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sie bei Aufregungen fast regelmäßig erbreche. Die Untersuchung ergibt normale Verhältnisse, bis auf einen kleinen Nabelbruch, der seit jeher der Anlaß zu hypochondrischen Anwandlungen war, und einen völligen Mangel des Gaumen- und Rachenreflexes. Die Zunge ist nicht belegt, Übelkeit besteht am Morgen nicht, der Magen ist nicht druckempfindlich, Appetit normal. Aus der Anamnese läßt sich nur entnehmen, daß Patientin ein schwächliches, schlecht essendes Kind war, das in der Pubertät häufig an Aufstoßen, Singultus und Erbrechen litt. Nach unseren Darlegungen handelt es sich um eine Minderwertigkeit des Ernährungstraktes (Nabelbruch, Reflexanomalie, Anamnese), die durch Überkompensation des psychomotorischen Überbaues — Erbrechen erst bei psychischen Störungen des Gleichgewichtes — ausgeglichen wird. Seit dem 20. Lebensjahre neigt die Patientin zu Adipositas.

Julius P., 45 Jahre alt, Kaufmann, erbricht, wenn er in der Nähe der Speisen ein Haar oder eine Fliege sieht, zuweilen auch wenn er bloß daran denkt, manchmal auch im Gefolge eines ärgerlichen Vorfalles. War in seiner Jugend fast frei von Ekelgefühl, hat ohne Bedenken die abscheulichsten Dinge in den Mund gesteckt. Ist später ein Feinschmecker und starker Esser geworden und hat sich aus einem schlanken Jüngling in einen fettleibigen Mann (105 kg) verwandelt. Charakteristisch ist ein in ähnlicher Form öfters wiederkehrender Traum, in welchem ihm jemand unaufhörlich eine widrige Masse in den Mund stopft, so daß er zu ersticken droht und unter Angst erwacht. Einer seiner Söhne litt bis zum 15. Lebensjahre an Enuresis und unwillkürlichem Kotabgang. Gaumenreflex fehlt, Rachenreflex ist stark vermindert. Auch hier handelt es sich um eine überkompensierte Minderwertigkeit des Ernährungstraktes mit herabgesetzter peripherer und gesteigerter zentraler Reflexfähigkeit.

Anna W., 28 Jahre alt, verheiratet, erbricht bei den geringsten Aufregungen. Kein Gaumenreflex. Ein Bruder war bis zum 8. Lebensjahre Enuretiker und litt an unwillkürlichem Kotabgang. Vater der Patientin, 54 Jahre alt, leidet angeblich seit jeher an Obstipation. Auch hier finden wir die Minderwertigkeit des Ernährungstraktes in verschiedener Weise am Stammbaum ausgeprägt, bei der Patientin selbst gesteigerten zentralen Reflex als Zeichen der Überkompensation.

Die Phänomenologie der gelungenen als auch der mißlungenen Überkompensation wird, wenn sie auch äußerlich von der der normalen Gehirnentwicklung abweicht, die gleichen Grundzüge, die gleiche innere Struktur aufweisen. Immer werden unter den Leistungen des zentralen, dem Organ zugehörigen Überbaues zu finden

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Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)