Seite:BKV Erste Ausgabe Band 38 297.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Isaak von Ninive: Ausgewählte Abhandlungen des Bischofs Isaak von Ninive (Bibliothek der Kirchenväter, Band 38)

Nicht in Jedem erregt eine im Geiste gesprochene, gewaltige Kraft in sich schließende Rede Staunen. Das Wort von der Vollkommenheit verlangt ein der Erde und ihren Sorgen abgestorbenes Herz.

Der Sinn eines Menschen, dessen Geist mit der Sorge für Vergängliches beschäftigt ist, wird auch durch Berichte über die Tugend nicht dazu angetrieben, daß er sie aufzusuchen und zu erwerben verlange.

Nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge muß die Lostrennung von dem Irdischen der Verbindung mit Gott vorhergehen; wenn auch zuweilen bei Einzelnen durch eine besondere Gnadenverleihung dieser jener vorhergeht, so daß gleichsam die (falsche) Liebe durch die (wahre) Liebe erdrückt wird, so verhält es sich doch umgekehrt in der Reihenfolge der gewöhnlichen Gnadenordnung, auf dem allgemeinen Heilswege.

Du aber halte die allgemeine Ordnung ein! Wenn dir die Gnade zuvorkommt, so ist das ihre Sache; wenn aber nicht, so schreite auf dem Wege, welchen Alle wandeln, stufenweise zur Ersteigung des geistlichen Thurmes!

Alles, was in der Beschaulichkeit geübt und wodurch das auf dieselbe bezügliche Gebot erfüllt wird, ist für fleischliche Augen durchaus unsichtbar; und Alles, was der Thätigkeit angehört, ist nothwendig etwas Zusammengesetztes.

Aber es gibt nur ein Gebot, wegen dessen wir zu Beidem, nämlich zur Beschaulichkeit und Thätigkeit verpflichtet sind, da es das Körperliche und Unkörperliche vollkommen mit einander verbindet.[1] Deßhalb faßt auch das erleuchtete


  1. Den folgenden Satz hat die griechische Übersetzung nach ihrer Gewohnheit wegen seiner Schwierigkeit ganz übergangen. Der Sinn scheint zu sein: Das thätige und das beschauliche Leben sind nur zwei verschiedene Erscheinungsformen derselben uns vom göttlichen Gesetz gebotenen Vollkommenheit. Eine ähnliche zwiefache Erfüllung des Gebotes bestand schon im mosaischen Gesetze, wo z. B. die Beobachtung der Reinigungsceremonien dem thätigen, die dadurch bewirkte Reue und Sündenvergebung aber dem beschaulichen Leben entsprach.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak von Ninive: Ausgewählte Abhandlungen des Bischofs Isaak von Ninive (Bibliothek der Kirchenväter, Band 38). Jos. Koese’lsche Buchhandlung, Kempten 1874, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BKV_Erste_Ausgabe_Band_38_297.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)