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Walther Kabel: „Armer kleiner Kerl“! (Salonblatt, Jahrgang 12, No. 1)

„Armer kleiner Kerl“!
Skizze von Walther Kabel.

kf. Hauptmann Boris Mantow hatte bis spät in die Nacht hinein im Kriegsministerium an den neuen Mobilmachungsplänen gearbeitet, und erst der wütende Hunger trieb ihn aus seinem Bureau in eines der nahen Restaurants, wo er, die neben ihm liegende Mappe mit den wichtigen Papieren stets im Auge behaltend, hastig einen kleinen Imbiß zu sich nahm. Dann suchte er sich eine Autotaxe – in der Kriegszeit keine leichte Aufgabe in Sofia – und ratterte darin seiner in einer vornehmen, stillen Straße gelegenen Wohnung zu. Endlich hielt das Gefährt. Er bezahlte schnell, nahm seine Aktentasche unter den Arm und schritt die Stufen zu seiner Haustür empor. Schon hatte er den Schlüssel umgedreht, gerade die Hand auf den Drücker gelegt, als der wimmernde Laut einer Kinderstimme ihn erschreckt zur Seite blicken ließ. In der dunklen Ecke der großen zweiflügeligen Tür kauerte, in einen zerfetzten, triefenden Umhang gehüllt, ein vielleicht zehnjähriger Knabe, der jetzt bei des Hauptmanns leisem Anruf scheu den Kopf hob, sich aufzurichten versuchte, aber mit einem Wehlaut wieder zurücksank.

„Was tust du hier, Kleiner?“ fragte er mitleidig. „Geh’ nach Hause, du wirst dich erkälten. Da, nimm das!“ Und er hielt ihm eine Silbermünze unter die Augen. Aber der Junge rührte sich nicht, schenkte auch dem Geldstück keinerlei Beachtung. Nur das wimmernde Stöhnen wurde stärker, und der kleine Körper zitterte jetzt wie Espenlaub.

„So sprich doch, Kind! Ich meine es gut mit dir!“ ermunterte er nochmals den Kleinen.

„Herr, ich habe Hunger – solchen Hunger!“ erklang ein feines Stimmchen. „Ich kann nicht gehen, bin schon umgefallen, und alle meine Streichhölzer liegen dort — dort hinten im Schmutz. Ach, Herr, nicht zur Polizei, nicht zur Polizei!“ flehte er mit gerungenen Händen, wieder in Tränen ausbrechend. „Sie sperren mich ein! Ich soll nicht betteln … Und die Mutter schlägt mich doch, wenn ich ohne Geld nach Hause komme!“

Der Hauptmann begriff alles … Nun, dieser arme Junge sollte einmal fühlen, daß es wirklich noch barmherzige Menschen gab, sollte sich einmal ordentlich satt essen und im warmen, behaglichen. Zimmer schlafen!

Zehn Minuten später saß Wassili, wie er sich nannte, in trockene, ihm allerdings viel, viel zu große Wäsche und eine Reisedecke gehüllt, in einem Sessel vor dem Mitteltisch in des Hauptmanns Arbeitszimmer und schlang gierig die kalten Speisen hinunter, die ihm vorgesetzt wurden. Mantow hatte davon Abstand genommen, seinen alten Diener Cyrill, der in einem kleinen Gemache hinter der Küche schlief, zu wecken, und alles selbst aus dem Eisschrank hervorgesucht, auch dem Kinde beim Ausziehen der völlig durchnäßten Lumpen geholfen. Jetzt stand er dabei und freute sich, wie es dem Kleinen schmeckte. Auch „Rostan“, der große Windhund, hatte mit dem seltsamen Gaste nach anfänglichem Anknurren schnell Freundschaft geschlossen.

Vorsichtig begann der Hauptmann den Jungen auszuforschen. Nach allen möglichen Einzelheiten fragte er ihn. Und immer schauten ihn diese so merkwürdig altklugen, fast lauernden Kinderaugen erst eine Weile nachdenklich an, ehe er eine Antwort erhielt. „Arme verschüchterte Seele, armer kleiner Kerl!“ dachte der mitleidige, weichherzige Offizier immer wieder, dem es vollkommen entging, wie dieselben Augen aufmerksam jeden Gegenstand im Zimmer musterten und wie es öfters in höhnischem Triumph in ihnen aufblitzte.

