, und ebenso sicher war ein großer Teil dieser angenehmen Eigenschaft auf ihre strahlende Jugendfrische zurückzuführen. Immerhin: die große, kraftvoll geschmeidige Figur, deren Bewegungen die unbefangenste Anmut zeigten, und die hellleuchtenden blauen Augen mit ihrem treuherzigen Blick waren an sich sehr schön. Sie trug immer hellfarbige Leinwandblusen, Lodenröcke und einen weißen Knabenhut, einen sogenannten „Girardi“, und schien zu jenen beneidenswerten weiblichen Wesen zu gehören, denen alles steht, aber die Einfachheit am besten.

Wie gesagt, sie gefiel Paul (wem hätte auch das frische Ding nicht gefallen?), aber das war’s nicht, was den Verwöhnten immer wieder mit Augen und Gedanken zu der kleinen Gruppe zurückkehren ließ. Die drei – es waren merkwürdige Leute! Vor allem genügten sie sich selbst, hatten offenbar gar kein Verlangen, mit irgend einem andern ein überflüssiges Wort zu sprechen, und das Wort „Langeweile“, das Paul auf den Gesichtern der Mariaschutzer Sommergäste gerade so deutlich las, wie er es in den Salons und in eleganten Weltbädern auf viel fashionableren Gesichtern gelesen hatte – das Wort schienen sie einfach nicht zu kennen. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen, hatten immer etwas zum Lachen, wohl auch zum Spotten – aber sehr weh mochte dieser Spott wohl nicht thun. Oder sie saßen in schönster Eintracht und lasen, oder der Alte blies, in Gedanken verloren, seine Rauchwolken vor sich hin, während die beiden Damen mit Handarbeiten beschäftigt waren, und dazwischen schauten sie mit so hellen und interessierten Augen um sich und das kleinste Ereignis bereitete ihnen sichtlich so viel Spaß und Unterhaltung, daß auch Paul anfing, das Mariaschutzer Kurleben außerordentlich interessant zu finden – nämlich im Spiegel dieser drei Augenpaare.

Auf den Spaziergängen – er war ihnen manchmal in bescheidener Entfernung gefolgt – wurde meist eine eifrige Unterhaltung geführt; manchmal freilich war’s wieder ganz still, aber üble Laune oder Mangel an Gesprächsstoff waren schwerlich die Ursachen. Dann ging das Mädchen wohl mit ihrem raschen leichten Schritt ein Stückchen voraus, pflückte sich da eine Glockenblume, dort eine rotleuchtende Cyklame, sang mit leiser Stimme, ein paar Takte vor sich hin – und kehrte dann zu den Eltern zurück, den Schritt nach den ihrigen richtend und im öfteren Umblicken an ihrem Gespräch teilnehmend.

Ueberhaupt hatten die drei eine Art, sich anzusehen, sprechend und lachend, oder auch ganz ruhig, wenn eins von ihnen etwa ins Haus ging, während die anderen ihm nachsahen – mit freundlich heiteren, durchaus nicht sentimentalen oder überschwenglichen Blicken, aus denen aber Paul doch die Ueberzeugung schöpfte, daß jedes von ihnen für jedes nötigenfalls ins Feuer gehen würde. Und diese Thatsache, die ihn doch gar nichts anging, ihm eher hätte ein wenig lächerlich erscheinen sollen, erfüllte ihn mit einem sehr merkwürdigen Wohlbehagen.

Dazu kam noch, daß der alte Herr eines Tages seine Tochter beim Namen rief: „Emma!“ Nun war die Eroberung Paul Weilheims vollständig – Emma! Emma! So ein guter alter deutscher unverstümmelter und unverschnörkelter Rufname. Es war großartig!

„Franz!“ rief er laut dem Kellner (es war Frühstückszeit und „seine“ Familie saß nicht weit von ihm), dann leise zu dem Herbeigeeilten: „Wer sind die Herrschaften dort?“

Der durch schöne Trinkgelder anhänglich gemachte Franz beeilte sich, Auskunft zu geben: „Herr Doktor Freisinger – Hof- und Gerichtsadvokat – aus Wien! Kommt schon den dritten Sommer her!“

Doktor Freisinger? … Paul dachte nach. Freilich, von dem hatte er schon gehört (Pauls Schwager war einer der gesuchtesten Rechtsanwälte Wiens). Aelterer Advokat schon – nichts Lärmendes, Reklamesüchtiges wie sein Herr Schwager – aber schönes solides altes Geschäft – großartiger Ruf – aha, weiß schon! Und Paul sah sich, der Abwechslung halber, „seine drei“ mit erneuter und verstärkter Aufmerksamkeit an – und sein Entschluß war gefaßt.

„Seinen Leuten“ war zwar ganz entschieden eine stumme und doch deutliche Abwehr aufgeprägt, aber, wenn man nur will und wenn man nicht schüchtern ist – und Paul in seiner Eigenschaft als „große Partie“ hätte es wirklich schwer gehabt, schüchtern zu bleiben – da geht’s schon. Und es ging wirklich. Erst ein ausgesucht höflicher Gruß bei Begegnungen („wie reizend die Kleine dankt!“), dann ein gegen den alten Herrn hingeworfenes Wort über die Wetteraussichten für den Tag, über den Nebelstreifen oberhalb des Schneebergs. Dank den getreuen Kellnern war zur Mittagszeit der Tisch neben dem Freisingerschen bald erobert – und kurz, ein kleiner Schritt folgte dem andern, ein Wort gab das andere – und drei Tage nach seinem Entschluß stand Paul drüben an „seinem“ Tisch – die Freisingers wußten selbst nicht zu sagen, wie dieses Attentat auf ihre Ruhe und Ungestörtheit erfolgt war – und stellte sich in seiner weltmännischen Manier, einer hübschen Mischung von Freundlichkeit [119] und imponierender Sicherheit, „seinen Leuten“ vor: „Paul Weilheim – aus Wien.“

Der große, jedem Wiener geläufige Name machte wenig Eindruck – der alte Herr schien nicht daran zu denken, daß er „diesen“ Weilheim vor sich habe. Aber Unmenschen waren die drei doch nicht, und nach dem ersten kleinen Befremden entwickelte sich eine angeregte Konversation, in deren Verlauf die gedachte Kritik der beiden Alten lautete: „Ein netter Mensch! Ein sehr angenehmer Mensch!“ – – und die Pauls: „So seid ihr also! Aha! So hab’ ich mir’s gedacht!“ – – Fräulein Emma, anfangs etwas ernst und gemessen, machte ihm bald das aufrichtige Vergnügen, die blauen Augen voll und freundlich auf ihn zu heften. Auch wurde ihm die Genugthuung zu teil, mit seinen trockenen Bemerkungen mehrfach das ihm schon bekannte Lachterzett zu entfesseln (Fräulein Emma Oberstimme, goldklarer Sopran); und als Paul Weilheim sich nach diesem Tag, der ihm noch einen Waldspaziergang zu viert gebracht hatte, in sein Zimmer zurückzog, da hatte er vor dem Einschlafen das erstaunlich angenehme Gefühl: „Da hast du einmal einen klugen Streich gemacht“ – – und noch später, schon im Hinüberdämmern, das zweite: „Wunderhübsche Augen – ein liebes Ding!“


2.

Zehn Tage später – ein prachtvoller, nicht zu heißer Vormittag, Anfang August. Im Mariaschutzer Wald wandern einträchtiglich, in einiger Entfernung voneinander, ein altes und ein junges Paar. Das alte hat sich, wie immer, viel zu erzählen – das junge ist heute, durchaus nicht wie immer, sehr still.

„Mein gnädiges Fräulein,“ sagt Paul nach der soundsovielten längeren Pause – bleibt stehen, schweigt, und dann: „Mein Fräulein* – er geht weiter – „mit der Unterhaltung ist heute, wie Sie ja sehen, nicht viel los. Ich will mir’s also von der Seele sprechen – was mich heute so unbrauchbar macht – wenn Sie mir nämlich gütigst die Erlaubnis geben.“

Er schweigt wieder, atmet etwas tiefer und betrachtet mit großer Aufmerksamkeit die kleinen Steine auf dem Weg. Dann nach einer Weile: „Ich bin, wie Sie gewiß gemerkt haben, g’rad’ kein schüchterner Jüngling – Jüngling so wenig wie schüchtern – aber was ich Ihnen heute sagen will, das geht doch nicht so leicht von der Leber weg. Bitte, schau’n Sie mich mit Ihren – – Ihren Augen nicht so starr an – schau’n Sie doch lieber ein bissel“ – mit Handbeweguug – „da herum.“

Pause.

