Der Mensch kann es nicht vermeiden, dass alte Eindrücke beständig wieder durch seine Seele ziehen; hierdurch wird er gezwungen, die Eindrücke, z. B. vergangenen Hungers oder befriedigter Rache oder auf Kosten anderer Menschen vermiedener Gefahr, mit dem fast stets gegenwärtigen Instincte der Sympathie und mit seiner früheren Kenntniss von dem, was Andere für preiswürdig oder für tadelnswerth halten, zu vergleichen. Diese Kenntniss kann er nicht aus seiner Seele verbannen und sie wird in Folge der instinctiven Sympathie als von grosser Bedeutung angesehen. Er wird dann das Gefühl haben, dass er schwach gewesen sei, als er einem auftauchenden Instincte oder einer Gewohnheit nachgegeben habe, und dies verursacht bei allen Thieren das Gefühl des Unbefriedigtseins oder selbst des Elends.
Der vorhin mitgetheilte Fall der Schwalbe bietet eine Erläuterung, wenn auch in umgekehrter Weise, eines nur zeitweise, aber doch für diese Zeit stark vorherrschenden Instincts dar, welcher einen andern, welcher gewöhnlich alle übrigen beherrscht, überwindet. Zu der betreffenden Zeit des Jahres scheinen diese Vögel den ganzen Tag lang nur die eine Begierde zu kennen, zu wandern. Ihre Gewohnheiten ändern sich, sie werden rastlos, lärmend und versammeln sich in Haufen. So lange der mütterliche Vogel seine Nestlinge ernährt oder über ihnen sitzt, ist der mütterliche Instinct wahrscheinlich stärker als der Wanderinstinct; aber derjenige, welcher der andauernde ist, erhält den Sieg, und zuletzt fliegt der Vogel in einem Augenblick, wo seine Jungen nicht in Sicht sind, auf und davon und verlässt sie. Ist er am Ende seiner langen Reise und hat der Wanderinstinct zu wirken aufgehört, welch’ schmerzliche Gewissensbisse würde der Vogel fühlen, wenn er, mit grosser geistiger Lebendigkeit ausgerüstet, sich dem nicht entziehen könnte, dass das Bild seiner Jungen, welche in dem rauhen Norden vor Kälte und Hunger umkommen mussten, beständig durch seine Seele zöge.
In dem Momente der Handlung wird der Mensch ohne Zweifel geneigt sein, dem stärkeren Antriebe zu folgen, und obschon ihn dies gelegentlich zu den edelsten Thaten führen kann, so wird es doch bei Weitem häufiger ihn dazu bringen, seine eigenen Begierden auf Kosten anderer Menschen zu befriedigen. Nach deren Befriedigung aber, wenn die vergangenen und schwächeren Eindrücke mit den immer vorhandenen
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/160&oldid=- (Version vom 31.7.2018)