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gewünscht hätten, reinen Tisch mit den Christen zu machen und allen ihren Besitz an sich zu reißen, sondern weil die Inspiratoren der Massacres dachten, daß ein, zwei oder drei Tage Morden so viel sei, als sich Europa auf einmal würde gefallen lassen. Auch diese Rücksichtnahme auf die Nerven der Diplomatie liegt gänzlich außerhalb des Gesichtskreises von Provinzialbehörden und weist direkt auf den feinen politischen Instinkt des Palastes hin.

Eins steht über allem Zweifel fest, daß die gesamte türkische Bevölkerung, und das Militär und die Kurden dazu, sich bewußt waren, nicht nur auf Anordnung untergeordneter Behörden, die ihnen Straflosigkeit zugesichert hatten, sondern auf Befehl und im Namen des Sultans zu handeln. „Das Eigentum der Giaurs ist zu plündern, und ihre Köpfe gehören der Regierung.“ Dies war die Losung, die überall ausgegeben war, auf den persönlichen Willen des Sultans zurückgeführt wurde und die formelle Erlaubnis zu allen Greuelthaten bedeutete. Ueberall hat sich die muhammedanische Bevölkerung in diesem Sinne ausgesprochen, und ihr Urteil fand nirgends eine Zurückweisung seitens der Behörden. Es kommt noch dazu, daß nachweislich die Muhammedaner in ihren Moscheen von den Mollahs in gleichem Sinne instruiert wurden, wo ihnen mitgeteilt wurde, daß das Vorgehen der Regierung gegen die Christen auch die Sanktion des Scheikh ül Islam, des unfehlbaren geistlichen Hauptes der muhammedanischen Welt, besitze, und daß das Religions-(Scheri)Gesetz des Islam die Ausrottung der Christen gebiete, weil diese die Intervention fremder Mächte angerufen und den Versuch gemacht hätten, sich aus der ihnen durch dasselbe Gesetz vorgeschriebenen Lage der Unterwürfigkeit und Sklaverei zu befreien und eine nicht zu duldende Gleichberechtigung mit den Muhammedanern anzustreben. Wie die Bevölkerung, so beriefen sich auch das Militär und die Kurden überall für alle ihre Schandthaten ganz offen auf die Befehle der Regierung, und selbst die höchsten Beamten machten weder unter sich noch gegenüber anderen einen Hehl daraus, daß sie nach übereinstimmendem Plane handelten und Instruktionen des Palastes besäßen. Wie sich der Marschall Zeki Pascha in Erzingjan ausgesprochen, haben wir bereits berichtet. Der Kaimakam von Gurun telegraphierte an den Vali von Sivas: „Du kannst sicher sein, daß nicht ein

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/71&oldid=- (Version vom 31.7.2018)