„Ich komm’ mir selbst mit all den Vorbereitungen und Vorreden sehr lächerlich vor. Ich brauch’ mich auch wirklich nicht zu schämen – ich hab’ schon viel dümmere Streiche in meinem Leben gemacht. Nein, bitte“ – etwas flüssiger: „schau’n Sie mir nur wieder mit Ihren lieben Augen ins Gesicht – jetzt wird’s schon gehen.“ Und von da an immer flüssiger, rascher und leiser: „Fräulein Emma – was soll das Hin- und Herreden – ich werd’ Ihnen wohl sehr lächerlich vorkommen, wir kennen uns jetzt g’rad’ zehn Tage und wissen eigentlich nicht gar viel voneinander – so äußere Sachen, mein’ ich – – und – – und ich will Ihnen auch gar nicht einreden, daß ich bis über beide Ohren in Sie verliebt bin. Ich muß Ihnen sogar gestehen, daß ich diese sogenannte Verliebtheit schon oft bedeutend stärker gespürt hab’ als just heute – – und doch, Fräulein Emma – was ich hier so von Ihnen gesehen hab’ – so lieb und schön und gut und unverdorben wie Sie sind – und die zwei prachtvollen Leute da hinten, Ihre Eltern – und wenn Sie wüßten, wie ich – es ist ja lächerlich, ein großer, alter, vom Leben hartgesottener Mensch und keine Spur von sentimental – wie ich mich sehne – nach einem Fleck, der einem allein gehört, nach einem guten Kameraden – nach einem Menschen halt – und jetzt Sie da vor mir, wo ich gar nicht mehr geglaubt hab’, daß so unverdorbene, unverzogene Mädeln noch existieren – – – Und kurz und gut, ich will Ihnen nicht die Beleidigung anthun und Sie fragen: ‚Magst du mich?‘ Was wissen Sie denn von mir, was kennen Sie denn von mir? Nur fragen wollt’ ich Sie eben“ – er bleibt wieder stehen und seine Stimme wird sehr leise und sehr sanft – „überlegen Sie sich’s halt! Erlauben Sie mir, daß ich um Sie und Ihre lieben Eltern bleib’, damit Sie drei mich kennenlernen! Der Papa soll herumfragen nach mir und soll mich mit den Brillengläsern durch und durch schau’n. Vielleicht sieht er dann, wie ich’s mein’, und daß ich vielleicht doch nicht ganz und gar zu schlecht bin für seinen Schatz. Und Sie – – vielleicht – wenn Sie mich kennen – – und sehen dann – und – – also kurz und gut, ich möchte gebeten haben – – und also, bitte recht schön, erlauben Sie mir’s – bitte – thun Sie’s!“

Seine Stimme ist immer leiser geworden – ganz leise. Er wirft einen raschen Blick auf sie, wird rot und sieht schnell wieder fort und auf die Steine auf dem Weg.

„Wollen wir nicht weiter gehen?“ sagt sie endlich sanft. Und bleibt nach ein paar Schritten stehen, streckt ihm eine leicht zitternde Hand entgegen und lächelt ihn mit feuchten und dankbaren Augen an. „Ich will Ihnen sagen, was ich denke. – – Sie sind nicht stürmisch verliebt – nun – ich bin’s auch nicht! Aber ich – sehen Sie – ich hab’ mich immer vor dem Heiraten gefürchtet. Ich weiß schon, es muß sein, denn die Eltern erwarten’s als ihr einziges Glück. Aber wenn mich die Mama gefragt hat – zwei- oder dreimal ist’s doch schon vorgekommen – der und der läßt dich fragen, ob –? Glaubst du, daß du könntest? – – Sie müssen mich ja nicht für eine wählerische Prinzessin halten – aber – ich hab’ nie können! Ich bin nicht so dumm, auf die große Verliebtheit zu warten – aber ich – sehen Sie – ich hab’s halt zu Haus so gut. Ich hab’ mir nie ein Herz fassen können. Sie aber“ – Augen, Mund und das ganze, purpurrotgewordene Gesicht lächeln ihn an – „Sie sind ganz anders. Ich hab’ keine Angst vor Ihnen – ich trau’ Ihnen. Wenn Sie auch spöttisch sind und ein Weltmann – o ja, Sie sind einer – und wenn Sie auch immer sagen, daß Sie nicht sentimental sind – Sie sind doch ‚sentimental‘. Sie sind gut, Sie sind lieb, bei Ihnen wird’s nicht kalt sein. Sie“ – Augen und Gesicht strahlen ihn an – „Sie haben meine Eltern lieb – – ich kenn’ Sie jetzt schon – ich weiß schon, was Sie sind! Ich dank’ Ihnen für das, was Sie mir vorhin gesagt haben – und jetzt, nicht wahr, jetzt wollen wir’s ihnen sagen.“

Und sie wenden sich leise und gehen Hand in Hand durch den Wald – durch den grünen schweigenden Wald – den Eltern entgegen.


3.

Was die drei Freisingers gesagt haben, als sie endlich erfuhren, daß „ihr“ Weilheim „dieser“ Weilheim war, und daß die kleine Emma in aller Unschuld sich das große Los aus der geheimnisvollen Urne gefischt hatte? Nun, es waren, wie gesagt, närrische, altmodische Leute. Sie waren überdies selbst wohlhabend – die Kanzlei ging sehr schön, trotzdem Doktor Freisinger das Goldmachen nicht so recht verstand und zahlreiche arme Verwandte besaß – und hatten, was sie brauchten: nämlich eine verfeinerte, aber nicht überfeinerte Lebensweise. Sie waren also von der großen Neuigkeit nicht eben überwältigt. Aber, daß das Kind damals im Wald mit einem so ruhig freudigen Gesicht dahergekommen war, und daß der glänzende Weltmann das einfache junge Ding mit einer Art von zärtlichem Respekt behandelte – das war freilich eine andere Geschichte und ging den Alten noch ganz anders im Kopf herum als die Millionen des zukünftigen Herrn Schwiegersohns. Und doch war des Vaters erstes Wort gewesen: „Nur ruhig – und nur nichts überstürzen! Sich kennenlernen – sehen, ob man zu einander paßt – und dann weiter schau’n!“

Dabei war’s geblieben. Aber der gestrenge Papa sah, daß das Kind schon seine Meinung gefaßt hatte, und die lautete dahin, daß man sich kenne, und daß man zu einander passe. Und der Vater hielt das Kind für weise und hatte die Erfahrung gemacht, daß, wenn das Kind sagte: so ist’s – daß es dann auch richtig immer so gewesen war. Und darum hielt er selbst das „Kennenlernen“ und den Aufschub der eigentlichen Verlobung für eine bloße Formalität; und die drei anderen wußten, daß er es dafür hielt, und waren’s zufrieden. Und so gab’s denn damals auf dem Semmering vier Menschen von ganz eigentümlicher Gemütsverfassung: zwei alte, die den ganzen Tag [122] wie in einem Taumel herumgingen und jeden Abend sich selbst und einander, fragten: „Ist’s denn möglich, daß g’rad’ wir mit und an dem Kind so viel Freude haben sollen?“ – – Und zwei junge, die sehr ruhig, sehr blühend, sehr vergnügt waren, äußerst verständig, gar nicht „übertrieben“, gar nicht „übermäßig verliebt“ – aber dafür von ganzem Herzen glücklich.


4.

Also „sich kennenlernen“ lautete die Parole. „Gut, lernen wir uns kennen!“, war die fröhliche Antwort der beiden gewesen. Das erste, was Paul in dieser Warte- und Probezeit that, war, seine Wohnung im „Hotel Bellevue“ mit einer im Gasthaus oben auf dem Semmering zu vertauschen. In seinen Augen war Emma seit jenem Waldgespräch seine verlobte Braut – und warum seinen Schatz auch nur einem Achselzucken aussetzen? So war er denn, zum Schmerz des ganzen Dienstpersonals, mit Sack und Pack übergesiedelt. Aber täglich um sechs Uhr morgens war er wieder da, zu Pferd, Wagen oder Rad herübergekommen. Natürlich war um diese frühe Stunde keine Aussicht, etwas von „seinen Leuten“ zu sehen. Da strich er denn ein wenig im Wald herum, sorgfältigst bemüht, sich nicht zu weit aus dem Umkreis des Hauses zu verlieren – denn man kann ja doch nicht wissen!? Punkt sieben Uhr aber ging er dem alten Herrn und dem Fräulein entgegen. Ein Händedruck, ein lustiges „Guten Morgen“ von beiden Seiten – und dann noch, was die zwei Augenpaare dazu sprachen.

