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um ihn als heimlichen Apostaten zum Tode zu befördern. Lässigen oder Verdächtigen werden Posten gestellt, die bei Tag und Nacht ihr Seelenheil zu überwachen haben.

Die Haltung der Behörden war nicht weniger menschenfreundlich, als die des Pöbels. Was wollten sie auch anders thun, da nur die Wahl blieb zwischen Tod und Islam, zu letzterem so eindringlich als möglich zu raten, noch dazu, wenn ihre tiefe politische Einsicht in die gegenwärtige Weltlage ihnen die Gewißheit gab, daß die Christen keinerlei Schutz von einer auswärtigen Macht zu gewärtigen hatten? „Verlaßt euch nicht auf die Christen!“ sagten die türkischen Beamten zu Zileh den armenischen Notablen, die man auf die Regierung entboten hatte, um sie zum Uebertritt zu drängen. „Verlaßt euch nicht auf die Christen in Europa! Die Engländer sind geflohen mit ihrer Flotte, und die Russen haben den Islam angenommen“ (freilich eine irrtümliche Auffassung der russisch-türkischen Entente). Hat nicht der Gouverneur von Aintab nur seine Pflicht gethan, wenn er den Christen sagen ließ: Die einzige Sicherheit für Leben und Eigentum sei jetzt, Muhammedaner zu werden? Und wer will die Regierungsbehörden von Arabkir noch verantwortlich machen für das achtzehnstündige Massacre, in dem 4000 Christen ermordet, 3700 Häuser und 500 Läden ausgegeplündert wurden? Hatten sie doch zwei Tage zuvor die armenischen Notablen auf die Regierung entboten und ihnen gesagt: „Wenn ihr am Leben bleiben wollt, müßt ihr euch zum Islam bekehren!“ Die Notablen befragten ihre christlichen Mitbürger, und diese erklärten: „Wir wollen nicht unsern Glauben wechseln, mag die Regierung mit uns machen, was sie will.“ Wenn am nächsten Tag das Massacre ausbrach, wer war anders schuld als die Armenier mit ihrer rebellischen Hartnäckigkeit in ihrer Religion! Man mag einige Zweifel hegen ob ein gewisser oben zitierter Passus des Pariser Vertrages: „Niemand soll gezwungen werden, seinem Glauben zu entsagen“, Provinzial-Behörden in der Türkei bekannt ist, da auch die Centralregierung in Konstantinopel sich desselben nicht mehr zu erinnern scheint. Aber soviel ist gewiß, sowohl die Beamten in den Provinzen als auch die Paschas in der Hauptstadt wissen ganz genau, daß die Botschafter christlicher Großmächte gewisse überflüssige Bücher besitzen, in denen man die Paragraphen gewisser überflüssiger Verträge nachschlagen kann. Um nun der Regierung Sr. Majestät des Sultans jede etwaige Verlegenheit

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/42&oldid=- (Version vom 31.7.2018)