Ohr, dessen Anpassungsfähigkeit ja, wie die Geschichte an unzähligen Beispielen erweist, unbegrenzt ist – ob und wieweit das Ohr auch diesen seltsamen Klangerscheinungen gegenüber durch Gewöhnung zur Aufnahmewilligkeit zu erziehen wäre. Ich würde in dem Hinweis auf solche allmähliche Gewöhnung allein noch kein überzeugendes Argument für die Berechtigung von Schönbergs Tonsprache sehen, denn mit solcher Begründung wäre die sinnloseste Kakophonie zu rechtfertigen. Hier aber handelt es sich um die Frage nach dem Sinn und der geistigen Kraft solcher Musik, nach ihrer schöpferischen Notwendigkeit – und da gestehe ich, daß diese mir um so überzeugender erscheint, je genauer ich mich mit Schönberg beschäftige. Ich denke vor allem an zwei für die hier zu betrachtende Kunstart besonders charakteristische Werke: das Fis-Moll-Streichquartett mit Gesang und die Kammersinfonie für 15 Instrumente. Ich gestehe, daß ich, namentlich in der Kammersinfonie, den ersten großangelegten Versuch der Neuzeit erblicke, an den Beethoven der B-Dur-Fugen anzuknüpfen, nicht in äußerlicher Nachahmung, sondern in geistiger Weiterverfolgung des dort angebahnten Weges. Ich finde in diesem Werk eine Kraft und einen Fluß des melodischen Willens, ich finde in ihm vor allem eine Fähigkeit der Organisierung dieses melodischen Willens, frei aus sich heraus, unbehindert durch konventionelle Hemmungen irgendwelcher Art, daß ich sagen möchte: von allen schöpferischen Kräften der musikalischen Gegenwart scheint mir Schönberg die geistig stärkste, innerlich selbständigste, weitest blickende, ahnungsreichste zu sein. Das Fehlen der klangsinnlichen Ausdruckskraft, das ihn auch auf das abstrakteste Schaffensgebiet: die instrumentale Kammermusik verweist, ergibt sich aus der rein ideellen Richtung seines Musikempfindens. Und wenn dies ein Mangel sein sollte – ich behaupte das nicht, obschon ich nicht sagen will, daß es ein Vorzug sei – so wird dieser Mangel reich aufgewogen durch ein außerordentliches formorganisatorisches
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/033&oldid=- (Version vom 31.7.2018)