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werden alle Teile der Bevölkerung sie nicht freisprechen können von dem Verdacht, diese Massacres mit reiflicher Ueberlegung herbeigeführt zu haben.

Mitten in der wilden Verwüstung und Zerstörung, welche sich über diese Gegend ergossen hat, ist ein großes armenisches Dorf Germusch verschont geblieben. Diese außerordentliche Thatsache erklärt sich folgendermaßen: Als die Muhammedaner die Armenier von Urfa angriffen, machte auch eine berittene und bewaffnete Schar von Kurden und Arabern eine Attacke auf Germusch. Die Armenier schlugen einige Zelte, die sie besaßen, vor ihrem Dorfe auf, stellten so viele Bewaffnete aus, als sie zusammenbringen konnten, schossen ihre Gewehre ab und sandten zugleich an ihre Angreifer eine Botschaft, daß die Zelte von Soldaten besetzt seien, die die Regierung zum Schutze des Dorfes gesandt habe. Die Araber und Kurden, die aufgestachelt worden waren, das Dorf zu zerstören, wurden stutzig, ließen sich täuschen und zogen ab unter dem Eindruck, daß die Regierung aus irgend einem unbegreiflichen Grunde thatsächlich die Einwohner von Germusch zu schützen wünsche. Die Behörden von Urfa verlangten kurz darauf von den Armeniern zu Germusch die Auslieferung der Waffen, mit denen sie Muhammedaner, Araber und Kurden angegriffen hätten. Die Armenier aber kamen in corpore nach Urfa und erklärten der Regierung, daß, wenn sie wünschten, daß sie umgebracht würden, sie besser thäten, es auf einmal und auf dem Fleck in Urfa zu thun, da sie (die Armenier) vollständig ihrer Gnade ausgeliefert seien, daß sie aber niemals ihre Waffen ausliefern würden, die ihr einziger Schutz seien gegen die bewaffneten und feindlichen Kurden- und Araberstämme der Umgegend. Man ließ sie laufen und ihre Waffen behalten, für welches letztere Privilegium sie nicht unbeträchtliche Summen Geldes zahlen mußten.

Euer Excellenz haben mich weiter beauftragt, festzustellen, wie groß die Anzahl der Armenier in Urfa ist, die infolge der letzten Ereignisse den Islam angenommen haben. Die Zahl in Urfa beträgt 400 bis 500, einige von diesen wurden schon zwischen dem ersten und zweiten Massacre Muhammedaner, andere während des zweiten Massacres und der Rest seitdem. Sie entschlossen sich dazu unter Drohungen oder in der Ueberzeugung, daß weder Leben noch Eigentum sicher sei, weder vonseiten der Regierung noch vonseiten der mohammedanischen Nachbarn für irgend einen Armenier, der offen sein Christentum bekennt.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)