Fälle. Bei chronischen Alkoholisten findet man zumeist Steigerung, aber auch Fehlen des Gaumenreflexes. Diese Anomalien sind sicherlich nicht als Folgezustände des Alkoholismus anzusehen. Sie weisen vielmehr darauf hin, daß der chronische Alkoholismus eines organischen Entgegenkommens bedarf, der Grundlage eines minderwertigen Magendarmtraktes. Auch einen Fall von Diabetes insipidus sah ich mit mangelndem Gaumen- und Rachenreflex. Die Stellung der Fettsucht zur Minderwertigkeit des Ernährungstraktes habe ich schon hervorgehoben. Die besprochenen Reflexanomalien sind bei ihr häufig anzutreffen.
Bezüglich des mangelnden Konjunktivalreflexes als Zeichen der Augenminderwertigkeit habe ich einen Fall bei den „Grundzügen“ angeführt. Ich kann einen zweiten an dieser Stelle nachtragen.
Elsa R., 22 Jahre alt, kommt wegen eines Fremdkörpers im rechten Auge zur Behandlung. Die blaugefärbte Iris des rechten Auges zeigt sich an einer Stelle des oberen äußeren Quadranten bräunlich verfärbt. Sehschärfe normal. Kein Konjunktivalreflex. Das Zusammentreffen von Stigma, Reflexanomalie und Fremdkörper rufen auch hier den Verdacht auf Minderwertigkeit hervor.
Des Malers Karl v. R. — Lichtscheu, Conjunctivitis lymphatica in der Jugend, dünner Cilienbesatz, Blinzeln des Bruders — habe ich bereits Erwähnung getan. Ich füge hinzu, daß auch in diesem Falle der Konjunktivalreflex fehlt.
In ähnlicher Weise finden sich Reflexanomalien, zumeist mangelnder Gaumenreflex bei Personen, die durch Überwindung der ursprünglichen Minderwertigkeit ihres Respirationstraktes oder Ernährungsapparates zu höheren Arbeitsweisen gelangten. Ich habe drei Kategorien bereits öfters in anderem Zusammenhange hervorgehoben, Sänger, Redner und Köchinnen; ich erwähne noch Gourmands, bei denen ich fast immer, und zwar an einem beträchtlichen Material, den Gaumenreflex erloschen fand. Ich kann diesen Kategorien noch hinzufügen: einen Oboebläser, einen Trompetenbläser und starke Raucher.
V. Mehrfache Organminderwertigkeiten.
Falls die von mir vorläufig aufgestellten Grundlagen einer Minderwertigkeitslehre, woran ich nicht zweifle, Bestätigung finden werden, so ist es doch immerhin auffallend, daß ihre Beziehungen zur Pathologie bisher nicht deutlich erkannt wurden. Der letzte Grund scheint mir
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/67&oldid=- (Version vom 31.7.2018)