Und nun das gemeinsame Frühstück auf der Terrasse – ein sehr gutes Frühstück mit viel Gelächter, eifrigster Konversation und sehr viel Sonnenschein in sechs Augen! Dann kommt die Mutter, und er begrüßt sie – nun, wie man eben die Mutter begrüßt. Natürlich sehen sich die nach und nach erscheinenden Sommerfrischler mit großen, weitaufgerissenen Augen das interessante Schauspiel an – einen Tag wie den andern, obgleich sie sich ja nachgerade daran gewöhnen könnten. Ebenso natürlicher Weise wird gelächelt und geflüstert, und der Papa ist unglücklich. Aber, mein Gott, man muß sich doch kennenlernen! Und nun ist der Waldspaziergang an der Reihe. Paarweise hintereinander natürlich. Die Alten sind meist einsilbig und ganz von dem Bestreben erfüllt, etwas von der Konversation da vorn zu erhaschen. Die Jungen aber sind total von ihrer Beschäftigung in Anspruch genommen: eins liefert nämlich dem andern eine ausführliche Lebensbeschreibung. Sie: unverkürzt, wie jemand, der nichts zu verbergen hat; er aber stockt an mancher Stelle, legt sanft seine Hand auf die ihrige und meint: „Das heben wir uns für später auf!“ Sie nickt ihm darauf mit ihrem guten Lächeln zu; als Großstadtkind hat sie ja ihre stillen Ahnungen, aber felsenfest steht ihr Vertrauen, er könne Unwürdiges niemals gethan haben! Im übrigen bleibt ihr Benehmen zurückhaltend. Der Papa will „das“ nicht, und so thun sie’s nicht – auch in der grünen stillen Waldeinsamkeit nicht. Nur die Hand giebt sie ihm manchmal, und die bekommt sie dann nicht gar zu bald zurück. Und manchmal machen sie kehrt und gehen den Eltern entgegen. Und Emma streicht der Mutter über die Wange und hängt sich an Papas Arm, und jedes von den vieren denkt dann still bei sich, daß das Leben wirklich keine schlechte Sache sei.

Zur Mittagszeit freilich ist große Trennung. Der Papa will nicht, daß er mit an ihrem Tisch sitzt – auch den Tisch nebenan soll er nicht bekommen – und da giebt’s keine Widerrede. Sein Appetit leidet nicht übermäßig unter der Trennung, aber drei-, viermal während der Mahlzeit macht er einen Abstecher auf das verbotene Territorium. „Das muß er doch schnell dem Herrn Doktor erzählen“ – „und weiß denn die gnädige Frau schon, daß –,“ und so weiter. Beim schwarzen Kaffee findet indes die Wiedervereinigung statt, und da erzählt man sich so viel, als ob man sich drei Wochen nicht gesehen hätte. Dann aber kommt ein bitterer Augenblick. Nach Tisch ziehen sich nämlich die Freisingers auf ihre Zimmer zurück, nehmen, selbstverständlich, ihr Kind mit sich und lassen jemand zurück, der sich sehr einsam und überflüssig vorkommt. Dieser jemand schlendert zweck- und heimatlos um das Hotel herum und umkreist lange vor Ablauf einer Stunde (so lange dauert die Siesta der alten Herrschaften) die Hausthür. Fensterpromenaden sind aufs strengste untersagt. Es nimmt ja aber bekanntlich alles ein Ende, und so ist denn schließlich das vierblätterige Kleeblatt wieder glücklich beisammen. Und so, im Gehen und Schlendern, im Horchen, Sprechen, Lachen und Schweigen vergehen die stillen, warmen Sommertage. Zu Nacht ißt man zusammen – der Papa ist ja kein Tyrann – und hat das Mittagsessen geschmeckt, so schmeckt das Abendbrot noch um sehr vieles besser. Und dann kommt der Abschied. Nach Hause geht er (jetzt ist nichts zu versäumen), und wenn der Abend schön warm oder schön kühl ist, oder wenn der Mond sehr hell scheint, oder wenn sich sonst ein Vorwand findet – und er findet sich immer – so geht man ein kleines Stück mit. Paarweise, natürlich! Gewöhnlich geht man weiter, als man ursprünglich wollte, schließlich heißt’s aber ernstlich: umkehren. Er verabschiedet sich von den Eltern so, als ob er sie längere Zeit nicht sehen sollte und als ob ihm das leid thäte. Sie führt er ein paar Schritte weiter, nimmt erst eine, dann die andere Hand, und schließlich küßt er die beiden Hände – langsam, sanft, er will ja den weichen Händchen nicht weh thun, aber zu verschiedenen Malen und ziemlich ausführlich. Und endlich ist er doch gegangen. Bevor er in der Biegung verschwindet, hat er sich noch ein halbes Dutzend Mal umgesehen, und immer sind die drei noch gestanden und haben gegrüßt. Er aber hat wohl nicht alle drei gesehen. – – –

Und so vergehen die Tage, still und warm, einer nach dem andern – und so lernen sie sich kennen.


5.

Pauls Urlaub ist bald zu Ende, und seine Probezeit ist es nun endlich ganz. Eines schönen Tages hat ihn Doktor Freisinger in sein Zimmer gebeten, die Damen waren auch da, und dort hat er ihm eine kleine Rede gehalten, zu der die glänzenden Augen von Mutter und Tochter die stumme, aber angenehme Begleitung bildeten.

„Ich kenn’ Sie jetzt so ziemlich,“ hat der alte Herr unter anderm gesagt, „soweit man eben sagen kann, man kennt einen andern. Vielleicht ist’s eine Dummheit und ein Leichtsinn, daß ich Ihnen, den ich ja eigentlich doch nicht kenn’, das Kind da geb’, das einzige, das ich hab’. Ich bau’ eben auf Ihre ehrlichen Augen, und darauf, daß sie ein Herz zu Ihnen gefaßt hat, und daß Sie an ihr hängen. Sie ist gar nicht besonders glänzend, das muß ich schon selber sagen, und eigentlich ein schüchternes Ding, das sich oft nicht traut, den Mund aufzumachen. Daß Sie doch so bald gemerkt haben, was in ihr steckt, das spricht in meinen Augen mehr für Sie als alle Ihre Millionen. Was die Millionen betrifft – nun, Sie wissen’s am besten, daß wir drei nicht danach gefischt haben. Ich hab’ immer gehofft, daß mein Kind keinen Hungerleider bekommen wird, an so was hab’ ich natürlich nicht gedacht. Nun es da ist, will ich nicht behaupten, es sei mir unangenehm. Brauchen thut meine Kleine so was nicht zum Glücklichsein und Glücklichmachen, aber es wird ihr nicht schlechter stehen als einer andern. Und nun, lieber Bursch’, da hast du sie! Sei gut zu ihr, mach’ ihr’s warm und gemütlich, sie ist’s so gewöhnt, und sie verdient’s! – Und daß du“ – nach einer kleinen Pause, mit nicht gerade glänzend gespielter Heiterkeit – „statt einer – zwei Schwiegermamas bekommst und nicht mehr los wirst, das darf dich nicht stören. Wir wollen dir nicht gar zu arg zur Last fallen, aber ein bissel muß es halt doch sein. Wir haben nur das Eine auf der Welt – und wir haben’s lieb!“

Und welche Rolle hat Paul, der Spötter und Weltmensch Paul, in diesem Familienstück gespielt? Er hat sich auf der Eltern Hände gestürzt, hat sie, trotz allen Sträubens, abwechselnd gestreichelt, gedrückt und geküßt, und dazu recht unzusammenhängende und ungeschickte Worte gestammelt.

Er wolle sie glücklich machen – die Eltern werden schon sehen – und tausend Dank – und sie sollen auch ihn liebgewinnen – er bitte schön darum – und nochmals Dank – tausend Dank!

„Und Schwiegermamas wie euch beide noch ein Dutzend – nie zu viel – das ist ja ein Extrageschenk – ich hab’ mich ja zuerst in die Eltern und dann erst in die Tochter verliebt.“

„Verliebt?“ ruft da jemand, der bisher geschwiegen hat und jetzt nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll – „Verliebt? Du bist ja gar nicht verliebt!“

[123] „Nein! Aber nein! Nein! Keine Spur!“ schreit Paul, läßt die Eltern los, zieht oder reißt vielmehr diesen Jemand an sich – und zeigt ihm dann, unbekümmert um die Zeugen, auf eine höchst einfache, eindringliche und verständliche Weise, wie er – nicht verliebt ist.


6.

