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Clemens Friedrich Meyer (Hrsg.): Belletristische Blätter aus Russland. Zweiter Jahrgang.

In der Nachbarschaft breiten sich mehrere Molokanen-Dörfer auf herrlichen Weideplätzen, einem fruchtbaren Ackerlande und in der Nähe von Wäldern aus. Die Molokanen sind großentheils wohlhabend.

Seit meiner Ankunft verschob ich von einem Tage zum anderen den Besuch des ssewanschen Klosters und des goktschinschen Sees; endlich, am 6. Juli, an dem Kloster-Festtage, ward mein lange gehegter Wunsch erfüllt. Das ssewansche Kloster ist so häufig beschrieben worden, daß ich nur schon Gesagtes wiederholen könnte, daher erzähle ich in der Kürze, was ich am Orte selbst hörte und sah. Es leben hier sechs Mönche, neun Diakonen und sieben Novizen, aus verschiedenen Ständen und verschiedenen Orten dieser Provinz und aus der Türkei stammend; mit Ausnahme des greisen Priors genießt keiner derselben Fleisch, und für jeden sind neben der Kirche selbst Zellen eingerichtet, die durch einen Corridor zusammenhängen. Die Kirche, welche auf den Namen der heiligen Mutter Gottes erbaut worden, hat zwei Eingänge, einen von außen her für herbeigereiste Beter, einen anderen vom Corridor aus für die Mönche. Der Winter ist hier so kalt, daß die Klosterbewohner die seewärts gerichtete Corridorthür verkalfalern müssen und während mehr als zwei Monaten das Licht des Himmels nicht erblicken. – Den goktschinschen See nennen die Armenier nach dem Zaren Kiham, welcher ungefähr achtzehnhundert Jahr vor Chr. geherrscht haben soll, und auch nach der Provinz, welche die westliche Küste des Sees bildet, Zow-Kigama. Die Perser nennen ihn Darja-Schiring, d. h. das stille Meer; die Türken Kuge-Tengiß, d. h. das blaue Wasser, und in der That hat die Oberfläche desselben die Farbe des Türkises, es ist sehr durchsichtig. Die gewöhnliche Benennung des Sees ist aber Goktscha oder Gektscha. Seit alter Zelt unterhalten die Mönche für die Reisenden eine Art von Fähre, d. h. es sind drei unbehauene Balken unter einander verbunden und rundherum Planken angeschlagen; auf solch einer urweltlichen Fähre steht das Wasser eine Viertel-Arschin hoch über den Dielen und schont nicht die Füße der Drüberfahrenden. Bei Sturm kann man sie durchaus nicht benutzen und ist man genöthigt, zu warten, bis wieder gutes Wetter eintritt; dennoch erinnern sich die Mönche irgend eines Unglücks nicht. Obschon dieselben mir versicherten, das Wasser im goktschinschen See wachse von Jahr zu Jahr, so hat es doch in dem gegenwärtigen um ein Viertel abgenommen. Der See ist reich an Lachsforellen, besonders im Herbst und im Frühling, die Fischer erbeuten mit einem Zuge wohl an vier Arb. Die Mönche erzählen manches von Interesse; unter anderen setzten sich Lesghinen, welche zur Zeit der persischen Herrschaft die klösterlichen Schätze rauben wollten, in einige Kasten mit Oeffnungen, um als Waare dem Kloster zugeschmuggelt zu werden, während der Ueberfahrt hörte aber ein Knabe einen Lesghinen aus dem Kasten fragen: «Sind wir bald am Lande?«

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Clemens Friedrich Meyer (Hrsg.): Belletristische Blätter aus Russland. Zweiter Jahrgang.. Eggers und Comp., St. Petersburg 1854, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Belletristische_Bl%C3%A4tter_aus_Russland.pdf/300&oldid=- (Version vom 31.7.2018)