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Vom Bogen fliegt, war nun der Zug gekommen,
Und Beatrice stieg vom Wagen ab.

37
„Adam!“ so ward ein Murmeln rings vernommen,

Und einen Baum, von Laub und Blüten leer,[1]


  1. [38. Hier kommt das Gedicht von der unsichtbaren Kirche auf die sichtbare; von der, dem Dichter eben gewordenen, seligen Vollendung in jener, auf die Kämpfe in dieser; von der idealen Geisteswelt wieder in die reale Wirklichkeit; vom moralischen wieder auf seinen kirchenpolitischen Grundgedanken, wie schon zu Ges. 31 vorausbemerkt worden ist. – Zunächst erfolgt nämlich durch ein überleitendes Symbol: Anbindung des Wagens an einen Baum, die richtige Darlegung von der rechten, ursprünglichen Verbindung der Kirche auf Erden mit dem römischen Kaiserthum V. 38 bis 63. Daran schließt sich sodann V. 64–160 die Vision der Geschichte der Kirche, beziehungsweise ihres Abfalls von jener Urordnung.
    Der Wagen der Kirche steht an einem Baume stille. Dieser „Baum der Erkenntniß“, das Vorbild der Bäume in Ges. 22, 131; 24, 103, 115 ist 1) zunächst das Sinnbild jenes ersten, für die Menschen so verhängnißvoll gewordenen Prüfsteins des Gehorsams im Paradies. Er birgt aber in sich ebendaher offenbar 2) das Symbol eines anderen, nicht minder bedeutsamen gottverordneten Prüfungsbaumes, daran sich jetzt die Kirche versündigt, wie einst an jenem die Menschheit überhaupt: des römischen Kaiserthums, sofern dieses schon als heidnisches zum Christenthum bestimmt (der laublose Baum) war und später ein wirklich christliches werden sollte (der belaubte). Die hier zu Grunde liegende, specifisch Dante’sche Lehre, worauf sein ganzes politisches System ruht, kennen wir ja schon aus Hölle 2, 13–30 und werden sie noch genauer Paradies Ges. 6 finden, daß nämlich das röm. Reich von seinen frühesten Anfängen an (Aeneas) eine ausdrücklich auf die Förderung der christlichen Kirche und die Aufrichtung des römischen Stuhles berechnete, unmittelbar göttliche Stiftung sei. Als diese göttliche Stiftung, als Institut ist es unter dem „Baum der Erkenntniß“ zu verstehen. Und gleicherweise, wie Dante’s System, führen, was schon angedeutet, auch die angegebenen Einzelmerkmale ganz deutlich auf diese und keine andere Doppelbedeutung des Baumes –: Der „mächtig hohe Baum erscheint zuerst laublos ohne Christum“ V. 38 d. h. erst der Eintritt des Christenthums hat die Welt den Gehorsam der Wahrheit gelehrt – und das noch tief im Heidenthum versunkene röm. Reich belebt und seiner Bestimmung näher gebracht. Und Christus selbst hat in seinem vorbildlichen Erdenleben, „den Baum nicht geplündert“ V. 43. D. h. er hat im Allgemeinen die Frucht der Sünde nicht gekostet und hat speciell das Institut des Kaiserthums nicht angetastet (Marc. 12, 17). Er hat vielmehr die „Deichsel des Kirchenwagens“, das Papstthum, für immer „an den Baum des röm. Kaisterthums [383] gebunden, aus welchem es ja hervorgegangen ist,“ V. 49–51. „Dadurch sieht Dante auch den Baum selbst erst zu seiner vollsten Blütenpracht entfaltet, wie sie zwar hier, auf Erden, bis jetzt nie bemerkbar war (V. 62), aber sein sollte“ V. 52–63. D. h. durch die Anerkennung des Kaiserthums von Seiten des Papstthums erhielte dieses seine Stütze, jenes seine gottgewollte Entfaltung, der Dante’sche Normalstatus der kirchlich-staatlichen Wohlordnung, das christliche Weltreich wäre hergestellt V. 48 – und zwar eben auf Grund jenes freien Hand-In-Hand-Gehens der selbstständigen Kirche mit dem selbstständigen Staat (vgl. Anm. S. 6 u. 14 unten), welches zu besonderem Nachdruck in V. 59 nochmals symbolisirt wird durch die, zwischen Roth und Violett innestehende Farbe der Blüten, welche, nach Philalethes, die bischöfliche ist. Aber dieser Normalstand ist eben nicht erreicht auf der Welt! Dies zeigt dem Dichter die sofort folgende Vision nach beiden Seiten, sowol was das Uebergreifen der Kaisermacht (Adler), gegen die Kirche (in’s geistliche Gebiet) betrifft V. 112 ff. 124 ff., als das Uebergreifen der Papstmacht (Hure) gegen das Kaiserthum in’s weltliche Gebiet V. 136 ff. 148 ff. Denn so wenig das Reich Einfluß auf „geistliche“, innere Angelegenheiten der Kirche, so wenig soll die Kirche weltliche Macht oder Besitzthümer haben, weltlichen Einfluß erstreben. Und zwischen diesen beiden Hauptgesichten vom Adler und der Hure, auf welchen offenbar auch das Hauptgewicht liegen soll, werden dem Dichter auch noch die sonstigen, inneren und äußeren Feinde der Kirche gezeigt (Fuchs und Drache) V. 18 ff. 130 ff. – Dies in der Kürze und im Großen die Gedankenentwicklung der folgenden, ebenso wichtigen als schwierigen Stelle und unsre Deutung ihrer Hauptsymbole. Was insbesondere die Grundallegorie des „Baumes“ betrifft, so konnten wir auf andere Auffassungen, welche darunter blos den „Gehorsam“ oder die „Kirche“ selbst etc. verstehen, im Einzelnen hier nicht eingehen und überlassen dem Leser, die triftigen Gegengründe wider dieselben aus dem Einzelnen und dem Ganzen der Stelle und des Danteschen Systems selbst zu finden.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_382.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)