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Viertes Capitel.
Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere (Fortsetzung).
Das moralische Gefühl. – Fundamentalsatz. – Die Eigenschaften socialer Thiere. – Ursprung der Fähigkeit zum Geselligleben. – Kampf zwischen entgegengesetzten Instincten. – Der Mensch ein sociales Thier. – Die ausdauernderen socialen Instincte überwinden andere weniger beständige Instincte. – Sociale Tugenden von Wilden allein geachtet. – Tugenden, die das Individuum betreffen, erst auf späterer Entwickelungsstufe erlangt. – Bedeutung des Urtheils über das Benehmen von Mitgliedern derselben Gesellschaft. – Ueberlieferung moralischer Neigungen. – Zusammenfassung.

Ich unterschreibe vollständig die Meinung derjenigen Schriftsteller[1], welche behaupten, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den niederen Thieren das moralische Gefühl oder das Gewissen weitaus der bedeutungsvollste ist. Dieses Gefühl, wie Mackintosh[2] bemerkt, „beherrscht rechtmässiger Weise jedes andere Princip menschlicher Thätigkeit“. Diese Gewalt wird in jenem kurzen, aber gebieterischen und so äusserst bezeichnenden Worte „soll“ zusammengefasst. Es ist das edelste aller Attribute des Menschen, welches ihn, ohne dass er sich einen Augenblick zu besinnen braucht, dazu führt, sein Leben für das eines Mitgeschöpfes zu wagen, oder ihn nach sorgfältiger Ueberlegung einfach durch das tiefe Gefühl des Rechts oder der Pflicht dazu treibt, sein Leben irgend einer grossen Sache zu opfern. Immanuel Kant ruft aus: „Pflicht, wunderbarer Gedanke, der du weder durch sanfte Ueberredung, Schmeichelei, noch durch irgendwelche Drohung, sondern nur dadurch wirkst, dass du dein nacktes Gesetz der Seele vorhältst und dir damit stets Ehrerbietung, wenn auch nicht immer


  1. s. z.B. über diesen Gegenstand: Quatrefages, Unité de l’espèce humaine, 1861, p. 21 etc.
  2. Dissertation on Ethical philosophy 1837, p. 231 etc.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)