Der Oktober ist ins Land gezogen, und unser Brautpaar ist nun sturm- und wetterfest, hat die mannigfachen Stürme und Leiden dieses Standes durchgekostet und befindet sich merkwürdigerweise noch immer recht wohl und zufrieden. Die Geschichte hat sehr schön angefangen. Kaum hatte damals im kleinen Mariaschutzer Gaststübchen der Vater dem ungestümen Freier sein Kind zugesprochen, da hat sich der auch um weiter nichts gekümmert, hat die neugebackene Braut genommen und mit sich fortgezogen, ins Freie hinaus. Mama hat dem Vater abgewinkt (sie meint, wenn sie ihm das Kind fürs Leben anvertraut, warum nicht für eine Stunde?), und so waren sie denn allein. Er, Paul nämlich, hat weder Scheu noch Scham gekannt, hat den Arm um sie gelegt, und wer immer ihm in den Weg kam, den hat er angelacht.

„Meine Braut, Herr Westermayer!“ hat er dem vorbeikommenden Wirt zugerufen, hat aber die Gratulation nicht abgewartet, sondern ist weiter, immer weiter geeilt mit ihr, die ihm lachend, willenlos, tief errötend und wunderhübsch aussehend, gefolgt ist. Vorüber an den kaffeetrinkenden, zur Salzsäule erstarrenden Sommerfrischlern; vorüber an weißhaarigen Bauernkindern, die er anhält und mit kleinen Silbermünzen beschenkt – in den Wald, in seinen Verlobungswald hinein! Dort zieht er sie weiter, immer rascher, immer toller, und endlich kommt er ins laute, übermütige Singen, wie ein freiheitstoller Schuljunge – und sie lacht dazu, und lacht und lacht – denn sprechen hat sie nicht können. –

So weit, wie gesagt, ging alles schön und gut. Lang hat’s nicht gedauert, denn Paul mußte wieder ins langvernachlässigte Comptoir zurück. Da gab’s denn die erste Trennung. Sie waren sehr ruhig, sehr verständig und gefaßt und ließen den Kopf nicht hängen – aber ein sonderbares Gefühl war’s doch – ein sehr sonderbares Gefühl! Es handelte sich übrigens nur um acht Tage, und schließlich, wozu sind denn Feder, Tinte und Papier auf der Welt? … Nach acht Tagen sind auch die Freisingers in die Stadt zurück, und zwar unter der schützenden und sorgenden Begleitung Pauls, der eines schönen Tages vor der erstaunten Familie stand, weil er es nicht über sich gewinnen konnte, seine drei schutzlos und verlassen den Gefahren und Beschwerden einer Semmeringfahrt auszuliefern. Ob Emma unter solchen Umständen sehr viel von der Aussicht gehabt haben mag? …

Zu Hause hat eine große und feierliche Vorstellung stattgefunden. Da waren nämlich die drei Freisingerschen Dienstboten zu einer feierlichen Gruppe vereinigt, alte, erprobte Hausmöbel, die in dem Punkt „Bräutigam von der Fräul’n Emma“ durchaus keinen Spaß verstanden und nicht wenig darauf brannten, das neue Familienglied kennenzulernen. Die Prüfung war rigoros, aber Paul bestand mit Auszeichnung. Dann wurde er im Triumphe durch das ganze Haus geführt, trotzdem inzwischen die Suppe kalt zu werden drohte. Die Wohnung glänzte schon in ihrer vollen Winterschöne, sie glänzte überdies noch in echt Freisingerscher Sauberkeit, und der Eindruck, den sie auf das neue Familienmitglied machte, äußerte sich zunächst darin, daß er nichts sprach und seine Suppe vollends kalt werden ließ.

„Dummkopf!“ lautete sein stummes Selbstgespräch, „was willst du eigentlich mit deinem dummen Geld Leuten bieten, die so wohnen!“

Er hatte nicht ganz unrecht; die Wohnung war ein Schmuckkästchen und im Freundeskreis eine Art Berühmtheit. Sie war, wie die Freisingers selber waren: sie war schlicht und echt. Da gab’s keine Ueberflüssigkeiten und keine sogenannte malerische Unordnung, alles war vornehm und ungemein behaglich. Große, helle Räume (das Haus, auf der Schottenbastei gelegen, war noch ziemlich neu), gediegene, ein wenig unmoderne Möbel, prächtige Perser Teppiche, gar keine Nippsachen (auch in Emmas Zimmer nicht), schöne Stiche überall, hier und da ein gutes Oelbild, eine geschmackvolle Handarbeit aus Emmas kunstreichen Händen, eine Menge grüner Blattpflanzen, und alles am rechten Platze, daß man das Gefühl hatte, es könne gar nicht anders sein.

Nun, der verstimmte Bräutigam gewann in kurzer Zeit Sprache, Humor und Appetit wieder, und das Mahl verlief so, wie die Mariaschutzer Diners und Soupers alltäglich verlaufen waren – also nicht eben ungemütlich. Paul that dem sehr gelungenen, aus vier Gängen und Nachtisch bestehenden Mittagsmahl die größte Ehre an, ein Umstand, der Mama, Tochter und das aufwartende Mädchen mit Stolz und Freude erfüllte. Nach Tische machte er sich beim Auspacken sehr nützlich und wurde dann zur Belohnung in Emmas Wohnstübchen geführt. Sie hatte nämlich ihr großes Zimmer in Schlafraum und Boudoir abteilen lassen. Er bekam natürlich nur letzteres zu sehen, und es wurden ihm alle Schätze des herzgewinnend freundlichen Kabinettchens vorgeführt und erläutert: die Bücher, Bilder, Blumen, Sammlungen, und so weiter. Ihm dünkte alles sehr merkwürdig und interessant, am meisten freilich, nach wie vor, ihre blauen Augen und frischen Lippen. Und so verlief denn dieser Tag still, philiströs, aber auch, wie er sich selber sagte, ganz lächerlich glücklich.

Dank dem Umstand, daß der beiderseitige Freundes- und Verwandtenkreis noch auf dem Lande weilte, war ihnen noch eine Reihe so guter Tage, oder eigentlich Abende beschieden, die nur den Fehler großer Kürze hatten – ein Fehler, der bekanntlich allen guten Dingen anhaftet. Dazwischen wurde auch über „Ernstes“ gesprochen. Die Hochzeit war, nach vielen ernsten Beratungen, auf den zehnten Januar angesetzt worden. Paul hatte rebellieren wollen, war aber durch Vernunftgründe, und noch durch andere Gründe, die blaue Augen und streichelnde Hände hatten, beschwichtigt worden. Vor dem November wollte der Papa, der einen altmodischen Abscheu vor einem kurzen Brautstand hatte, absolut nichts vom Heiraten wissen; im November wieder konnte Paul nicht vom Geschäft fort. Eine Hochzeit im Dezember ging auch nicht gut, denn Paul hatte großartige Reisepläne, die sich weit über Weihnachten erstreckt haben würden, und am Weihnachtsabend nicht beisammen zu sein, das hätte den drei Freisingers das Herz gebrochen. Der zehnte Januar aber war Mamas Geburtstag und zugleich auch ihr Hochzeitstag, und dieser Umstand entschädigte Emma ein wenig für die Wartezeit, die auch ihr lang genug erschien. Paul aber, der seine ungeduldige Sehnsucht kaum mehr bezwingen konnte, fand die Zeit bis zum Januar nicht „lang“, sondern einfach endlos. Wohl hatte er in seinem Leben schon so viel genossen, so viel erlebt, Schönes, Interessantes, Lustiges, Sensationelles; nur Glück, das hatte er eigentlich seit den Kinderjahren nicht mehr gekostet, und auch damals war’s wohl nicht das rechte und eigentliche gewesen. Und nun war das seltene Ding auf einmal bei ihm und umfing ihn mit so warmen, weichen Armen, daß er eigentlich nicht das Herz hatte, zu rufen: „Weiter, weiter! Es soll noch besser kommen.“

Er wußte, daß er durch grüne, duftende Fluren in ein noch reicher blühendes Land schritt. Es zog ihn wie an Ketten hinüber, und hielt ihn doch wieder mit sanften, leisen Banden hier fest … Und so, in den kleinen Ereignissen und Freuden, die jeder neue Tag brachte, verging denn auch ihm diese schreckliche Wartezeit im Grunde recht leidlich.

