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Am Chore kniend in der langen Reihe
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     Hab ich vom Bischof da das Öl empfangen

     Auf meine Sirne, Gott mir Kraft verleihe!
Den Backenstreich empfingen meine Wangen,
     Daß ich gedenke an den ernsten Tag,
     An dem zur Kirch ich neu bin eingegangen.

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Derb und empfindlich schien bei mir der Schlag;

     Er sah in mir wohl jenes irdsche Wanken,
     Das zu bestimmen noch ich kaum vermag.
Ich trat erschüttert aus den heilgen Schranken,
     Und meine Stirn umschlang ein blaues Band.

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     Jedoch in mir, da schwankten die Gedanken,

Denn mir zur Seite an dem Altar stand
     Ein kleines Mägdlein, das mich tief gerühret;
     Ich faßte heftig ihre kleine Hand
Und habe sie zwei Schritte wohl geführet.

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     Da sprach mein Führer: „Laß das Mägdlein stehn!

     Dergleichen Spiel allhier sich nicht gebühret.“
Sie schied von mir, ich mußte weitergehn;
     Verschlungen ward dies Kind mir von der Menge,
     Und nimmer hab ich wieder es gesehn.

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Von Sehnsucht wird noch jetzt die Brust mir enge;

     Ich suche jetzt wohl noch nach jenem Kinde,
     Und immer mehr tritt mirs aus dem Gedränge.
Traf mich des Priesters Hand dort nicht gelinde,
     So traf mich schärfer noch mit seinem Pfeil

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     Der kleine Cupido mit seiner Binde.

Des Priesters Schlag rührt mich nur kurze Weil,
     Und nie genas ich von der Liebe Wunden;
     Der Tod empfängt den Kranken noch nicht heil.
Du zartes Mägdlein, die mir dort verschwunden,

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     Siehst du auf Erden noch das süße Licht,

     Hast du gelebt und hast du Leid empfunden,
Begegnet dir dies dunkele Gedicht:

     Nimm hin den Gruß und Dank, du Namenlose,
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_008.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)