Mir kehrt die Kraft, die kaum noch unterlag,
Und sieh, schon werfen Schatten jene Höhen.““
Entgegnet’ Er, „doch Andres wirst du finden,[2]
Als eben jetzt dein Geist sich denken mag.
So, daß zugleich dein Schatten flieht, sie kehrt,
Bevor wir uns empor zum Gipfel winden.
Allein, betrachtend, wie du dich bewegtest,
Gewiß, daß sie den nächsten Weg uns lehrt.“
So bliebst du stolzen, strengen Angesichts,
Indem du langsam ernst die Augen regtest!
Gleich einem Leu’n, der ruht, uns still betrachtend
Mit scharfem Strahle seines Augenlichts.
Befragt’ ihn: „Wo erklimmt man diese Wand?“
Doch Jener, nicht auf seine Fragen achtend,
Und: „Mantua“ – begann nun mein Begleiter;
Da hob der Schatten, erst in sich gewandt,
„Sordell bin ich, dein Landsmann!“ rief er aus,
Und, selbst umarmt, umarmt’ er meinen Leiter. –[4]
- ↑ 49. Durch die Erwähnung Beatricens wird Dante zu lebendigerem Eifer aufgeregt. Wir werden diesen Zug schön finden, mögen wir uns in Beatricen die irdische Geliebte oder die Führerin zum Höchsten denken.
- ↑ 53. Du wirst erkennen, daß das Ziel nicht so schnell, als du jetzt glaubst, zu erreichen ist.
- ↑ 61. Sordello, einer der besseren provenzalischen Dichter und ein geachteter Gelehrter, der hier noch durch Stolz das Bewußtsein seines Werthes zeigt. Man bemerke, daß dieser Stolz vor dem Thore des Fegefeuers sich äußert. Wahrscheinlich wird er sich verlieren, wenn er erst innerhalb desselben die Bürden getragen hat, unter welchen man erkennt, wie viel der Ruhm der Erde werth sei. (S. Ges. 10 und 11.)
- ↑ 75. Wir haben oben (Ges. 2 V. 81) gesehen, daß Dante, als er [232] den Casella umfassen wollte, dreimal mit den Armen zu der Brust kehrte. Weiter unten (Ges. 21 V. 131) werden wir finden, daß Virgil den Statius, der ihm die Knie umfangen will, darauf aufmerksam macht, daß sie beide Schatten und nicht zu fassen sind. Hier finden wir aber eine Umarmung zweier Schatten, ohne weitere Bemerkung, und müssen die Lösung des Widerspruchs den Lesern selbst überlassen.
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_231.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)