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versuchte, ihren Mann zu schützen und wurde mit ihm getötet; ihr kleines Kind teilte ihr Schicksal. Ein 80jähriger Mann wurde vom Pöbel getötet, und sein Schädel von einem ebenso alten Greis in Stücke geschlagen. Ein junger Mann wurde von der Menge festgehalten, ein Türke legte einen Revolver in die Hand seines 8 oder 10jährigen Sohnes und sagte: „Schieße, mein Sohn und lerne, wie man Giaurs tötet!“

Gewöhnlich wurde die Wahl zwischen Tod und Islam gestellt. Einer, ein Priester, bot lieber als Christum zu verleugnen, seine Brust den Gewehren dar. Er wurde getötet. Ein anderer sagte: „Ich werde nicht an den Islam glauben; aber ich will sterben für die Ehre Christi im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.“ Er wurde mit dem Bajonett erstochen.

Im ganzen wurden 200 Läden und 300 Häuser geplündert; 150 bis 200 getötet; 50 bis 60 verwundet. Eine Stunde vor Sonnenuntergang wurde ein zweites Trompeten-Signal gegeben; und der Pöbel begann sich zurückzuziehen. Einige, die sich vom Plündern nicht trennen wollten, fuhren fort, bis der Sonnenuntergang ihrer Arbeit ein Ende machte und den übrigbleibenden Armeniem Zeit ließ, sich von den Schrecken ihrer Lage zu erholen.

Während der Nacht wurden die Toten in Wagen fortgeschafft und auf den Dunghaufen vor der Stadt geworfen. Obgleich einige Verwundete baten, heimgebracht zu werden, wurden sie getötet und mit den übrigen hinausgekarrt. Leichname wurden aus den Fenstern heruntergeworfen oder an Stricken bei den Füßen aus den Häusern herausgezogen. Am nächsten Tage wurden 100 in einer Grube auf dem armenischen Kirchhof begraben. Alle bis auf drei waren so zerschnitten und verstümmelt, daß ein Wiedererkennen unmöglich war, wie der Doktor und Priester, die gegenwärtig waren, bezeugten. Der Begräbnisplatz der übrigen ist bis jetzt unbekannt.

Der Gesamt-Verlust an Hab und Gut wird auf 150 bis 200 000 türk. Pfund (ca. 3–4 Millionen Mark) berechnet. Zehn von den Erschlagenen waren Frauen, 20 oder 30 Kinder.

In dem bitter kalten Winter sind die Ueberlebenden barfuß, fast ohne Betten, in Häusern zusammengedrängt, die von allem entleert, auch der Thüren und Fenster ermangeln. 1500 Personen bedürfen dringend der Unterstützung ihrer christlichen Brüder.


Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/145&oldid=- (Version vom 31.7.2018)