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sie die junge Saat ausreißen, um die Saatkörner zu nehmen, Gras essen u. s. w. Die Regierung gab ihnen etwas Getreide, das ihnen die Kurden wieder abnahmen.

Die schreckliche Plünderung des Distrikts Wan im Herbst – inzwischen hat eine zweite im Juni stattgefunden – hat die Bevölkerung von allem entblößt. Man sieht überall Leute, die ihre Blöße mit Krautbüscheln bedecken und von dem leben, was sie irgend auf den Feldern finden. Tausende von Ausgehungerten kommen in einem unbeschreiblichen Zustande täglich in die Stadt und bitten um Brot und Kleidungsstücke. Tausende von Frauen und Mädchen wandern in den schneebedeckten Straßen obdachlos und hungrig umher. Sie sind von ihren Räubern aller Kleidungsstücke bis auf ein Hemd beraubt worden, und mitunter ist ihnen nur ein Flick gelassen worden, um ihre Blöße zu verhüllen. Die Hilfskomitees sind weit nicht imstande, die Not zu lindern. Der Preis des Mehls ist fast doppelt so hoch, als früher und das Volk hat weder Samen noch Vieh, um die Landarbeit wieder aufzunehmen.

Eine der größten Schwierigkeiten bereitete von Anfang an die Sorge für die Kranken. Die Tausende, die infolge der Metzeleien und Plünderungen im Herbst aus den Dörfern in die Stadt flüchteten, fanden eine Art Unterkunft in den Häusern der Stadt, aber die benutzten Quartiere waren meistens Ställe, oder dunkle feuchte Vorratsräume, deren Fußboden die bloße Erde war. In solchen Wohnungen ist es sehr schwer, gesund zu bleiben, und der Zustand der Kranken ist im höchsten Grade elend. Den in solcher Lage befindlichen Kranken Arzneien zu verschaffen war einfach ein Hohn. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie gebraucht, oder richtig gebraucht werden würden, wäre sehr gering gewesen. Selbst dann aber auch, würden die richtig angewendeten Arzneien ohne Nahrung und ohne Pflege wenig ausrichten. Einige Besuche bei solchen Kranken überzeugten mich davon, daß ganz andere Verhältnisse geschafft werden müßten, besonders da diese Verhältnisse viel Typhus erzeugen, der weiter um sich greift.

Aleppo ist von Flüchtigen überschwemmt, die nichts, rein gar nichts mehr haben, als ihren siechen Körper voller Wunden und Verstümmelungen. In den Morddistrikten ist natürlich nichts gesäet und daher auch nichts zu ernten, die Not ist dort gräßlich. Was die türkischen Soldaten an Nahrungsmitteln u. s. w. fanden, nahmen sie

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)