Seite:DE Stirner Schriften 205.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Resignation die friedlichsten Tage verlebt. Neuerdings aber ist die Stimme der Natur und Freiheit zum zweiten Male laut geworden. Seit längerer Zeit trägt er ein Mädchen im Herzen, die an Glücksgütern arm, an Vorzügen des Geistes unendlich reich ist. Diese Liebe gab ihm den Muth, noch einmal vor seinen Vater zu treten und ihm den Entschluß anzukündigen, daß er Freia zum Weibe zu nehmen gedenke. Da riß dem Vater die Geduld, denn er hatte längst ein anderes Mädchen für den Sohn ausgesucht, und er fuhr diesen an: Bei meiner Ungnade befehle ich Dir, Deiner Grille Dich zu entschlagen! Ich werde für Deine Verheirathung sorgen, wenn es Zeit ist, und Du sollst eine Frau haben, die Deinem Vater gefällt, nicht jene ideale Schwärmerin, die mir verhaßt ist. Der Gescholtene schwieg, und Vater und Sohn leben seitdem im alten Frieden neben einander, als ob nichts vorgefallen wäre. Man merkt es dem Erstern jedoch an, daß er seit jenem Tage den Sohn zu begütigen strebt: er erweist ihm allerlei kleine Liebesdienste und herzt ihn oft so zärtlich, daß man an das beste Vernehmen glauben könnte. Allein „man merkt die Absicht und man ist verstimmt!“ Wie diese gegenseitige Heuchelei der Liebe enden wird, ich weiß es nicht. Wehe aber dem Sohne, wenn er ein Wicht ist und das aufgedrungene Mädchen heimführt. Wer von Beiden trägt dann die größere Schuld? Gewiß der Sohn, der es sich gefallen läßt, daß sein unveräußerliches Menschenrecht, die Freiheit der Selbstbestimmung, mit Füßen getreten wird. Der Vater handelt unschuldiger, denn – er kennt es nicht anders: ergraut in der Gewohnheit der „Pietät“, kennt er die „Freiheit“ nicht. Woher vorzugsweise in der neuern Zeit diese Doppelwilligkeit im Familienleben? „Woher?“ Aus jenem Geiste, der in Peter dem Großen Fleisch wurde! Er, der Gründer der Civilisation im Osten, der Selbstherrscher, gab – wie wunderbar! – zuerst das Gesetz, daß die Aeltern nicht mehr ohne die Einwilligung der Kinder über deren

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. , Berlin 1914, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_205.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)