Seite:Brentano Romanzen vom Rosenkranz 170.jpg

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„Schöne Jungfrau! Ihr begegnet
Mir an sehr gefährlchem Orte,

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Jetzo ich zu streiten gehe

De bonorum possessione.

Und die Schätze aller Welten
Habe ich bei Euch verloren,
Nichts besitz ich auf der Erde,

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Da Ihr mich mir selbst genommen.


Was ich künftig nun erwerbe,
Habt Ihr schon von mir gewonnen.
Geht und betet, daß die Ehre
Mir nicht gehe heut verloren!“

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Rosarose sah beschämet

An den glatten Marmorboden:
„Ich erfleh Euch, Herr, die Ehre“,[1]
Sprach sie, „und halt Euch beim Worte:

Daß Ihr mir sodann die Ehre

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Teilet, die ich Euch erworben,

Und nie nehmet mir die Ehre,
Die um jene Gott ich opfre!“

Ach, zu spät verstand die Rede
Rosarosas Jacopone,

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Und es hat ihn sehr beschweret,

Was er damals ihr versprochen.

Und sie schieden; sie zum Tempel,
Er zu dem Juristenhofe;
Sie erfleht ihm Gottes Segen,

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Er den Doktorhut erobert.


Als er austritt hochgeehret
Unter der Schalmeien Chore,

Anmerkungen des Herausgebers

  1. [401] Hier spricht Rosarosa bereits aus, daß sie ihre Jungfräulichkeit opfern, d. h. reine Jungfrau bleiben wolle, um mit diesem Gelöbnis zu erkaufen, daß Jacopone bei seiner Dissertation Erfolg habe. Jacopone verstand Rosarosens Vorbehalt, „mit ihm die Ehre zu teilen“, aber die ihre zu wahren, nicht – [402]

    Und es hat ihn sehr beschweret,
    Was er damals ihr versprochen.

    Michels meint, der in der 12. Romanze wehende aszetische Zug sei erst später in die ganze Dichtung gekommen und daher diese Romanze erst nachträglich entstanden. Er steht eben unter dem alten Irrtum, daß zwischen den drei Rosen einerseits und den drei Jünglingen Jacopone, Meliore und Pietro anderseits ein neuer Inzest verhütet werden solle, während nach dem Plan des Dichters die Erlösung des versündeten Geschlechts durch die freiwillige Keuschheit der drei Rosen geschehen soll. So hat in Romanze 6 (Pietro) Rosablanka Pietros Werbung ausgeschlagen, weil sie sich „dem Himmel verlobet“ (Str. 63), Biondetta entsagt der Welt und dem Theater, um den Schleier zu nehmen. Der „aszetische Zug“ ist also nicht eine Eigentümlichkelt der 12. Romanze, sondern der Grundgedanke der ganzen Dichtung.

Empfohlene Zitierweise:
Clemens Brentano: Romanzen vom Rosenkranz. Hrsg. von Alphons Maria von Steinle. Trier: Petrus-Verlag G.m.b.H., 1912, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Brentano_Romanzen_vom_Rosenkranz_170.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)