Unterdes steckten die Damen tief in Ausstattungssorgen. Frau Doktor hatte als sorgsame Mutter schon manches schöne und gediegene Stück vorbereitet, aber die Verhältnisse waren gründlich andere geworden; wenn sich Emma vorläufig auch noch so sehr und mit einem gewissen Trotz als Bürgermädchen und Tochter des Mittelstandes aufspielte, es ließ sich einmal nicht ändern: sie kam in die hohe Finanz hinein und mußte dem Rechnung tragen. Und schließlich, den Bürgerstolz in allen Ehren, aber welche junge Evastochter hat ernstlich gegen alte Brüsseler Spitzen und die tausend feinen Zierlichkeiten einer eleganten Ausstattung etwas einzuwenden? …

Die erwachende Saison brachte denn endlich auch Wolken und Dornen in das sonnige kleine Königreich Brautstand. Die Verlobungsanzeige hatte sowohl in Pauls, als auch in Emmas [124] Kreisen mit der Gewalt eines Elementarereignisses gewirkt. Der Freisinger-Kreis – nicht sehr groß, zumeist Advokaten- und Professorenfamilien – beruhigte sich bald und formulierte sein Urteil dahin: „Ein Riesenglück – aber die Leute verdienen’s!“ Anders Pauls Welt. ’So manche sah sich in diesen Kreisen auf der Jagd nach dem Eheglück um die kostbarste Beute geprellt. Ein Hohngelächter erhob sich von allen Seiten: also darum hatte dieser Weilheim jahrelang gewählt und gemäkelt und sich nirgends binden wollen, um endlich in die Netze einer kleinen Spießbürgerin zu gehen? Hat sie ein Mensch denn überhaupt gesehen? Geht sie denn in die Welt? Hat sie Manieren? Versteht sie, sich anzuziehen? Wenn dann irgend ein männliches Mitglied der entrüsteten Gesellschaft einwandte, ja, er habe sie da oder dort gesehen, sie sei hübsch gewachsen, mache auch ganz gut Toilette, so wurde das mit Grimm und Spott aufgenommen. Paul, der sich im Geist das Schauspiel so ziemlich richtig ausgemalt hatte und nun seine frohesten Ahnungen bestätigt fand (er las die Bestätigung aus den mehr oder minder überströmend herzlichen Gratulationen, die ihm zu teil wurden), Paul also hatte seinen Hauptspaß an der ganzen Aufregung. Und mit größtem Behagen begann er dann, seine Braut den enttäuschten Familien vorzustellen, in deren Häusern er so vielfach verkehrt hatte. Stolz wie ein Kaiser trat er mit ihr in die Salons unter die spähenden, stechenden Augen. Und wenn er sie dann bei den hübschen, eleganten, schauspielernden Mädchen sitzen sah, von welchen jede eine für die Gesellschaft berechnete Rolle spielte – in Haltung und Kleidung so verfeinert wie jene, aber sonst wie aus einer andern, einer frischeren und reineren Welt stammend, da vergaß er Artigkeit und alles, blieb seinem Nachbar die Antwort schuldig, warf fortwährend prüfende Blicke nach der gewissen Richtung, und was er dazu dachte, das war eitel Selbstlob und Selbstberäucherung: „Aber, daß du dich die Jahre her nicht hast fangen lassen! Daß du doch ordentlich ausgewartet hast! So ein Verstand! So ein Riesenglück! Das hast du wirklich famos gemacht!“ – War dann die Vorstellung zu Ende und das Brautpaar auf der Treppe, da hielt er sie an, zeigte nach der Thür und fragte mit einem Paar Augen voller Uebermut: „Na, wie gefallen dir meine schönen Damen?“

„Wie gefallen sie denn dir, jetzt, wo du nicht mehr an sie gewöhnt bist?“ fragt sie zurück. (Sie nährt nämlich in schwachen Stunden eine kleine Eifersucht auf das, was sie „seine Leute“ nennt.) Statt aller Antwort sieht er sich eiligst um, holt sich, wenn kein Störer naht, rasch ein paar gute, frische Küsse von ihrem Mund, und meint dann mit einem zufriedenen Aufatmen: „So gefallen sie mir!“

Etwas ernster sind schon die Vorstellungsbesuche im beiderseitigen Verwandtenkreis. Wie so viele Menschen, waren sowohl die Freisingers als auch Paul mit einer Sorte von Verwandten begabt, die – nun, die man sich just nicht aussuchen würde, wenn man eben die Wahl hätte. Paul denkt von der Sippe seiner Kleinen: „Ist’s denn möglich, daß meine noblen Menschen zu diesen abgeschmackten Spießbürgern gehören?“ Die Freisingers wieder fragen sich immerfort, wie denn nur ihr lieber unverdorbener Paul zu der gespreizten hochmütigen Gesellschaft kommt. Es dauert nicht lange, so hat einer des anderen Gefühl entdeckt und – verziehen. Aber Besuche müssen doch gemacht werden, und das Brautpaar muß sich durch einen Berg von ihm zu Ehren veranstalteten Diners und Soupers durchessen. Ach, und es wär’ so gern zu Haus! Es hat sich immer so viel zu erzählen, es hat so viel zu lachen! Oder beide spielen vierhändig, oder sie singt ihm mit ihrem kleinen süßen wohlgeschulten Sopran ein Schubert-Lied, welchen Kunstgenuß er dankbarst in der unter Brautleuten üblichen Münze honoriert. O ja, zu Haus ist’s besser! Aber gut ist’s auch, wenn sie alle vier in einer Burgtheater- oder Opernloge sitzen, sie nur Aug’ und Ohr, mit glühenden Wangen. Manchmal, im Uebermaß des Entzückens, drückt sie ihm die Hand und schaut ihn, wie um Teilnahme flehend, an. Den Blick bekommt sie wohl mit Zinseszinsen zurück, aber viel Teilnahme ist nicht darin; er hat einfach nicht aufgepaßt. Kunstgenüsse hat er schon viele gehabt, aber das liebe Stückchen Natur an seiner Seite, das ist ihm noch so neu, das muß er ordentlich studieren. Zu Hause, am Theetisch, wird er erst ausgezankt und dann darüber getröstet. Da haben sie dann noch gute Zeit, bis zum letzten „Gute Nacht!“ Um all das bringen sie die lästigen Einladungen. Und doch hat auch so ein Gesellschaftsabend seine guten Seiten. Vor allem sieht sie in Abendtoilette wunderlieblich aus in ihren hellen Mädchenkleidern, mit seinen Rosen. Und haben sie einmal beide wie brave Kinder vor jedem Gast ein schönes Kompliment gemacht, dann setzen sie sich in irgend einen Winkel und lassen sich durch nichts und niemand stören.

So sind sie denn also mit sich, mit den Eltern, mit Gott und der Welt vollkommen zufrieden. So lachen sie über die Dornen ihres Brautstands und pflücken mit vollen Händen seine duftenden Rosen, stehen mit wohligbanger Sehnsucht vor der verschlossenen Thür der Zukunft, wie Kinder vor dem versperrten Weihnachtszimmer – und glauben in ihrer jungen Glückseligkeit fest und sicher, sie leben in der besten aller Welten!


7.

Es giebt noch eine kleine Wolke an Pauls Brautstandshimmel, und das sind die Brautgeschenke. Das geht nämlich so zu: Während der Wartezeit hat er ihr auch nicht eine Blume schenken dürfen. Da hat er ihr eben ohne Erlaubnis täglich ein Sträußchen Waldblumen gepflückt – so klein, daß der väterliche Tyrann wohl ein Auge zudrücken konnte. Kaum war dann das erlösende Wort gefallen: „Da hast du sie!“ – so ist er täglich eine Stunde früher aufgestanden, und das Resultat dieses „Liebesopfers“ (aber es war kein Opfer) war der herrlichste, größte Strauß der schönsten, eigenhändig gepflückten Alpenblumen. Dann stand jeden Nachmittag auf ihrem Tisch ein Strauß Rosen. Gleich in den ersten Tagen der offiziellen Brautschaft hat er sich einmal sehr früh von seinen dreien verabschiedet, unter irgend einem Vorwand, aber mit schmerzbewegtem Gesicht. Ist auch des andern Tags später als sonst erschienen und hat mitten im Wald seiner Kleinen die schönste sechsreihige Perlenschnur um den Hals gelegt – mit komisch wichtiger Feierlichkeit, der doch ein kleiner Beigeschmack von Befangenheit nicht fehlte. Darauf hat er ihre herabhängende Hand genommen und ihr einen Ring angesteckt – einen Ring mit einer Perle und einem Brillanten, an Material und Arbeit ein kleines Wunder. „Gefällt’s dir?“ hat er darauf fast scheu gefragt, „hast eine Freude daran?“ „Noch nicht,“ hat sie, die erst glühend rot und dann blaß geworden ist, ihm geantwortet. „Es ist zu schön. Aber über dich hab’ ich …“ und dann kam der stumme, aber ihn doch recht sehr befriedigende Dank. Ein paar Tage darauf stand auf Emmas Tisch ein Etui, Inhalt: ein wundervolles Armband, gleichfalls eine Verbindung von Perlen und Brillanten. „O bitte, schenk mir doch nicht so viel!“ hat sie leise gesagt und ihm nur scheu und verlegen gedankt. Wie aber die Sache eine Weile so fort ging, da hat sie sich einmal – es war schon in Wien – ein Herz gefaßt, hat ihn auf ihr Zimmer genommen und ihm eine kleine Standrede gehalten.

