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Des Himmels sich des Herrn Gerechtigkeit –
Daß sie sich euch nicht unter’m Schleier weise.

31
Ihr wißt, zum Hören bin ich schon bereit,

Auch wißt ihr, welch ein Zweifel mich befangen,
Der unbefriedigt ist seit langer Zeit.““[1]


  1. [33. Wir wollen hier gleich zum Verständniß des Folgenden vorausschicken, welches der langgehegte Zweifel des Dichters war und wie er gelöst wird. Das Erstere erfahren wir V. 70 ff. Das Andere geschieht V. 40–114 dieses und abschließend V. 67–138 des folgenden Gesanges. – Es handelt sich um die Frage von der Seligkeit oder Verdammung der frommen Nichtchristen. Unter ersterer ist dabei nicht etwa die Anwartschaft auf Erlösung in der Vorhölle verstanden, woraus ja Christi Höllenfahrt nach Hölle 4, 52 ff., Fegf. 1, 90 viele Juden und Heiden ausgeführt, sondern die Fähigkeit, gleich nach dem Tod zum Leben einzugehen und weiterhin die endliche Begnadigung am jüngsten Gericht. Daß nun die strenge kirchliche Observanz eine solche Möglichkeit verneinte, ist bekannt. Klar ist auch, daß einem erleuchteten Geist wie Dante, von so mächtigem Gerechtigkeitssinn, Zweifel über diese kirchliche Lehre kommen mußten. Man erinnere sich, welche Stellung er den Virgil einnehmen läßt, erinnere sich an die Seligsprechung des Aeneas, Hölle 2, 13 (diese allerdings aus politischen Gründen, wie wir wissen!) und an die beiden Stellen Hölle 4, 43–65, Fegf. 3, 40–45, in denen Klage und Widerspruch gegenüber einer so harten Doctrin leise durchklingen. All’ diese Zweifel und Einwürfe nun 1) wiederholt er hier in den herrlichen Worten V. 70–78, aber nicht, ohne in V. 40–69 die Verwahrung, „daß menschlicher Verstand überhaupt zu schwach sei, die Rathschlüsse der göttl. Gerechtigkeit zu durchschauen“, voranzuschicken, worauf dann in V. 79–90 und 103–108 alle jene Bedenken eigentlich niedergeschmettert werden. Dies geschieht durch Hinweisung auf die Autorität der hl. Schrift V. 83, bezhw. der Kirchenlehre 103–105, und durch den, im Wesen Gottes begründeten Satz, daß die göttl. Gerechtigkeit und Güte sich niemals ausschließen können, V. 86–90. Soweit in diesem Gesange. – 2) Den ringenden Geist befriedigte aber offenbar diese Beschwichtigung nicht. Im folgenden Gesang läßt er jene mildere Doctrin durchblicken, welche schon Justin in seiner Apologetik (I. 46) vorträgt, welcher auch die Scholastik, besonders Hugo v. St. Victor, nicht fremd war. Indem er schon in den Versen 106–114 des neunzehnten Gesanges den wahren, gegenüber dem Mundglauben, betont und die Möglichkeit einer Bevorzugung edler Heiden vor falschen Christen, ganz nach Matth. 25 und Röm. 2, 27 durchblicken läßt, versetzt er in Ges. 20, 67 ff. einen obscuren, aber von Virgil sittlich hochgerühmten, Trojaner Ripheus unter die Seligen des Jupiter, wo schon Trajan ist. Der eine also ein Beispiel [513] eines, in’s ewige Leben von der Erde eingegangenen Heiden der vorchristlichen, der andere eines solchen der nachchristlichen Zeit! Unter Hinweisung endlich auf den Grundsatz des Herrn Matth. 11, 12, wornach sich dem ernstlichen Ringen das Himmelreich nicht verschließe (Ges. 20, V. 94–99) und auf die bekannte Unterscheidung eines Glaubens an den gekommenen oder den erst zukünftigen Christus, einer Wassertaufe und eines stellvertretenden Baptismus durch die drei geistlichen Tugenden V. 100–126 – legt er seine eigentliche Meinung in die Schlußermahnung hinein, daß wir doch die „Gnadenwahl“ Gottes, im reinsten und weitesten Sinne des Wortes, nicht durch unsre Meinung zu ergründen oder gar zu beschränken uns unterfangen sollen, V. 130–138. – In praktisch-reformatorischen Dingen kühn, bestimmt und rücksichtslos, zeigt sich der Dichter in allen, mehr dogmatischen Punkten beflissen, seine etwaige Heterodoxie mehr ahnen zu lassen, als klar auszusprechen – nicht aus Feigheit, sondern aus Gewissenhaftigkeit – wie denn auch diese, eben entwickelten Stellen eigentlich einen Protest gegen die Kirchenlehre, nebenbei eine wiederholtes Veto gegen rigorose Prädestinationstheorieen (Ges. 17, 40 ff.) enthalten.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_512.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)