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Frankreich und Deutschland sowie in England keine einzige variante gefunden, und doch steht dem forscher aus wenigen ländern so reiches material zur verfügung als aus diesen. Ausserhalb Deutschlands (Siebenbürgen und Tirol) haben wir allerdings zwei deutsche varianten (Dd 1, 2), aber von diesen ist die erste ein sehr verdorbenes fragment, das nur den empfang des zaubergegenstandes von der schlange umfasst. Das märchen ist offenbar im östlichen Europa heimisch und ist von da nach den westlichen teilen gewandert.

Wenn wir voraussetzten, das märchen habe seine wanderung im östlichen Europa begonnen, bliebe es unbegreiflich, warum es in so geringem grade und in so verdorbener form im westen bekannt geworden ist, während es im osten besser erhalten in den fernsten teilen des weiten Asien vorkommt. Die heimat des volkstümlichen märchens ist ohne zweifel in Asien zu suchen.

Dorthin deutet auch der innere charakter der erzählung. Ihr kolorit und ihre stimmung sind orientalisch.

In welchem teil Asiens wäre nun aber das märchen entstanden? Benfey hielt Indien für die heimat fast aller märchen. Obwohl wir kein anhänger der Benfeyschen theorie sind, müssen wir zugeben, dass sowohl die relativ wohlerhaltene form der indischen varianten (Ja 1, 2, Tb 1) als auch gewisse eigentümlichkeiten des märchens wirklich nach Indien weisen. Zu den letzteren gehört die dankbarkeit der tiere gegen ihren wohltäter. Dieser zug, der in unserem märchen einen so wichtigen platz einnimmt, ist eine von dem glauben an die seelenwanderung herrührende indische idee. Dieser glaube überbrückte nämlich den unterschied zwischen mensch und tier, und der mensch sah in allem lebendigen einen bruder[1]. Benfey spricht in der einleitung zum Pañcatantra von buddhistischen erzählungen, in denen die dankbarkeit der tiere, u. a. der schlange und des hundes, gegen ihren wohltäter vorkommt.[2] Was das verhältnis des menschen zur schlange – die schlange schenkt dem helden des märchens den allmächtigen zaubergegenstand –


  1. Cosquin, I, vorr., s. XXXI.
  2. Benfey, I, s. 193 u. s. w.
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Antti Aarne: Vergleichende Märchenforschungen. Société Finno-ougrienne, Helsingfors 1908, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Aarne_Vergleichende_M%C3%A4rchenforschungen.djvu/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)