„Schau einmal, Schatz“, hat sie gesagt, „ich weiß schon, es macht dir Freude, gut und großmütig wie du bist“ – hier muß sie sich notwendig unterbrechen, um seine Stirn zu küssen – „und, nicht wahr, du glaubst mir doch, daß ich dir eine Freude gönn’?“ Sie wartet auf die Antwort, die prompt erfolgt und befriedigend ausfällt. „Aber diese Freude, liebster Mensch, schau, die kann ich dir nicht gönnen – noch nicht! – Sei einmal ganz still und laß mich ausreden“ – da er sie unterbrechen will – „du weißt ja, das Reden ist nicht meine starke Seite, und man bringt mich gleich aus dem Konzept. Sei schön still, ja?“ Und sie nimmt, ihn zu beschwichtigen, seine Hand und deckt sie mit ihren beiden Händen zu. „Also, hör’ an: deine Geschenke, die so großartig sind, so fürstlich und tausendmal zu schön für mich – die, siehst du, Schatz – aber sei nicht bös’! – die thun mir weh. – – O, ich weiß schon, ich weiß –“ nach einer Pause, denn sie hat ja gestraft werden müssen – „wenn ich mich schon von meiner hohen Position herablasse, dich armen Kerl von einem Krösus zu nehmen“ – wie die beiden lachen über den Witz! – „so muß ich mich auch entschließen, die traurigen Konsequenzen in Gestalt von Schmuck, Theaterlogen, Spazierfahrten und so weiter auf mich zu nehmen. – Nein, du, hör’ einmal“ – unterbricht sie sich selbst – „da ist gar nichts zu lachen! Reich sein ist gewiß was Prachtvolles, und ich bin die Letzte, die was dagegen einzuwenden hat – aber – mußt du denn gerad’ [126] so schauderhaft viel Geld haben? Schau einmal, du lieber, guter, herziger Mensch“ – und da ist sie auch schon bei ihm und hat die Arme fest, fest um seinen Hals – „mir wär’s viel lieber anders! Du erdrückst mich ja, ich schäm’ mich ja vor dir! Ich bin nicht reich, nicht schön, nicht geistreich – was hast du denn an mir? Und dann kommst du noch und bombardierst mich mit diesen Sachen, die für eine Königin gut genug sind – ja, das ist ja, um sich zu verkriechen! Wenn du mich lieb hast, du mein Lieber, Guter und ich weiß, du hast mich lieb, so wie ich dich – sehr, sehr! – dann thust du mir das nicht mehr an. Blumen ja, so viel du willst, Bücher auch – aber Schmuck keinen mehr, gelt, vor Weihnachten! Und nicht mehr jeden Tag den Wagen und die Loge – nicht wahr, nein? Einmal in der Woche, wenn du so gut sein willst – aber nicht öfter! Und wenn du schon entschlossen bist, so ein einfaches Bürgermädel zu nehmen, dann mußt du dir’s auch bei uns Spießbürgern gefallen lassen! Mußt schön mit uns spazieren gehen (das schadet deinen langen Beinen nichts) – und weißt du“ – immer näher an seinem Ohr – „später werd’ ich mich schon entpuppen! Mich in der Loge breit machen, das Geld hinauswerfen, die große Dame spielen – die Kunst werd’ ich schon treffen, da sei nur ruhig! Vielleicht besser, als dir’s lieb ist. – Nein, nein, hab’ keine Angst, es war nur Spaß – gar so schlimm wird’s nicht werden! Nur alles thun und haben, was sich für die Frau Weilheim, Großhandlungschefs- und Großgrundbesitzersgattin – uff! – gehört. Dann halt’ ich still. Aber jetzt bin ich noch die Emma Freisinger, und die schämt sich, wenn du ihr mit solchem Glanz kommst, und braucht nichts auf der Welt als drei Menschen, und von den dreien – aber das ist schlecht von ihr – dich vielleicht am allermeisten. Ja, und dann noch, daß du ihr sagst, du bist nicht bös’ auf sie. Sag’ mir’s, Paul – Alter – Lieber, Herziger – sag’ mir’s! Bist du bös’ – hab’ ich dir weh gethan? Gelt nein, mein Schatz – mein guter, lieber – nicht wahr, nein?“ –

Und was hat er auf all das Drängen und Bitten geantwortet? Nun, nichts – nur angesehen hat er sie. Aber sie weiß nun doch, daß er nicht – daß er nicht im mindesten böse ist.


8.

Anfang November sind die kleinen Wolken alle verschwunden, und es steht dafür eine einzige, große, und zwar ziemlich schwarz und drohend, am Himmel: Emma ist krank, sie hat eine Rippenfellentzündung. Sehr ernst ist’s nicht, von einer wirklichen Gefahr ist nicht die Rede, aber es bleibt immer ein tüchtiger Anfall, und man muß achtgeben.

Ihre drei verlieren den Kopf nicht unh auch nicht den Humor. Man braucht sich ja, gottlob, nicht zu fürchten, es ist ja nicht sehr bös’; man muß eben nur achtgeben. Und das thun sie denn redlich. Emma zwar braucht etwas Zelt, um sich in die ihr ganz neue Rolle der Patientin einzuleben, und findet es einfach lächerlich, still zu liegen, sich wie eine Prinzessin bedienen zu lassen und fortwährend über ihr eigenes Befinden reden zu hören. Aber sie hat entschieden das Talent, sich verhätscheln zu lassen, und ganz still und heimlich darüber glücklich zu sein; so findet sie sich denn endlich auch in diese Lage und gewinnt ihr einige gute und sogar sehr gute Seiten ab. Wie gesagt, sie ist wohl behütet. Die Mama ist nur dann aus dem Krankenzimmer zu bringen, wenn der Papa, auf Emmas kategorische Aufforderung hin, eine Art Gewalt anwendet. Was diesen Papa betrifft, so schaut er aus seinem Bureau, das Wand an Wand mit den Wohnräumen liegt, jede Viertelstunde zu seiner Tochter hinüber und etabliert sich dann immer für ungefähr dreißig Minuten oder auch mehr an ihrem Bett. Man kann also nicht behaupten, daß er sich momentan im Geschäft überanstrengt. Was Paul betrifft – – – ach, der arme Paul! Der hat böse Zeiten! Der Papa kann lachen! Die Mama kann schmunzeln! Die sind drin bei ihr, können sie bedienen, anschauen, berühren. Aber er!! – Denn, um es kurz zu sagen: er ist verbannt, er darf nicht hinein – sie will’s nicht – sie schämt sich! – – – Er hat nicht rebelliert, sondern sich ganz still in sein Schicksal ergeben; er wird doch nichts gegen ihren Willen durchsetzen, wenn sie gerade krank zu Bette liegt! So steht er denn also an der angelehnten Thür (so ziemlich den ganzen Tag), horcht auf ihre Stimme und weist dann doch diese ersehnte Stimme, wenn sie sich erhebt, mit großer Strenge zur Ruhe. Es ist ihm überhaupt nichts recht, was da drin im Zimmer geschieht; er behorcht natürlich alles und hat an allem zu nörgeln: sie spricht und lacht ihm zu viel und ißt ihm zu wenig; die Mama läßt ihr alles durchgehen; der Papa ermuntert sie noch, Dummheiten zu machen. Zur Belohnung wird der Moralprediger von allen dreien ordentlich ausgelacht.

Um ihm den Mund zu stopfen, schreibt sie ihm jede Stunde einen Zettel, manchmal auch zwei. Nach der Lektüre glänzen seine Augen so hell, als ob er sie schon wieder im Arm hätte, und lustig auflachend, setzt er sich hin und schreibt seine Antwort. Wenn’s niemand sieht, nimmt er ihre Zettelchen wieder hervor, besieht und betastet sie von allen Seiten und verwahrt sie dann voll Ernst und Andacht in der Brieftasche. Sie ist schon kecker und geniert sich gar nicht, seine Briefe eventuell auch vor den Eltern an die Lippen zu drücken. Diese sind nicht eifersüchtig und haben auch keinen Grund dazu. Das Herz ihres Kindes ist so eigentümlich organisiert, daß seine Leistungsfähigkeit zügleich mit den ihm gestellten Anforderungen wächst. Es hat für alle drei Platz und reichlich Platz. Das fühlen die alten Leute, und ihre überströmende Dankbarkeit ergießt sich naturgemäß über das neue Kind, über den Sohn. Der wieder lernt seine „Schwiegermamas“ jeden Tag mehr als „ein Extrageschenk“ kennen und schätzen. Und so überstehen die vier in treuer Gemeinschaft die Sorgentage mit frischem Mut.