Als Wassili gesättigt war, bereitete der Hauptmann ihm auf dem Diwan in der Ecke ein weiches Lager und führte auch „Rostan“ hinaus ins Schlafzimmer, damit der Hund den Kleinen nicht stören sollte. Dann setzte er sich an die Arbeit, um seine ebenso dringende wie schwierige Aufgabe zu beenden. Nur die halbverhüllte elektrische Stehlampe brannte auf dem Schreibtisch, so daß der Hintergrund des weiten Raumes in graue Dämmerung gehüllt war. Bald hörte der Hauptmann, wenn er in seiner Arbeit eine Pause machte, die tiefen, regelmäßigen Atemzüge des armen Jungen, dem die Erschöpfung sicherlich einen tiefen, traumlosen Schlaf brachte. So entschwanden die Stunden. Aber mit Hauptmann Mantows Arbeit wollte es nicht recht vorwärts gehen. Vergebens suchte er sich durch eine Zigarre und öfteren Genuß selbst überbrühten Tees frisch zu erhalten. Er hatte sich offenbar doch zu viel zugetraut, als er seinem Abteilungschef am Vormittag versprach, die Auszüge aus den Plänen bis zum nächsten Morgen fertigzustellen. Mit verzweifelter Anstrengung konzentrierte er nach solchen Abwegen sein Denken aufs neue auf seine Aufgabe. Öfters schon waren ihm die Augen vor Müdigkeit zugefallen. Gewaltsam riß er sie wieder auf. Er mußte ja fertig werden. Mußte …

Eine weitere halbe Stunde verging. Mantow war jetzt fest in seinem Schreibtischsessel eingeschlafen, den Kopf in die Hände gestützt, die auf der Tischplatte ruhten.

In die kleine Gestalt dort hinten auf dem Diwan kam plötzlich Leben. Vorsichtig richtete sich der Junge erst zu sitzender Stellung auf, glitt dann von seiner Lagerstatt herab und schlich lautlos zu seinen zerlumpten Kleidern, die, in einer Ecke zu einem Haufen geschichtet, unordentlich dalagen. In wenigen Sekunden hatte er sie übergestreift, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Das vorhin so leidensvoll aussehende Kindergesicht war jetzt vollkommen verändert. In diesen scharfen, spitzen Zügen, diesen fest aufeinander gekniffenen Lippen und in den forschenden, unruhigen Augen, die unermüdlich den Schläfer umspielten, wohnte die ganze frühreife Energie und Verderbtheit eines verkommenen Gassenjungen.

Langsam schob sich der Junge über den weichen Teppich näher an den Schreibtisch heran, immer näher, bis er dicht neben seinem schlafenden, ahnungslosen Wohltäter stand. Eine schmutzige Kinderhand griff dann behutsam nach den Zeichnungen, nach den mit Zahlen und Worten dicht bedeckten Zetteln und zusammengefalteten Bogen, nahm sie Stück für Stück an sich, legte sie zusammen und schob sie trotz des leichten Knitterns gleichmäßig sacht in die lederne Aktentasche. Nur an drei Blätter wagte sich, die diebische Hand nicht heran … Denn auf diesen ruhten Hauptmann Mantows Arme.

Wassili – der „arme, kleine Kerl“ – hatte sein Werk fast vollendet. Fast! Noch hieß es, sich mit der Beute auch glücklich und ungesehen aus dem Staube zu machen. Und das war wohl das Schwerste. Ruhig eilten seine Blicke über die Fenstervorhänge hin, prüfend und überlegend. Aber warum sollte er wohl die schöne goldene Uhr, die da neben dem dicken

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: „Armer kleiner Kerl“! (Salonblatt, Jahrgang 12, No. 1). „Salonblatt“ G.m.b.H., Dresden 1917, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armer_kleiner_Kerl!.pdf/1&oldid=- (Version vom 31.7.2018)