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Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/155

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Obgleich der Mensch, wie eben bemerkt, keine speciellen Instincte hat, welche ihm sagen, wie er seinem Mitmenschen helfen soll, so fühlt er doch den Antrieb dazu, und bei seinen vervollkommneten intellectuellen Fähigkeiten wird er in dieser Hinsicht natürlich durch Nachdenken und Erfahrung geleitet werden. Auch wird ihn instinctive Sympathie veranlassen, die Billigung seiner Mitmenschen hoch anzuschlagen, denn die Empfänglichkeit für Lob und das starke Gefühl für Ruhm einer-, andererseits der noch stärkere Widerwille gegen Spott und Verachtung sind, wie Mr. Bain klar gezeigt hat,[1] Folgen der Sympathie. In Folge hiervon wird der Mensch durch die Wünsche, den Beifall und Tadel seiner Mitmenschen, wie diese durch deren Gesten und Sprache ausgedrückt werden, bedeutend beeinflusst. So geben die socialen Instincte, welche der Mensch in einem sehr rohen Zustand erlangt haben muss, und die vielleicht selbst von seinen früheren affenähnlichen Urerzeugern erlangt worden sind, noch immer den Anstoss zu vielen seiner besten Handlungen; seine Handlungen werden aber in einem höheren Grade durch die ausdrücklichen Wünsche und das Urtheil seiner Mitmenschen und unglücklicherweise sehr oft durch seine eigenen starken selbstischen Begierden bestimmt. In dem Maasse aber, als die Gefühle der Liebe und Sympathie und die Kraft der Selbstbeherrschung durch die Gewohnheit verstärkt werden und als das Vermögen des Nachdenkens klarer wird, so dass der Mensch die Gerechtigkeit der Urtheile seiner Mitmenschen würdigen kann, wird er sich unabhängig von irgend einem Gefühl der Freude oder des Schmerzes, das er in dem Augenblick fühlen könnte, zu einer gewissen Richtung seines Benehmens getrieben fühlen. Dann — und kein Barbar oder uncultivirter Mensch könnte so denken, — kann er sagen: ich bin der oberste Richter meines eigenen Betragens; oder mit den Worten Kant’s: „ich will in meiner eigenen Person nicht die Würde der Menschheit verletzen“.

Die beständigeren socialen Instincte überwinden die weniger beständigen. — Wir haben indessen bis jetzt den wichtigsten Punkt, um welchen sich die ganze Frage des moralischen Gefühls dreht, noch nicht betrachtet: wie kommt es, dass ein Mensch fühlt, dass er der einen instinctiven Begierde eher gehorchen soll als der andern? Warum bereut er es bitterlich, wenn er dem starken Gefühl der Selbsterhaltung


  1. Mental and moral Science. 1868, p. 254.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)