Seite:AdlerStudie.djvu/23

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

oder in der übernormalen Ausnutzung des minderwertigen Organes. Der vorläufige Ausgang hängt von den vorhandenen Reservekräften ab. Die Pathologie dieser Zustände erschöpft sich in allen denkbaren Anomalien der Leistung, der Sekretion und des Wachstums. Die Tätigkeit des mehr beanspruchten Organes oder Organteiles vollzieht sich unter erhöhten äußeren und inneren Anforderungen, so daß an einem bestimmten Punkte des Organismus einem gesteigerten Reizzustande Genüge geleistet werden muß, um ein auch nur labiles Gleichgewicht zu gewährleisten. Erschütterungen irgendwelcher Art, Infektionen, Erschöpfungszustände, Überarbeit körperlicher und psychischer Natur, Störungen im Wärmehaushalt werden zumeist an dieser gefährdeten Stelle ihre Wirkung äußern. Es ist aber auch leicht einzusehen, daß selbst die gewöhnlichen Anforderungen des Lebens, der Kultur, gleichfalls an diesem kritischen Punkte, dem „locus minoris resistentiae" häufig mit Schädigungen einsetzen können.

Die Beobachtungen über das Vikariieren symmetrischer Organe sind alt und beziehen sich sowohl auf angeborene wie im Leben erworbene Unterschiede der Gestalt und Funktion. Hier wären anzuführen: Eintreten der beiden Gehirnhälften füreinander, ebenso der Schilddrüsenhälften, der Lungen, der Nieren, der Ovarien, der Hoden. Scheiden wir die sicher erworbene Minderwertigkeit in diesen Fällen aus, die sich nur selten finden dürfte, so sehen wir uns gezwungen, auch bei Feststellung der Erscheinungen des Vikariierens vorkommendenfalls die Diagnose einer Organminderwertigkeit aussprechen zu müssen. Dieser Umstand, ferner die später zu erwähnende, häufig nachweisbare gesteigerte Wachstumstendenz minderwertiger Organe, der nicht seltene Befund gleicher und gleichmäßig verteilter Anomalien beiderseits, wie sie einseitig beim Vikariieren anzutreffen sind, analoge Befunde bei asymmetrischen Organen auf Grundlage einer primären Minderwertigkeit legen die Annahme nahe, daß gerade primär minderwertige Organe unter gewissen Bedingungen prädestiniert erscheinen, für kürzere oder längere Zeit eine gesteigerte Funktionsleistung auf sich zu nehmen. Außer den bekannten Typen, Emphysem bei funktioneller Minderwertigkeit der anderen Lunge, Struma parenchymatosa lateralis bei Atrophie der anderen Seite, Nierenhypertrophie bei atrophischen Prozessen der zweiten Niere etc., möchte ich hier noch nennen Linkshändigkeit (partieller situs viscerum inversus) und das Vikariieren der Hälften des Zentralnervensystems. Ist bei allen diesen Erscheinungen auch an der Minderwertigkeit nicht zu zweifeln, so stellen sie sicherlich

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)