Und endlich erbarmt sich Emma ihres armen Verbannten, macht eine große Kraftanstrengung, verliert die letzten unangenehmen Symptome und ist nach vierzehn Tagen so weit, ihrem künftigen Gebieter die erste Audienz zu ertheilen. Es ist nach allen Ereignissen des Morgens – Frühstück, Besuch des Doktors, die Toilette, die ersten Gehversuche – doch beinahe Mittag geworden, ehe sie, in einem weißen Morgenkleid, auf der Chaiselongue in ihrem blumengefüllten Wohnzimmer ausgestreckt, zum Empfang bereit ist. Sie liegt mitten im Sonnenschein, blaß, etwas abgemagert, mit großen, erwartungsvollen Augen. Zwei dicke Zöpfe fallen ihr über die Schultern und machen die Illusion, man habe ein sechzehnjähriges Kind vor sich, ganz und gar täuschend. Aber ein Kind, das wie ein bewegtes, sehnsüchtiges Weib dreinsieht und das jetzt, da es einen bekannten, eiligen Schritt hört, die Farbe wechselt und zu zittern beginnt. Und nun ist er auch schon im Zimmer. Ist mit einem Schritt bei der Chaiselongue, läßt sich auf die Kniee gleiten, schlingt sehr sanft zwei starke Arme um sie – und legt den Kopf auf ihre Hand. Gesprochen wird dabei nichts. Wie’s ihr dann doch zu lange dauert, hebt sie leise diesen Kopf auf, deckt ihm mit beiden Händen die Augen zu (zwar, die Eltern sehen nichts, die haben sich abgewendet und schauen eifrig durchs Fenster) und sagt, ganz leise, mit einer mütterlich beschwichtigenden Stimme, ein paar gute, unzusammenhängende Worte. Und da kommt auch wieder Leben in seine Gestalt. Er richtet sich auf, setzt sich, ohne zu fragen, auf die Chaiselongue, nimmt sie wie ein kleines Kind in die Arme, nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände, schaut sie an, als ob er sie zehn Jahre nicht gesehen hätte – und fängt plötzlich an, leise zu lachen, begräbt diesen blonden Kopf in seinen Armen, wiegt ihn zwei-, dreimal hin und her – und dann geht ein Ungewitter von Liebkosungen und närrischen, abgebrochenen Worten auf sie nieder, daß es ihr den Atem nimmt und sie nichts thun kann als das Haupt neigen, die Augen schließen, stillhalten – und selig sein.


9.

Diesem stürmischen Ereignis folgen drei sehr stille Tage. Während dieser Zeit befindet sich Emma so gut, daß sie die Erlaubnis bekommen hat, ihren Bräutigam so ziemlich den ganzen Tag um sich zu haben. Er liest ihr vor, er ergeht sich mit ihr in Mariaschutzer Erinnerungen, er entwirft mit ihrer Hilfe eine Tageseinteilung für „später“, die in der nächsten halben Stunde umgestoßen wird; er bringt ihr die Pläne zur „Villa Emma“, die er im Cottageviertel bauen läßt, über welche sich endlose Diskussionen entspinnen. Er überwacht ferner mit lobenswertem Eifer ihre Mahlzeiten, sorgt dafür, daß sie nichts stehen läßt, und wird zum Dank für seine Mühe von ihr mit Aepfelkompott [127] und Biskuit gefüttert. Das dauert wie gesagt drei Tage – drei sehr gute Tage – und dann kommt ganz plötzlich, ohne irgend eine auffindbare Ursache, ein Rückfall. Oder eigentlich, einen Rückfall kann man’s nicht nennen; es hat ein total anderes Gesicht als jene erste Entzündung, es tritt ganz anders auf – es ist, wie wenn ein Orkan über einen jungen, starken Baum dahinfährt. Die Eltern in ihrer treuen Liebe nehmen still und zuversichtlich den neuen Kampf auf und wehren mit starken Armen Dem, der hereinsieht, den Einlaß. Die Aerzte, die berühmtesten Wiens, kommen jede Stunde, thun, was sich eben thun läßt, schauen sich die Familie an, wollen reden – und bringen nichts über die Lippen. Und Paul? – – –

Paul sitzt jetzt, wie er’s früher so heiß gewünscht hat, drin bei ihr, denn daß er nicht hinein soll, davon ist mit einem Male nicht mehr die Rede. Er hat ihre heiße Hand und läßt sie den ganzen Tag nicht los. Wenn sie ihn in lichten Augenblicken ansieht, so lächelt er ihr zu. Wenn die Eltern ihm über das Haaaar streichen, ihn bitten, so sanft, als wenn er ein krankes Kind wäre, sich doch drin im anderen Zimmer ein wenig aufs Sofa zu strecken, so küßt er ihre Hände und lächelt ihnen zu. Sonst aber sitzt er, ihre Hand in der seinen und manchmal an seiner Wange, und schaut immer auf das Gesicht in den weißen Kissen, das ihm jede Stunde etwas kleiner erscheint. Oder er sieht mit großen, staunenden Augen auf die Eltern, die so ruhig und geschäftig um das Krankenbett schalten, und wenn die Aerzte da sind, wirft er auf sie scheue Blicke, die gleich wieder, wie schuldbewußt, den Boden suchen. So sitzt er stundenlang, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, und all sein Leben hat er in seinen Augen.

Er glaubt, er träumt. Er glaubt, es ist nicht möglich, daß man vor zwei Tagen noch ein glücklicher Mensch war und daß sich auf einmal eine Spalte im Boden geöffnet hat, durch die man in einen Abgrund sieht. Er glaubt’s nicht. Er will nicht. Er kann nicht. Nein – nein – nein!

Und dann schaut er wieder auf das Gesicht da in den Kissen, das kleine, wächserne mit den geschlossenen Augen. Und er greift sich an die Brust und ringt nach Luft.


10.

Der Diener hat ihn ins Sprechzimmer des Doktors geführt, hat ihm Fauteuil und Zeitung zurecht gerückt und gebeten, sich nur ein paar Minuten zu gedulden; der Herr Hofrat sei eben erst aus der Klinik gekommen. Dann hat er geräuschlos das Zimmer verlassen. Paul, noch atemlos, bleibt stehen, stützt sich auf den Tisch und schaut mit schwarzumrandeten Augen nach der Thüre.

Draußen – nichts – kein Laut. Es ist so still im Zimmer, so still. Nur die Wanduhr tickt. Ihm wird auf einmal leicht und friedlich. Wird denn die Thür dort aufgehen? Wird der Mann dastehen und ihm antworten? Ihm Gewißheit geben – so oder – so? Er kann sich’s nicht vorstellen. Es ist so still, so heimlich, so warm im Zimmer – so ruhig – so gut! – – –

Ah – aber jetzt – jetzt kommt’s! Er steht und horcht mit geballten Fäusten. Nein – nichts – es geht vorüber. Ein zitternder Atemzug hebt seine Brust: Gott sei Dank! – Aber die Luft in dem Zimmer – so schwül, so schwer – man kann nicht atmen. Und ein Lärm – von dieser Uhr – und sein Kopf – dieses Sausen und Hämmern – man meint, er zerspringt! – –

Warten – er hat nie gut warten können. Sie hat sich oft darüber gekränkt. Aber jetzt – jetzt meint er, er könnt’ noch lang’ – noch lang’ so stehen. So dumm! So albern! Ob jetzt oder in fünf Minuten oder in zehn – kommen wird er! Dastehen wird er! Und ob jetzt etwas früher oder später – das ist ja so einerlei – da’s ja doch sein muß – und – ach, und die Hitze! Nicht zum Ertragen! – – – –

So ein Elend! So eine Folter! Man meint, man wird ein Narr! Das bissel Glück – das muß man ordentlich bezahlen. Ja – gut war’s! Süß war’s! Lieb und gut und süß! – Aber jetzt – so dastehen und zappeln – nein! Das ist zu viel! Dann lieber kein Glück kosten! Dann lieber gar nicht leben.

Aber – täuscht er sich nicht am Ende? Muß es – muß es denn g’rad’ schlecht – es könnt’ ja doch – es ist ja vielleicht doch nicht unmöglich – o, Herrgott! Herrgott!

Und bei dem bloßen Gedanken geht ihm glühheiß ein Strom von Glück und Leben durchs Herz.

Da, ein Geräusch – er sieht auf – und der Hofrat steht mitten im Zimmer. Paul will hin zu ihm – und kommt nicht vom Fleck. Er macht eine krampfhafte Anstrengung, zu sprechen – und bekommt ein heftiges Zittern. Und der Hofrat läßt ihn niedersitzen, giebt ihm zu trinken, netzt ihm die Schläfen. Und schließlich kann er doch wieder reden. – 00000000000000000000

Eine Stunde später tastet sich ein Mann mühsam und schwerfällig die Treppe zur Freisingerschen Wohnung hinauf.

Der Mann ist Paul Weilheim.


11.

Das Mädchen, das ihm draußen im Vorsaal Hut und Rock abnimmt, hat ihn erst nicht erkannt. Dann hat sie berichtet, das Fräulein sei wach und habe nach ihm gefragt. Jetzt ist er drin (man hat sie in das Schlafzimmer der Eltern gebettet, weil’s so groß und luftig ist) und kniet vor dem Bett. Eine grün verhängte Lampe brennt mit schwachem Schein – und so ist den Alten nichts an ihm aufgefallen.

„Zu thun gehabt?“ fragt sie nach der Begrüßungspause, und weil ihm die Stimme noch nicht gehorcht, so nickt er nur. „So blaß,“ meint sie mitleidig und streicht ihm mütterlich über die Wange. „Du mußt heute gut ausschlafen. Mir geht’s ja besser.“ Statt aller Antwort schmiegt er ihren Kopf noch etwas enger an seine Schulter. Sie ist’s zufrieden und ein paar Augenblicke lang herrscht tiefes Schweigen um die zwei.

Da richtet sie sich auf und sucht mit den Augen: „Wo sind …“ Er zeigt ihr, daß die Eltern in einer entfernten Ecke des sehr großen Zimmers sitzen – sie gönnen ihnen auch jetzt noch das Plauderstündchen. Sie legt sich wieder zurecht und – „Paul!“ klingt es wie ein Hauch an sein Ohr.

„Ja, Kind!“ sagt er, denn jetzt geht’s wieder mit dem Sprechen, und beugt sich tiefer, damit sie’s bequem hat.

„Paul – früher – wie ich aufgewacht bin – du warst fort – und die Eltern sind da gesessen – ganz allein – – da ist mir’s eingefallen – Paul, bitte – nicht wahr – du bleibst bei ihnen – – – immer – und bist gut zu ihnen – immer – nicht wahr – immer?“

„Ja,“ kommt seine Antwort wie aus weiter Ferne.

„Und, Liebster, Goldener“ – er fühlt seinen Kopf, von schwachen Händen herabgezogen und ihre Wange an seiner – „sei doch nicht so traurig. Ich war ja so glücklich. So riesig glücklich! Und“ – immer leiser – „ich hab’ dich ja so unendlich lieb – du weißt gar nicht – wie lieb. – Ich hab’ mich nie getraut – es zu zeigen – du hast gewiß oft gedacht – sie läßt sich nur lieben. Aber halbe Nächte hab’ ich wach gelegen – und hab’ mir jedes Wort – jeden Blick zurückgerufen – auch ganz gleichgültige Sachen – und war so froh. – Und noch jetzt – wenn ich denk’, wie du bist – so lieb – so gut – – noch jetzt – bin ich glücklich. Und tausend Dank für alles! Es war ja doch der Mühe wert. – Nicht wahr, Herz – nicht wahr?“

„Was sprichst du denn da?“ sagt er mit einer Stimme, die ihm völlig fremd aus der Kehle kommt – und dabei tanzen schwarze Schatten vor seinen Augen und auf seiner Stirn stehen die kalten Tropfen. „Was sprichst du denn da? Du bleibst ja doch bei mir!“

„Vielleicht – ich weiß nicht,“ meint sie und sieht mit einem hilflos traurigen Blick vor sich hin.

Und er – er kann ihr nichts mehr sagen. Er findet kein Wort mehr für sie, keine barmherzige Lüge, nicht einmal ein Lächeln. Er faßt sie nur fester noch in seine Arme, und dabei so sanft, wie eine Mutter ihr krankes Kind; beugt sich über sie, ganz tief, daß Wange an Wange ruht, schließt die Augen und sucht mit den Lippen ihre kalte Stirne. So bleiben sie – lang’ – lange Zeit – sind ganz still – und haben sich doch verstanden.


12.

Ein stilles, verhängtes, nach scharfen Essenzen duftendes Zimmer. Ein weißes Bett mit einem blassen, schlummernden [128] Kind. An dem Bett drei blasse Menschen, die nicht sprechen, die sich nicht rühren und die nur immer auf das Kind schauen.

Manchmal wacht sie auf. Sprechen kann sie nicht; aber ihre Augen sind noch voller Liebe. Sie schaut jedes von den dreien der Reihe nach an und sagt jedem etwas Gutes mit den Augen. Und sie knieen um das Bett, beugen sich über sie, flüstern ihr zu und jedes nimmt, was es g’rad’ bekommt – eine Hand – eine Flechte – ein Stückchen Decke. Und dann schläft sie wieder ein.

Paul steht dann wohl leise auf und geht zu den Alten. Er neigt sich über sie, streicht ihnen über das Haar, bringt ihnen weiche Kissen. Manchmal führt er sie ins andere Zimmer. Viel sprechen kann er nicht – aber er bittet, sie möchten sich ein wenig hinlegen; er bleibt bei ihnen, bis sie eingeschlummert sind. Dann geht er wieder hinein zu ihr, ganz leise und ganz schnell. Kniet vor dem Bett nieder. Beugt den Kopf vor und schaut auf das Kind, preßt die Hände zusammen – kniet und wartet – schaut unermüdlich, unverwandt – auf sein blasses, liebes Kind! …


13.

So viele Menschen waren heute in der Wohnung – Massen, Massen schwarzgekleideter Menschen – aber jetzt ist alles leer. Und still ist’s – grabesstill. Draußen in der Küche sitzen die Leute beisammen, blaß, verwacht, rotäugig, und wagen kaum zu flüstern. Die Zimmerflucht ist hell erleuchtet, alle Thüren offen – aber kein Mensch zu sehen. Nur das letzte Zimmer in der Front – das Schlafzimmer – ist dunkel – und dort sitzen die drei.

Von der Straße fällt Laternenschein in das große Gemach – die Umrisse der drei Gestalten sind gerade erkennbar. Sie sitzen alle um ein Bett – ein ganz leeres Bett, das man seiner Decken und Kissen beraubt hat.

Zusammengekauert sitzen sie und starren in die Dunkelheit. Sie weinen nicht – sie haben’s wohl verlernt – sie sprechen nicht, ja, augenblicklich leiden sie vielleicht gar nicht. Sie sind müde und gebrochen. Sie ruhen vielleicht aus.

Ihr werdet wieder weinen können, glaubt’s nur, ihr armen Eltern! Und dann werdet ihr in dem Gedanken, der jetzt brennende Qual ist – in dem Gedanken an sie – nicht etwa Trost finden, sondern einfach euren Lebensinhalt. Dann wird’s euch einfallen, wie sie war – von klein auf – und wie ihr drei miteinander gelebt habt. Dann werdet ihr wissen, daß sie nicht umsonst da war – daß sie Freude genommen und gegeben hat mit vollen Händen; daß sie Sonne war – nicht nur euch – sondern allen, die sie sahen; daß sie’s immer gut, immer warm gehabt hat – und zuletzt das reichste Jungfrauenglück. Und dann werdet ihr weinen – so reine, lindernde Thränen! – und werdet euch sagen: „Was wollen wir denn? Sie war ja glücklich – und den Schmerz – den haben ja nur wir!“

Und du – armer Betrogener, der das Glück nur hat kosten dürfen und dann wieder hinaus mußte, wo’s kalt ist und einsam – du wirst auch wieder leben lernen. Das Leben ist stark und nimmt dich mit und fragt nicht, ob du willst. Du wirst nicht kalt, nicht hart und bitter werden. Einsam wirst du nun sein – wie du’s warst. Und weil du das Glück gekannt hast, so wirst du’s wieder suchen. Aber oft – oft wirst du an sie denken – an sie – an die Junge, die Blonde, die Fröhliche – an die Tote – – und dann wirst du, reicher Mann, sehr arm sein.

Jetzt steht er auf – langsam, schwerfällig – und tastet sich zu den Eltern hin. Tritt zwischen sie, kniet nieder und nimmt ihre Hände.

„Ihr müßt euch jetzt mit einem Kind begnügen,“ sagt er, sehr leise, sehr mühsam. Antwort bekommt er nicht; aber seine Hände fühlen einen schwachen Druck. Dann nach einer Weile: „Sie hat mich einmal gebeten, ich soll bei euch bleiben. Sie hätt’ nicht zu bitten brauchen. Aber ich – ich möcht’ jetzt euch bitten – daß ihr mich – – – nur ein wenig – – denn sonst weiß ich nicht, wie ich’s aushalt’.“

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Es ist still im Zimmer – totenstill. Sie sitzen und starren ins Dunkel. Aber sie sitzen jetzt eng, ganz eng bei einander, umschlingen sich und halten sich an den Händen.

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